Selbstständige Psychotherapeuten ins KVG

Ernst Spengler

Die Absicht des Bundesamt für Gesundheit (BAG), den Psychotherapeuten bzw. deren Patienten über eine bundesrätliche Verordnung zum KVG den Zugang zu Kassenleistungen aus der Grundversicherung per ärztliche Verschreibung zu ermöglichen, erfordert eine möglichst repräsentative Stellungnahme der psychotherapeutischen Organisationen. Die nachfolgenden Erörterungen mit einer Übersicht über die wichtigsten verfassungs- und versicherungsrechtlichen Fakten und die wirtschaftlichen Auswirkungen möchten eine sachliche Diskussion ermöglichen. Im Verlauf der Auseinandersetzung mit den möglichen Optionen ist der Autor zu einer Schlussfolgerung gelangt, die im Sinne eines Diskussionsbeitrages seine persönliche Meinung spiegelt. Ob die Verordnung akzeptiert oder angefochten werden soll und welche Chancen im letzteren Fall einer Forderung nach einer verfassungskonformen Gesetzesrevision eingeräumt werden, sollte diskutiert und gemeinsam von den psychotherapeutischen Berufsverbänden entschieden werden.

Bei der seinerzeitigen Beratung des KVG im Parlament wurde befürchtet, würde man die selbständigen Psychotherapeuten in die Liste der Leistungserbringer des KVG aufnehmen, um die Behandlungen ihrer Patienten aus der Grundversicherung zu entschädigen, wäre eine Kostenaufblähung die Folge. Das wollten die Räte angesichts der schon damals rasch wachsenden Kosten des Gesundheitswesens keinesfalls. Deshalb unterblieb dieser Listeneintrag beim Gesetzesbeschluss von 1994, obwohl die eidgenössischen Räte Kenntnis hatten von Fakten, die eine bescheidene Kostenausweitung belegten: die (heute nicht mehr bestehende) Krankenfürsorge Winterthur bezahlte laut Vertrag mit dem SPV im Jahr 1991 bei einem Minimaltarif von 85 Fr./Std. gerade Fr. 4.82 pro Versicherten bzw. 2,043 Mio. Fr. insgesamt für Psychotherapie, was umgerechnet auf alle Psychotherapien in der Schweiz knapp 30 Mio. Fr. im Jahr entsprochen hätte. Zum Vergleich: im Jahr 1990 wurden in der Schweiz Psychopharmaka im Betrag von 218 Mio. Fr. konsumiert.

Das BAG anerkannte immerhin die Berechtigung des Anliegens und Bundesrätin Ruth Dreifuss versprach, bald eine bundesrätliche Verordnung zu schaffen, über die gemäss Art. 35 2e KVG nach dem Muster einiger Gesundheitsberufe wie Physiotherapeuten, Podologen u. a., die keine eigene Indikations- und Diagnosekompetenz besitzen, über eine ärztliche Verschreibung doch Kassenvergütungen für Psychotherapien ermöglicht werden sollten. Die als «Pförtnerfunktion» gedachte ärztliche Verschreibung hätte sicherstellen sollen, dass nur nötige Krankheitsbehandlungen über die Kassen finanziert würden. Es ist allerdings zweifelhaft, ob die Nachfrage nach «unnötiger» Psychotherapie so gross ist angesichts der Tatsache, dass einst ein Präsidentschaftskandidat in den USA ausgegrenzt worden ist, weil er Jahre zuvor einmal psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen hatte. Tatsächlich bewirkt die Verschreibungspflicht nicht einmal eine Kostenminderung: Die Patienten holen sich die Indikationsbestätigung (heute z. B., wenn eine Krankenkasse die Teilübernahme der Kosten durch eine Zusatzversicherung davon abhängig macht) von ihrem Hausarzt, der sie in aller Regel ausstellt. Und dieses Arztzeugnis muss aus der Grundversicherung bezahlt werden.

