estermann40_sw.jpg

Interview eines ASP-Mitglieds

Was waren Ihre Beweggründe, den Beruf einer Psychotherapeutin zu wählen?

Es war jahrelang mein Traumberuf, als Psychotherapeutin tätig zu sein. Mit 20 oder 30 Jahren meinte ich aber, ich sollte zuerst die nötige Lebenserfahrung sammeln. Ich fand mich selbst noch zu jung, zu unerfahren, ich dachte, noch zu wenig vom Leben zu wissen. Folglich habe ich zuerst geheiratet, drei Kinder gross gezogen, einen 8-jährigen Entwicklungseinsatz in Cusco (Peru) und nachher einen 9-jährigen Zweiteinsatz in La Paz (Bolivien) gemacht. Seit Anfang 2013 bin ich wieder zurück in der Schweiz und arbeite als Psychotherapeutin in Luzern.

Ich habe die Psychotherapie zufällig kennengelernt, vielleicht ist sie mir auch «zugefallen». Eines Tages machte ein guter Freund meinem Mann und mir, ich war damals etwa 25, den Vorschlag, zusammen mit ihm an einer Bioenergetik-Gruppe teilzunehmen. Wir sahen es damals als ein seelisches Abenteuer und haben zugesagt. Von Anfang an war ich begeistert. Ich habe mich zwei Jahre intensiv in der Gruppe reingegeben und nachher noch mehrere Einzelstunden gemacht. So erfuhr ich an Leib und Seele, welche Einsichten und positive Änderungen eine Psychotherapie bewirken kann. Ich hatte grossen Respekt für meine Therapeutin.

Als Jugendliche war ich an einem Psychologie-Studium interessiert, entschied mich allerdings nach einem Gespräch mit einem Psychologen dagegen. Meine Frage an ihn, ob man (frau) mit diesem Studium auch «Menschenkenntnis» bekommt, hatte er verneint. Ich wollte die Menschen im tiefsten Sinne des Wortes «verstehen» und ihnen «nachfühlen». Heute bereue ich es manchmal, dass ich damals nicht Psychologie, sondern Germanistik und Philosophie studiert habe. Während ich aber früher den Menschen helfen und sie heilen wollte, möchte ich sie jetzt vor allem begleiten und ermutigen, zu sich selber zu stehen.

Was ist Ihr beruflicher Hintergrund/Werdegang?

Ich bin in den Niederlanden geboren und aufgewachsen, habe dieses Land aber mit der Zeit weit hinter mir gelassen, obwohl ich daheim noch immer Holländisch spreche. Wie bereits gesagt, habe ich Germanistik studiert. Ich bin ausgebildete Gymnasiallehrerin, habe aber diesen Beruf nur gelegentlich ausgeübt. In den Niederlanden habe ich meinen Mann – einen Schweizer – kennengelernt, und nach einigen Jahren sind wir zusammen in die Schweiz gezogen. Hier habe ich dann die Akademie für Erwachsenenbildung besucht und abgeschlossen.

Mit einer sechs Monate alten Tochter sind mein Mann und ich nach Peru ausgereist, wo wir in einem Armenviertel von Cusco gewohnt und gearbeitet haben. Meine beiden Söhne sind in Peru auf die Welt gekommen. Spanisch ist die erste Sprache meiner Kinder, ich spreche es fliessend. Am Anfang habe ich den Mütterklub betreut und eine Jugendgruppe begleitet. Dann habe ich die Lehrerweiterbildung initiiert, und im Laufe der Zeit wurde ich in das Leitungsgremium einer handwerklich ausgerichteten Schule (Kindergarten, Primar- und Mittelschule) mit 2.000 Schülern aufgenommen. Zwischendurch habe ich immer wieder an Workshops in Psychologie teilgenommen und verschiedene Kurse in Psychoanalyse absolviert.

Nach 8 intensiven Jahren in Peru sind wir wieder in die Niederlande gezogen. Unser Projekt konnte der lokalen Bevölkerung übergeben werden, wir wollten unseren drei Kindern eine gute Schulbildung ermöglichen, und meinem Mann wurde ein interessanter Job angeboten. Erst dann habe ich mich nach einer Psychotherapie-Ausbildung umgeschaut und mich für das Institut für Integrative Gestalttherapie in Würzburg (IGW) entschieden. Dies bedeutete zwar jeden Monat einen weiten Weg, aber ich habe diese Entscheidung nie bereut. Ich bin also quereingestiegen. Alle Fünf hatten wir in jener Zeit allerdings in Holland Heimweh, bzw. Fernweh, nach Lateinamerika.

