Gott ist tot. Die Anderen sind tot – und lebendig

Freundschaft mit dem Anderen – ein Plädoyer für die Prozessarbeit

Reini Hauser

In unserer post-postmodernen Gesellschaft leiden viele von uns an Entfremdung: von uns selbst, von den anderen, von unserer Arbeit, unserem Land, unseren Gemeinschaften. Wir sind zerrissen, isoliert, anonymisiert. Das Andere ist uns fremd geworden. Wir schiessen Selfies. Wir suchen Trost und Abhilfe, indem wir nach individueller Perfektion streben. Wir werden zu Unternehmern unserer eigenen, profitmaximierten Projekte. Doch die Beziehung zu uns selbst, zu anderen und zur Gemeinschaft leidet. In diesem Prozess der Selbstverbesserung geht der andere verloren. Beziehungen und Gemeinschaft werden marginalisiert. Doch was immer wir marginalisieren, kommt als Monster wieder.

Es ist an der Zeit, diesem Monster zu begegnen, das Gefühl von Verbundenheit, Sinn und Zusammengehörigkeit wiederzuerobern und uns wieder ganz und gemeinsam zu Hause zu fühlen.

Vor mehr als einem Jahrhundert hat Nietzsche verkündet: «Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?»

Seither, in Abwesenheit einer überpersönlichen Ordnung, ist unser Wertesystem zusammengebrochen. Das zweite Gebot «Liebe deinen Nachbarn wie dich selbst» hat seine Bedeutung verloren. Nicht nur Gott ist tot, auch das Andere ist totgeweiht.

Täglich ziehen tausende von namenlosen Gesichtern an uns vorüber. Überfordert und überreizt «schalten wir ab». Wir setzen Kopfhörer auf und ziehen uns in die Anonymität zurück. Wir verbringen als pseudo-autonome Individuen ein Leben in virtuellen Räumen, mit iPhones, iPads, Clicks und Likes.

Im Zug nehmen sich manche Menschen zwei Sitzplätze, legen ihre Füsse auf den gegenüberliegenden Sitz, die Tasche neben sich. Nur unwillig bereit, anderen Platz zu machen, signalisieren sie: Ich will meine Ruhe! Setz dich woanders hin. In der Strassenbahn bleiben Jugendliche sitzen, starren auf ihre Handys, auch wenn eine gebrechliche Alte am Stock um einen Platz bittet. Auf Spaziergängen erschrecken die Menschen, wenn man ihnen «Grüezi» zunickt. Der Andere ist zu viel.

So sehr zu viel, dass sich in Japan geschätzt eine Million Menschen, die sogenannten «Hikkikomori», auf ihre Räume zurückziehen und den Kontakt mit anderen auf ein Minimum beschränken, beziehungsgestresst und überfordert (vgl. Saitō, 2012).

Doch wer sich selbst zum bedeutungsvollen «Anderen» geworden ist, ein Selfie, bewegt sich verängstigt und verstört in einem selbstreferenziellen Kreis – orientierungslos, entfremdet, gefangen in einer sinnlosen Welt.

Mit der drohenden Vernichtung des Anderen, löst sich unser Zugehörigkeitsgefühl, unser Gemeinschaftssinn und die tiefere Bedeutung des Lebens auf.

Über den Verlust einer transpersonalen Ordnung haben wir uns mit neuen Götzen hinwegzutrösten versucht: Wir haben das Kapital, den Börsenmarkt zum Mass aller Dinge, zum neuen Gott erklärt. Paradoxerweise glauben wir, frei zu sein, während wir uns dem Markt unterwerfen. Wir wandeln uns von einem Subjekt zu einem Projekt. Wir befreien uns von äusseren Zwängen, nur um sie mit inneren zu ersetzen: dem Zwang uns zu verbessern, zu performen, etwas zu erreichen, zu gewinnen. Nur dass die Unterwerfung jetzt eine freiwillige ist (vgl. Han, 2014).

Eigenschaften, die wir Gott zuschrieben, haben wir auf die Umwelt übertragen, den Körper, unsere Gesundheit. Das Leben in der Natur, die Freikörperkultur, der Vegetarismus kamen in Mode. Heute unterstützt eine ganze Industrie zum Wohl unserer Gesundheit den Zwang zu Normen und Standards, von plastischer Chirurgie, über Steroide und Anabolika, zu Body Building und Fitnessstudios. «Der» Yoga-Körper ist schlank, flexibel, widerstandsfähig, fit – er passt perfekt zu den heutigen (das heisst ökonomischen) Anforderungen (vgl. Villa, 2017).