Doch über 20 Jahre sind vergangen und das Versprechen ist nie eingelöst worden. Natürlich war schon damals klar, dass das behördliche Erfordernis einer ärztlichen Verschreibung verfassungswidrig ist. Der Kanton Waadt wollte 1985 die selbständige Berufsausübung der Psychotherapeuten der gleichen Verschreibungspflicht unterwerfen; das vom SPV/ASP angerufene Bundesgericht hob diese aber auf (P 1250/85 vom 28. Mai 1986), weil Psychotherapeuten zur selbständigen Indikations- und Diagnosestellung ausgebildet sind: «…on pourrait même considérer que le psychothérapeute est plus qualifié pour juger si une personne a besoin d’un traitement de nature psychologique qu’un médecin qui n’est pas spécialisée en psychiatrie.» Bedenkt man, dass die Patienten, wie erwähnt, das ärztliche Plazet in der Regel vom Hausarzt anfordern, ist die Unangemessenheit der Verschreibungspflicht offensichtlich; sie wurde vom BG als unverhältnismässig abgelehnt und aufgehoben («en imposant une prescription médicale avant toute psychothérapie, le législateur vaudois a pris une mesure excessive qui viole le principe de la proportionnalité et doit être annulée»).

Das BAG kennt dieses Urteil; es weiss auch, dass alle Kantone sich an die Verfassungsnormen halten müssen. Umso erstaunlicher ist die Leichtigkeit, mit der sich eine Bundesbehörde auch heute über Art. 182 Abs. 2 der Bundesverfassung hinwegsetzt, wonach der Bundesrat die Urteile richterlicher Behörden des Bundes vollzieht. Das BAG weiss eben auch, dass Bundesgesetze und deren Verordnungen mangels Verfassungsgerichtsbarkeit für Bundesgesetze verfassungsrechtlich nicht anfechtbar sind. Es gibt eine lange Liste von Klagen gegen Verordnungen, auf die das BG deshalb gar nicht eingetreten ist. Das Thema sei hier nicht weiter erörtert; Fakt ist: das eidgenössische Parlament besitzt eine rechtsstaatlich fragwürdige Allmachtstellung und die Bürger sind verfassungsrechtlich ausgetrickst und ohnmächtig.

Neuer Anlauf nach 20 Jahren

Ungeachtet all dessen hat das BAG vor kurzem verlauten lassen, es plane (erneut) eine Verordnung, in der Psychotherapie künftig als Leistung der KVG-Grundversicherung anerkannt werden soll, aber wieder nur auf ärztliche Anordnung hin. Inzwischen gab es die Absicht kund, in dieser Sache im September 2016 zu entscheiden.

Vor 20 Jahren waren die Psychotherapeuten enttäuscht vom KVG, und sie hätten eine verfassungswidrige Ermöglichung von Kassenvergütungen wohl im Interesse ihrer Patienten akzeptiert. Auch heute gibt es viele Therapeuten, welche die Kröte der ärztlichen Verschreibung schlucken würden nach dem Sprichwort «Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach».

Grundsätzlich ist löblich, dass das BAG endlich Grundversicherungsleistungen für Psychotherapien ermöglichen will. Die psychotherapeutische Grundversorgung in der Schweiz ist seit Jahrzehnten nur dank der Mitwirkung der Psychotherapeuten gewährleistet, doch das geltende KVG diskriminiert die Patienten der Psychotherapeuten gegenüber jenen der Psychiater mit Ungleichbehandlung: sie müssen ihre Behandlung selber bezahlen, wenn sie nicht über eine Zusatzversicherung marginale Vergütungen erhalten. Die eidgenössischen Räte haben es in der Vergangenheit unterlassen, die Psychotherapeuten im KVG als selbständige Leistungserbringer aufzuführen – aus «Spargründen», während fragwürdige alternativ-medizinische Verrichtungen mit fehlendem Wirksamkeitsnachweis kassenpflichtig sind. Mit den Chiropraktikern gibt es seit den sechziger Jahren den Präzedenzfall nichtärztlicher Leistungserbringer ohne ärztliche Verschreibungspflicht im KUVG, heute in der Grundversicherung KVG (Art. 32 2c), und auch die Hebammen sind hier aufgeführt (Art. 32 2d).

