Gerüchte über sexuelle Übergriffe in Psychotherapien

Peter Schwob

Die Zuwendung und das ruhige, geduldige gemeinsame Arbeiten an Gedanken, Gefühlen, Erfahrungen, Impulsen und Bedürfnissen in einer Psychotherapie können Unterschiedliches auslösen. Viele Patientinnen und Patienten finden darin Anstösse, um besser mit Schwierigkeiten und Leiden umzugehen und sich als Person zu entfalten. Es kann aber auch anders kommen: Manche ertragen diese Art von Nähe nicht und brechen die Therapie ab. Andere wiederum können eine Flut von Sehnsüchten erleben, etwa sexuelle Wünsche an den Therapeuten, und sie versuchen, ihn zu einer privaten Beziehung zu bewegen. Wenn dieses Erleben in der Therapie besprochen wird, kann es reflektiert und für die Entwicklung nützlich gemacht werden. Der Therapeut trägt dabei die volle Verantwortung für den psychotherapeutischen Rahmen und dafür, dass die Patientinnen in der Therapiestunde Sicherheit erleben. Sexuelle Handlungen haben in einer Psychotherapie keinen Platz; sie zerstören den vertrauensvollen Freiraum, den der Therapieprozess braucht. Dies hat auch das Bundesgericht anerkannt.

Aber es kommt vor, dass ein Psychotherapeut mit dieser Situation unprofessionell umgeht und den sexuellen Wünschen entgegenkommt.1 Unprofessionell handelt ein Therapeut auch dann, wenn er von sich aus Nähe, Bewunderung oder Erregung sucht oder die vertrauensvolle Zuwendung, die er dank dem Therapievertrag bekommt, mit Liebe verwechselt.

Was tun? Wichtig ist, dass die Patientin dann die Therapie abbricht und ausserhalb Hilfe sucht. Das kann ihr schwerfallen, vor allem dann, wenn sie sich in den Therapeuten verliebt hat, ihn als wichtige Person für sich ansieht oder ihn einfach schonen möchte. Doch der Abbruch ist unabdingbar, weil die Therapie gar keine mehr ist, sondern eine Wunscherfüllungsillusion. In diesem Zusammenhang ist es nützlich zu wissen, dass die Opferhilfe die Kosten einer Folgetherapie übernimmt (dies auch dann, wenn der in einer früheren Therapie erfolgte sexuelle Übergriff nicht schon zu Beginn, sondern erst im Laufe der jetzigen Therapie zur Sprache kommt).

Wenn die Patientin darüber hinaus (für sich oder für andere potenzielle Opfer) auf die Grenzüberschreitung reagieren will, gibt es verschiedene Wege:

  1. Die Patientin erstattet bei der Polizei oder beim Kantonsarzt Anzeige gegen den Therapeuten. Diese Behörde muss dann von Amtes wegen ein Verfahren in Gang setzen. Dies kann aber für die Patientin belastend oder demütigend sein. Die Opferhilfe bietet hier eine wichtige Stütze: Sie bereitet die Patientin auf das Verfahren vor, begleitet sie auf Wunsch beim Erstatten der Strafanzeige und zu den Anhörungen.
  2. Die Patientin klagt bei der Berufsorganisation des Therapeuten gegen ihn.
  3. In der Nordwestschweiz kann die Patientin ihre Folgetherapeutin bitten, den Vorstand ihres eigenen Verbandes zu informieren. Dieser wendet sich an den zuständigen Kantonsarzt und nennt den Namen des verdächtigten Kollegen, nicht aber den der Patientin (weil sonst zwingend sofort Anzeige erstattet werden muss). Dieses Vorgehen ist mit den Kantonsärzten von Basel-Stadt, Baselland und Solothurn abgesprochen.

Und wenn keiner dieser Wege infrage kommt? Die Erfahrung zeigt, dass Grenzüberschreitungen in psychotherapeutischen Beziehungen früher oder später als Gerücht auftauchen. Wer eines hört, steht vor der Frage: Was mache ich damit? Soll ich es einfach ignorieren oder muss ich etwas unternehmen? Es gibt keine Gewissheit, dass Gerüchte etwas Wahres berichten. Im Hinblick auf die Sicherheit der PatientInnen (und auch, damit ein fälschlich verdächtigter Therapeut Stellung nehmen kann) wollen wir trotzdem Informationen, die als Gerüchte zirkulieren, nicht übergehen. Manche Dinge können nicht anders gesagt werden. Eine Arbeitsgruppe des VPB, bestehend aus psychologischen und ärztlichen PsychotherapeutInnen, bietet deshalb an, Gerüchte über sexuelle Übergriffe in Psychotherapien entgegenzunehmen. Vorerst behält die Arbeitsgruppe diese Informationen einfach bei sich. In einem nächsten Schritt kann sie mit dem betroffenen Kollegen das Gespräch suchen; sie sagt ihm aber nicht, von wem das Gerücht stammt und welche Patientin es betrifft. In Ausnahmefällen, zum Beispiel wenn sich Gerüchte im Hinblick auf eine Person oder eine Institution verdichten, kann die Arbeitsgruppe weitere Schritte erwägen. Dabei behandelt sie die Angaben über die meldende Person immer vertraulich.

Wer von Grenzüberschreitungen in Psychotherapien hört, kann diese Information bei der Arbeitsgruppe Gerüchte deponieren mit einer Mail an geruechte@psychotherapie-bsbl.ch oder auf dem Kontaktformular auf www.psychotherapie-bsbl.ch. Hier kann jeder anonym bleiben, der das möchte.

Peter Schwob, Präsident des VPB, Verband der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten beider Basel

mail@schwobahrens.ch

Anmerkungen

1 Zur Sprachregelung: Der weitaus grösste Teil der Täter ist männlich, der überwiegende Teil der Betroffenen weiblich; wir verwenden deshalb hier jeweils nur eine Form.