Den Richter über alle Dinge haben wir internalisiert. Wir sind Sklaven unseres inneren Meisters geworden. Persönlichkeitstrainer wie Anthony Robbins rufen dazu auf, uns unermüdlich zu verbessern. Dieser selbstauferlegte Zwang zur Selbst-Perfektionierung führt zu Ermüdung, Depression, Burnout, den Krankheiten unserer Zeit (vgl. Han, 2014). Unsere Ängste, Unsicherheiten, Verletzlichkeiten, Schwächen, unsere Depression, Manie und Paranoia, das Altwerden und die Symptome des Leidens – sie alle werden marginalisiert. Was nicht in die Norm passt, wird dämonisiert.

Schliesslich hat sich auch die Psychotherapie aus den Aschen des toten Gottes erhoben. Wir suchen psychische Gesundheit zu maximieren, innere und äussere Konflikte zu reduzieren, uns optimal an die gesellschaftlichen Normen anzupassen. Jung bekannte sich zur Individuation des Individuums, das sich durch die Vereinigung von Gegensätzen ein Leben lang zu Ganzheit, hin zum grösseren Selbst entwickelt, zur Entdeckung Christi im Innern. Die meisten frühen Psychotherapien fokussierten auf die individuelle Psyche, auf Traumbilder und Symbole der Seele, zu Lasten der Beziehung und des Gemeinschaftslebens.

Tracey Emin, britische Künstlerin, thematisiert den Verlust und die Suche nach dem Anderen in ihrer Heirat mit einem Stein (vgl. Hesse, 2016): «Auf einem Hügel, der See zugewandt, steht ein wunderschöner alter Stein. Er geht nicht weg. Er wartet auf mich». Er gibt Sicherheit, Trost, Stabilität.

Doch es hilft alles nichts.

Über den «Stein» als Symbol von Ganzheit, über die «mystische Erfahrung von Gott in der eigenen Seele» (C. G. Jung) hinaus, brauchen wir den vertieften Dialog mit dem Anderen. Wenn wir das Andere marginalisieren, kommt es als Monster zurück. Wenn wir nicht mit unseren Nachbarn sprechen, beginnt der kalte Krieg. Wenn wir einen Konflikt zu lange unterdrücken, werden Terroristen geboren. Das Andere erscheint in unseren Körpersymptomen wieder, in unseren Auseinandersetzungen, in sozialen Spannungen. Es geistert herum. Es spukt.

«Du kannst zwar ein Känguru töten, aber nicht das Träumen des Kängurus», besagt eine zeitlose Weisheit der Aborigines von Australien. Gott und das Andere sind vielleicht tot, ihre Essenz jedoch ist es nicht. Wenn wir der Ganzheit der Natur folgen – den offenen und verborgenen Prozessen – so sehen wir, wie Gott und das Andere in unseren Träumen, Phantasien und Beziehungskonflikten erneut auftauchen.

Es braucht Wege, wie wir mit den abgespaltenen Teilen unserer Psyche und dem marginalisierten Anderen wieder in Beziehung treten. Es braucht einen moderierten Prozess, wie wir von unserer Gespaltenheit und Isolierung zu einem Gefühl von Ganzheit, Kohärenz und Zuhause-Sein kommen.

Die Haltung und die Methoden von Prozessarbeit können diesen Dialog moderieren, können dazu beitragen, in tiefere Beziehung zu treten, mit sich selbst, dem Anderen und der Gemeinschaft. Prozessarbeit schliesst nicht nur die offenen Rollen im Feld ein, also das, was für uns augenfällig da ist, sondern auch die Geister, die Monster, die unerwünschten, nicht vertretenen Figuren, deren Einfluss wir spüren, doch zu vergessen versuchen.

Der ganze Prozess ist das, was ich zu kommunizieren beabsichtige, was ich bewusst erreichen will, womit ich mich identifiziere und er ist gleichzeitig das, was mir ungewollt zustösst. Der Prozess ist «Ich», genauso wie er «Nicht-Ich» ist, der Störenfried, alles, was nach meiner Aufmerksamkeit verlangt. In der Prozessarbeit beginnen wir einzuschliessen, was wir scheinbar nicht sind.