Entscheidendes hat sich verändert

Aber seit 1996 hat sich doch Entscheidendes geändert. In zwei Bundesgesetzen haben nämlich die eidgenössischen Räte die Psychotherapeuten den Ärzten rechtlich gleichgestellt: Zunächst im Mehrwertsteuergesetz, das seit anfangs 2001 in Kraft ist, und in welchem auch ihre Heilbehandlungen (Art. 21 Abs. 3) steuerbefreit sind, im Gegensatz zur Vorperiode ab 1996, in welchem die Eidgenössische Steuerverwaltung diese Heilbehandlungen nur von der Steuer befreien wollte, wenn sie alle 12 Stunden ärztlich verschrieben waren. Die Anfechtung dieser Regelung durch den SPV vor der 2. Staatsrechtlichen Kammer des BG brachte nichts. Das BG bestätigte zwar ausdrücklich die selbständige Indikations- und Diagnosekompetenz der Psychotherapeuten im Entscheid vom Oktober 2001 und wusste bereits von der Steuerbefreiung im MwStG, machte aber einen geistigen Salto mortale und befand, steuerlich sei eine ärztliche Verschreibung zur Steuerbefreiung zulässig. Das galt aber nur für die vorgesetzliche Übergangszeit bis Ende 2000.

Das zweite ist das Bundesgesetz über die psychologischen Berufe, in Kraft seit April 2013, in dem in Art. 22 die «privatwirtschaftliche Ausübung der Psychotherapie in eigener fachlicher Kompetenz» festgehalten ist, was die selbstständige Diagnose- und Indikationskompetenz mit umfasst, auch wenn mit «privatwirtschaftlich» in Respektierung des bisher geltenden KVG indirekt eine versicherungsrechtliche Tätigkeit als Leistungserbringer in der Grundversicherung KVG als nicht möglich umschrieben wird.

Eine offensichtlich kaum bekannte weitere Neuerung besteht darin, dass seit dem Jahr 1998 einige der psychotherapeutischen Ausbildungsinstitutionen im Rahmen der FMH-Weiterbildung zum Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie dreijährige Kurse für Ärzte in der jeweiligen Therapiemethode durchführen, die inzwischen von der FMH überprüft und anerkannt worden sind. So wie die Psychotherapeuten im klinischen Bereich viel von den Medizinern lernen können, vermitteln sie diesen im spezifisch psychotherapeutischen Bereich zusätzliche Fachkenntnisse. Der Gesetzgeber ist eingeladen, diese fachliche Ausbildungszusammenarbeit auf Augenhöhe zur Kenntnis nehmen und bei der Legiferierung zu berücksichtigen.

Verfassungswidrige Nichtnennung

Das nun 20-jährige KVG von 1996 trägt verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten nicht Rechnung, indem es die Psychotherapeuten nicht als Leistungserbringer der Grundversicherung nennt. Eine verfassungsrechtlich analoge Situation lag früher beim Zürcher Gesundheitsgesetz vor, in dem die Psychotherapeuten nicht als selbständiger Heilberuf des Gesundheitswesens aufgeführt waren, sich daher nicht Psychotherapeuten nennen und keine Heilbehandlungen ausführen durften. In einem Pilotprozess erkämpfte sich der SPV/ASP im Jahr 1993 aber die spätere Aufnahme der Psychotherapeuten ins Zürcher Gesundheitsgesetz (BGE 2P.72/1992/ae, Abschnitt A), denn ihre Nichtnennung war auf Grund ihrer Qualifikation verfassungswidrig. Analog erscheint ihre Nichtnennung im KVG ebenso unzulässig, denn die Verfassung muss sowohl für staatsrechtliche wie für versicherungsrechtliche Gesetze gleich gelten; auch wenn Bundesgesetze heute nicht anfechtbar sind. Umso mehr bedarf es in dieser Hinsicht einer Revision des KVG; dann ist es aber konsequent und Willkür vermeidend, wenn das Parlament den verfassungsrechtlichen Mangel durch die Aufnahme der Psychotherapeuten in Art. 35 KVG endlich beseitigt.