Als Familie beschlossen wir, nochmals mit der Bethlehem Mission Immensee (Schweiz) auszureisen, diesmal nach Bolivien. In La Paz habe ich als Psychotherapeutin in eigener Praxis gearbeitet; mit Menschen aus den Armenvierteln, Angestellten der Botschaft und vor allem mit StudentInnen. Ich gab Kurse, unterrichtete an der Universität und baute – nach den offiziellen Kriterien des EAGT – eine Fortbildung für PsychologInnen in Gestalttherapie auf. Schliesslich bekamen die StudentInnen dieser Fortbildung dank der Unterstützung des IGW aus Deutschland das Zertifikat, das sie als PsychotherapeutIn ausweist. Da ich vor allem mit traumatisierten Menschen zu tun hatte - traumatische Erfahrungen gehören in Bolivien überhaupt zum Alltag -, schrieb ich mit viel Disziplin an meiner Doktorarbeit. Eine leserfreundliche Version ist 2014 im EHP-Verlag erschienen: «Trauma und Interkulturelle Gestalttherapie – Traumatischen Erfahrungen mit eigenen Ressourcen begegnen».

Nach 9 Jahren war auch dieses Projekt reif zur Übergabe, ich war erschöpft, hatte (zu) viel gehört und gesehen. Die beiden ältesten Kinder waren bereits in die Schweiz zurückgekehrt, um dort zu studieren. Seit 2013 lebe ich wieder mit meinem Mann und 3 erwachsenen Kindern im selben Land, wo wir uns regelmässig sehen. Am Anfang hat der soziokulturelle Kontext in der Schweiz, so anders als in Bolivien, mich immer wieder staunen lassen, manchmal habe ich schmunzeln müssen oder mich aufgeregt. Inzwischen fühle ich mich in Luzern daheim, und wenn ich ab und zu nach La Paz reise, so fühle ich mich auch dort wie ein Fisch im Wasser.

Arbeiten Sie als selbständige Psychotherapeutin in freier Praxis und/oder sind Sie zusätzlich noch als delegierte Psychotherapeutin tätig?

Die ersten beiden Jahre in der Schweiz war ich als delegierte Psychotherapeutin tätig. Ich war froh darum, denn ich hatte aufgrund meines Lebensweges nie ein grosses soziales Netzwerk aufbauen können. Zudem bekam ich in diesen zwei Jahren die Gelegenheit, anzukommen, und das gesellschaftliche System der Schweiz in Sachen Gesundheit und Arbeit, z.B. Krankenkassen, IV, RAV usw., besser kennenzulernen. Die Zusammenarbeit mit dem Psychiater gestaltete sich aber leider ausserordentlich schwierig.

Folglich habe ich eine Gemeinschaftspraxis in Luzern gesucht und mich vor einem halben Jahr selbständig gemacht. Ich bin es gewohnt, etwas aufzubauen, Initiativen zu entwickeln und Kontakte zu knüpfen. Ich sehe es als eine Herausforderung, mich auf die hiesigen Ansprüche, Umgangsformen und detaillierten Planungsvorgehen einzulassen. Meine Praxis läuft recht gut, die meisten «alten» KlientInnen sind mit mir mitgekommen, und es melden sich immer wieder neue. Ich habe relativ viele Menschen aus Spanien oder Lateinamerika, sodass ich oft auf Spanisch arbeite, was mir Spass macht.

Gibt es noch einen weiteren Beruf, eine weitere Beschäftigung, den/die Sie zusätzlich zur Psychotherapie ausüben?

Momentan arbeite ich fast ausschliesslich als Psychotherapeutin mit Einzelpersonen oder Paaren. Daneben versuche ich eine Therapiegruppe mit MigrantInnen und eine mit Menschen aufzuziehen, die nur eine Grundversicherung haben und sich keine individuelle Therapie leisten können. Da habe ich klein angefangen, es kommt mühsam voran, aber ich weiss, diese mehr oder weniger frustrierende Anlaufphase gehört dazu. Am Anfang in der Schweiz habe ich mich darum bemüht, einen Workshop oder Kurs geben zu können, da ich gern unterrichte Inzwischen werde ich immer öfters angefragt, was mir das Gefühl gibt, dass ich auf gutem Weg bin.

Was ist Ihre Spezialisierung?

Ich bin mit Herz und Seele gestalttherapeutische Psychotherapeutin. Der Gestalt-Ansatz mit seiner Haltung und seinen Grundsätzen entspricht mir. Ich könnte lange und ausführlich darüber reden, aber dies wäre wohl nicht der Sinn und Zweck dieses Interviews. Meine Schwerpunkte aufgrund meines fast 20-jährigen Aufenthaltes in Lateinamerika einerseits und meiner Forschungs- bzw. Doktorarbeit andererseits sind «Trauma» und «Interkulturalität». Dabei gehe ich im Allgemeinen ressourcenorientiert vor. Viele KlientInnen von mir sind MigrantInnen, die oft Spanisch sprechen.

Fühlen Sie sich mit Ihrer beruflichen Situation zufrieden?

Im Grossen und Ganzen bin ich mit meiner beruflichen Situation zufrieden, auch dankbar. Ich habe gelernt, nie etwas als selbstverständlich hinzunehmen. Manchmal kommt sie mir leicht vor, manchmal schwer. Jede einzelne Lebensgeschichte finde ich interessant und spannend. Die Tätigkeit als Psychotherapeutin erfüllt mich, ich erfahre sie als sinnvoll, dennoch kann ich sie nicht tierisch ernst nehmen; so muss ich immer wieder zwischendurch schmunzeln oder mache einen Witz.