Wir erweitern mit Übungen unsere Wahrnehmungsfähigkeit (siehe S. 23). Wir erweitern das Verständnis und die Erfahrung unserer alltäglichen Realität. Wir schliessen das Träumen mit ein, die Präsenz der Hexen, Narren, Bettler und Diebe. Sobald wir die Marginalisierten, die Toten, die Feinde, die bösen Geister und tiefsten Träume zu einem Dialog einladen, wird die Welt lebendig.

Indem wir unsere Verletzlichkeit, unsere Schwächen, unser Menschsein einbringen, bereichern wir unsere Beziehungen und das Leben in unserer Gemeinschaft. Wir wollen keine inneren und äusseren Mauern gegen die Anderen bauen, sondern lieber unsere Impulse, unsere Nachbarn, Widersacher und Feinde einschliessen und zu Freunden machen: «Der Akt des In-Beziehung-Tretens und -Seins muss gesehen und geschätzt und zum bewussten Mittelpunkt des Lebens in der Gemeinschaft werden» (Mindell, 2000).

Freiheit heisst wörtlich, sagt Han, «mit Freunden sein», Teil einer Gemeinschaft sein. Nur wenn wir uns mit anderen in Bezug setzen, fühlen wir uns wahrhaftig zu Hause. Freiheit ist in Beziehung sein. Freiheit weist auf den Anderen. Freiheit ist ein Synonym für funktionierende Beziehungen: mit sich selbst, mit anderen und der Gemeinschaft (vgl. Han, 2014).

In der Moderation von offenen Foren macht Prozessarbeit den Schritt aus der therapeutischen Praxis hinaus in die Welt, in soziale Spannungsfelder, wo sie Räume für einen vertieften Dialog öffnet. Um aktuelle gesellschaftliche Themen und Diskriminierungen aller Art bringt sie Menschen unterschiedlicher Herkunft in den Austausch, in eine wertschätzende Haltung zu den verschiedenen Standpunkten, Meinungen und Gefühlen. Rationale Ziele sowie transrationale Körperreaktionen und Träume der Gruppe werden in einem tiefendemokratischen Prozess für die Lösungsfindung genutzt. Grossgruppenprozesse bis zu mehreren Hundert Menschen, von Wohnungsnot in Zürich bis zum Umgang mit Flüchtlingen in der Schweiz, sind dokumentiert.1

In diesen turbulenten Zeiten entwickeln wir wahre Ältestenschaft, wenn wir unser Gemeinschaftsgefühl wiederentdecken und uns tieferes Selbst und den Sinn wiedererobern, indem wir alle Stimmen und alle Gefühle – die rationalen und auch diejenigen, die über die Ratio hinausgehen – willkommen heissen.

Literatur

Saitō, Tamaki (2012). Social Withdrawal: Adolescence without End. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Han, Byung-Chul (2014). Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt am Main: Fischer.

Villa, Paula-Irene (2017). Warum die Wirtschaft vom Yogakörper träumt. reformiert, März 2017

Hesse, Tracey Emin (2016). Die britische Künstlerin hat einen Stein geheiratet. Tages-Anzeiger, 26.03.2016.

Mindell, Arnold (2000). In: Lieber C. G. Jung. Was ich ihnen schon immer sagen wollte. Zürich: Walter.

Reini Hauser, Ph. D., Psychotherapeut ASP, prozessorientierte Supervision, Konfliktberatung und Organisationsentwicklung. Fortbildung 2017 unter: www.konfliktFest.ch.

info@reinihauser.net

Mein grosser Dank geht an Franziska Espinoza (Bern) für die Bearbeitung und deutsche Übersetzung des vorliegenden Vortrages.

Das Institut für Prozessarbeit (Zürich) bietet Fort- und Weiterbildungen in Psychotherapie, Coaching, Supervision und Konfliktarbeit an. Das IPA ist eine Partnerinstitution des ASP mit Vertiefungsrichtung «Prozessorientierte Psychotherapie». Der Weiterbildungsgang ist provisorisch akkreditiert (s. www.institut-prozessarbeit.ch).

Dieser Beitrag wurde als Keynote speech gehalten am 22nd European Association for Psychotherapy Congress »Autonomy and Sense of Belonging«, Zagreb, Kroatien, 1. Oktober 2016.

Anmerkungen

1 Artikel, Berichte und Filmbeispiele finden sich auf www.reinihauser.net. S. auch www.worldwork.org.