Das seinerzeitige Parlament wollte dies nicht, weil ihm die Verhinderung einer Kostenaufblähung im Gesundheitswesen wichtiger schien als die Verfassungskonformität. Die geplante Zulassung der Psychotherapeuten bzw. ihrer Patienten zu Grundversicherungsleistungen über eine bundesrätliche Verordnung wird aber diese Zusatzkosten ohnehin auslösen, wenn sie denn realisiert würde. Überdies hat die selbständige Heiltätigkeit der Psychotherapeuten die Grundversicherung bisher nie belastet; da ist über Jahrzehnte bereits eine einzigartige Sparleistung erbracht worden, während andere KVG-Leistungserbringer Kostenschübe verursacht haben. Das spricht bei sachlicher Betrachtung für die Aufnahme ins KVG und gegen eine verfassungswidrige Verordnung, die zudem den staatsrechtlich selbstständigen Beruf des Psychotherapeuten mit zwei selbst bezahlten Studienabschlüssen auf Hochschulniveau versicherungsrechtlich zum ärztlichen Hilfsberuf degradiert (was auch die Patienten wahrnehmen). Der Weg über eine Verordnung mit ärztlicher Verschreibungspflicht ist heute auch rechtsetzungsmässig falsch, weil die selbständige Indikations- und Diagnosestellung der Psychotherapeuten in zwei Bundesgesetzen bestätigt ist; also ist es konsequent, nun auch das KVG entsprechend anzupassen. Die Verlockung, über eine Verordnung zu Pflichtleistungen für die Patienten zu kommen, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Festschreibung der Psychotherapie als ärztlicher Hilfsberuf mittels der Verschreibungspflicht kaum mehr rückgängig zu machen sein wird, weil die Krankenkassen ja dann die Therapien bezahlen und somit der politische Druck der Ungerechtigkeit gegenüber den Psychotherapiepatienten wegfällt. Die Psychotherapeuten müssten dies mit der dauernden versicherungsrechtlichen Unselbständigkeit und Abhängigkeit bezahlen.

Wegfall bisheriger Kosten

Bezüglich der Kosten für die Grundversicherung ist darauf hinzuweisen, dass bei Aufnahme der Psychotherapeuten ins KVG andere heutige Kosten wegfallen werden. Die grösste Einsparung besteht bei der im Jahr 1981 gerichtlich ermöglichten delegierten Psychotherapie (durch bei Ärzten angestellte Therapeuten, was bereits aus der Grundversicherung vergütet wird), die entfallen würde. Leistungen aus Zusatzversicherungen für Psychotherapie werden überflüssig, was Prämiensenkungen in diesem Bereich für die Patienten ermöglicht.

Verordnung doch anfechtbar

Nochmals: Psychotherapeuten stellen Indikation und Diagnose, wenn eine Behandlung ansteht. Sie sind hierfür ausgebildet und bundesrechtlich kompetent; eine zusätzliche ärztliche Verschreibung ist nicht nur festgestelltermassen verfassungswidrig, sondern schlicht überflüssig und verursacht deshalb unnötige Kosten zulasten der Grundversicherung. Sie verletzt so das in Art. 32 im KVG verankerte Gebot der Wirtschaftlichkeit. Damit ist die Verordnung wegen Widerspruchs zum übergeordneten Gesetz anfechtbar, denn laut einem Urteil des Bundesgerichts von 2010 kann es prüfen, ob eine unselbstständige Verordnung den Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Kompetenzen offensichtlich sprengt oder aus andern Gründen gesetzwidrig ist (BGE 136 II 337, Erwägung 5, 2010). Es stützt sich dabei auf Art. 95 des Bundesgerichtsgesetzes, wonach die Verletzung von Bundesrecht mit Beschwerde gerügt werden kann, sowie auf Art. 29 BGG, wonach das BG seine Zuständigkeit von Amtes wegen prüft.

Fazit: Will das BAG endlich den Patienten von Psychotherapeuten Grundversicherungsvergütungen ermöglichen, liegt die finanziell günstigste und verfassungsrechtlich einzig korrekte Lösung des Problems in der Nennung der Psychotherapeuten als selbständige Leistungserbringer im KVG. Das BAG müsste somit eine entsprechende Ergänzung von Art. 35 KVG durch das Parlament in die Wege leiten.

Dr. phil. Ernst Spengler, Präsident Schweizer Psychotherapeuten-Verband SPV/ASP 1991-93 (heute ASP)

10 Jahre Kuratoriumsmitglied und Leiter der Dreijahreskurse für Ärzte im Rahmen der Weiterbildung Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie FMH am C. G. Jung-Institut, Zürich (bis Ende 2007)

Korrespondenz: ernst.spengler@bluewin.ch