Gibt es etwas, das Sie sich anders wünschen?

Trotz meiner grundlegenden Zufriedenheit suche ich neben meiner psychotherapeutischen Tätigkeit eine kleine feste Anstellung im pädagogischen Bereich, sei es im universitären Bereich oder in der Berufsausbildung zum/r PsychotherapeutIn. Bis jetzt hat sich allerdings noch nichts Konkretes ergeben. Die Einseitigkeit der individuellen therapeutischen Arbeit würde ich aber gern durchbrechen. Ab und zu kommt mir eine Idee und die Lust, einen Artikel für eine Fachzeitschrift zu schreiben, aber die Zeit fehlt mir schlichtweg. Schliesslich würde ich sehr gern mit Flüchtlingen arbeiten, suche nach Möglichkeiten, finde aber – noch – keinen Eingang.

Gibt es etwas, das Sie sich von Ihrem Verband ASP wünschen?

Wenn ich mir etwas wünschen könnte, so wäre ich froh um eine bessere Vermarktung der Therapieplatzvermittlung über das Internet. Ich weiss nicht, wie gut diese bekannt ist, wusste selber bis vor kurzem nichts davon.

Fühlen Sie sich in Ihrem Berufsverband ASP vertreten und gewürdigt?

Ja, vor allem, indem ich informiert werde, z.B. über die Schritte, die im politischen Bereich unternommen werden oder was bei einer Generalversammlung besprochen wurde. Die Arbeit der Charta schätze ich ganz besonders.

Was wäre Ihr Fokus, wenn Sie im Vorstand der ASP wären?

Erstens würde mich für eine vollwertige Anerkennung der PsychotherapeutInnen - neben den PsychiaterInnen – durch die Krankenkassen einsetzen. Zweitens erscheint mir die Realisierung einer Psychotherapie-Ausbildung als selbständige Fachrichtung an der Universität, d.h. ohne Psychologie im Grundstudium, dringend angesagt.

Gibt es ein Amt in der ASP, das Sie gerne bekleiden würden?

Nein, und zwar vorwiegend aus dem Grund, dass fast alle Sitzungen und Versammlungen der ASP in Zürich stattfinden. Angesichts der Tatsache, dass ich in Luzern lebe, wären mir die ständigen Zugfahrten sowohl zeit- als auch energiemässig ein zu grosser Aufwand.

Wie sähe Ihre Wunschsituation im gegebenen politischen Umfeld für PsychotherapeutInnen aus?

Auf politischer Ebene wäre es mir wichtig, dass die Grundversicherung hier in der Schweiz nicht nur die Kosten der Arbeit von PsychiaterInnen, sondern auch von PsychotherapeutInnen übernehmen würde. Diese unterschiedlichen Berufsgattungen haben doch beide ihre Existenzberechtigung, meines Erachtens ergänzen sie einander. Sie sind keineswegs gleich, aber dennoch gleichwertig. Ich denke, ein solcher Durchbruch würde auch unseren KlientInnen oder PatientInnen – unsere «Raison d’être» – zugutekommen.

Zudem sollte es an der Universität endlich ein eigenes, vom Bund anerkanntes Studium in Psychotherapie geben, womöglich nach dem Vorbild Österreichs. Für mich sind «Psychologie» und «Psychotherapie» zwei grundlegend verschiedene Studienrichtungen, die unterschiedliche Ziele verfolgen. Sie vermitteln den StudentInnen nicht nur ein verschiedenes Grundwissen und Know-how, sondern bilden sie auch zu anderen Aufgaben aus.

Was ist Ihre Vision in Ihrem beruflichen Alltag?

Diese Frage hängt stark mit meinem Menschbild zusammen. Ich gehe davon aus, dass in jedem Menschen ein gesunder Kern steckt, der entwickelt und ausgedrückt werden will. Im beruflichen Alltag versuche ich immer wieder, meine KlientInnen zu diesem Kern zu bringen. M. a. W.: dass sie diesen Kern sehen, akzeptieren und den Mut haben, nach diesem zu leben; im Sinne von «werde, der/die du bist». Mir ist es wichtig, die gesunden Anteile immer wieder hervorzuheben, statt sich auf das Krankhafte zu fixieren.

Ein weiterer Punkt stellt für mich der Respekt vor der Einzigartigkeit jedes Menschen dar. Oft wird leichthin vereinnahmt; man meint zwar zu wissen, wie sein Gegenüber tickt, aber irrt sich dennoch und merkt dies lange Zeit nicht einmal. Meine Erfahrung in Lateinamerika hat mich gelehrt, dass Menschen «unvorstellbar» anders sein können. Das sehe ich immer wieder als eine Herausforderung. Zudem flösst ein Mensch mir aufrichtigen Respekt ein, wenn ich sehe, wie einerseits schwach und verletzlich, wie andererseits unglaublich stark seine Psyche sein kann.

Zum Schluss dieses Interviews danke ich Euch für Euer Interesse.

Colette Jansen Estermann

Luzern

Mitglied in der ASP seit 2013

Psychotherapeutin in eigener Praxis

www.jansenpsy.ch