Sind PsychotherapeutInnen wirklich unabhängig?
Liviu Poenaru
Das psychotherapeutische Handeln steht im Spannungsfeld zwischen physischer und metaphysischer Pflege; es war immer umstritten, unter Wissenschaftlern wie in der Bevölkerung. Damit ist die Psychotherapie stets in eine zweideutige Lage geraten in Bezug auf die Kenntnis und die mögliche Entwicklung des Einzelnen, die sie auslösen kann. Sie zahlt den Preis für diese zweideutige Position, die Zweifel, ja sogar Missbräuche erlaubt. Deshalb darf sie in der Schweiz nur durch die Vermittlung eines Psychiaters (also eines Arztes) ausgeübt werden, ohne den die psychologische Behandlung psychischer Erkrankungen nicht möglich wäre. Diese „Regelung“ impliziert ein Abhängigkeitsverhältnis mit zahlreichen Folgen.
Wir alle wissen, dass der Psychologe gemäss PsyG ermächtigt ist, psychische Erkrankungen mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu bewerten, zu diagnostizieren und zu behandeln. Diese Mittel sind das Verständnis der kognitiven Prozesse und der Einsatz neuer Strategien, um die Mechanismen, die für die Krankheit verantwortlich sind, zu verändern. In der Ausbildung des Psychologen steht die psychologische Dimension der Krankheit im Mittelpunkt, während der Psychiater hauptsächlich in semiotischer, pharmakologischer und psychotherapeutischer Hinsicht ausgebildet wird. In Tat und Wahrheit lernen die Ärzte nie die psychologischen Modelle und die Psychologen nie die ärztlich-psychiatrischen Modelle (siehe Ausbildungsprogramm der Psychiatrie). Deshalb ist das Zusammenwirken dieser Berufe für eine angemessene Behandlung der psychischen Erkrankung unerlässlich. Aus diesem Grund wurde die von Psychologen praktizierte delegierte Psychotherapie auch in die Grundversicherung (KVG) aufgenommen, die jedermann qualitativ hochstehende Pflege- und Behandlungsleistungen garantiert.
Die Debatte über den Status der delegierten Psychotherapie und die Obsoleszenz dieses Modells ist im Gange und es ist wahrscheinlich, dass sie in Zukunft zu Überarbeitungen führt. Dessen ungeachtet bleiben die Psychotherapien in Wahrheit eine bedingte Dienstleistung und keine den Patienten gebotene Chance für eine optimale Behandlung der bio-psycho-sozialen Ursachen ihres Leidens. Wenn beispielsweise ein Allgemeinpraktiker einen Patienten an einen Dermatologen überweist, so ist dieser Schritt selbstverständlich, weil der eine nicht über die Kenntnisse des anderen verfügt. Wenn ein Psychiater einen Patienten zu einem Psychologen schickt, kann es sich um ein Geschäft handeln, das der Qualität der Pflege und dem Kontakt zwischen Patient und Psychotherapeut schadet, da beide den Zwängen unterliegen, die sich aus der Beziehung Psychologe-Psychiater ergeben. Ich spreche hier von einem Geschäft, weil diese Beziehung – namentlich in Genf – kostenpflichtig sein kann (bis zu 70% der Rechnung des Psychologen). Das angewandte Modell ist das der privaten medizinischen Einrichtungen, deren Betriebskosten (medizinisches Material, Assistentinnen usw.) durch die dort tätigen Ärzte gedeckt werden, nur dass eine psychiatrische Praxis im Allgemeinen von geringer Grösse ist und nicht dieselben Kosten hat. Am meisten beunruhigen indes nicht die Einkommen der beiden Parteien, sondern beunruhigend und verfänglich unter dem Aspekt der Leistungen, die den Patienten angeboten werden, ist die Position des Psychologen bei diesem Verfahren.
In Genf, heisst es, üben die selbständigen Psychotherapeuten ihren Beruf in der eigenen Praxis unter eigener Verantwortung aus. Sie werden nicht von der Grundversicherung bezahlt, sondern einzig von den Zusatzversicherungen, Unfallversicherungen usw. Wir wissen aus Erfahrung, dass die Anzahl der von den Zusatzversicherungen erstatteten Sitzungen oft sehr gering ist und keine Behandlung von Patienten mit ernsthaften oder chronischen psychiatrischen Problemen gestattet. Soll also der wirklich unabhängige Psychotherapeut keine psychischen Erkrankungen behandeln? Warum sollte man sich dann um eine Bewilligung für eine selbständige Praxis, z. B. gemäss dem Gesundheitsgesetz im Kanton Genf, bemühen?
Der Psychotherapeut befindet sich daher in den meisten Fällen in einem Abhängigkeitsverhältnis gegenüber dem Psychiater, der diesem Verhältnis, das sich nach den Grundsätzen der Interdisziplinarität richten sollte, seine eigenen Einschränkungen auferlegt. Dies ist umso stossender als andere paramedizinische Berufe, etwa die Physiotherapeuten, die Podologen usw., ihre Leistungen in unabhängiger Weise erbringen und abrechnen können.
Rechtlich gesehen befindet man sich, sobald ein Arbeitsvertrag vorliegt, d. h. sobald man durch jemand anderen bezahlt wird (im konkreten Fall durch den Arzt, der fakturiert hat), automatisch in einem Abhängigkeitsverhältnis. Es bleibt für mich ausserdem ein Rätsel, warum die „delegierte Psychotherapie“ zwar einen eigenen Abrechnungspunkt im KVG bildet, aber nur durch einen Arzt abgerechnet werden kann – und genau dadurch wird die Abhängigkeit fortgeschrieben.
Die Windungen des Systems der psychologischen und psychiatrischen Pflege rücken die Psychotherapie in einen toten Winkel mit Auswirkungen für die Gesundheit der Bevölkerung. Wir stellen an der Basis die Schwierigkeiten fest, denen wir alle bei der Behandlung schwerer psychiatrischer Krankheiten begegnen. Hinzu kommt die Organisation eines Pflegesystems, das sozusagen aus bewussten oder unbewussten Gründen die Schaffung einer kohärenten Regelung verweigert, von der in erster Linie die Patienten profitieren sollten. Beim aktuellen theoretischen und praktischen Kenntnisstand müsste es für uns alle obligatorisch sein, dass die Behandlung psychiatrischer Krankheiten, die eine medizinische Intervention erfordern, einer psychotherapeutisch-psychiatrischen Ergänzung bedarf, ohne dass jemand irgendetwas an einen anderen delegiert. Es gibt nichts zu delegieren, solange wir folgende grundlegende Wahrheit eingestehen: Wir haben nicht dieselbe Ausbildung, obschon die beiden Berufe – zu Unrecht – mit der Vorsilbe Psy beginnen.
Aus diesen Feststellungen ergibt sich Folgendes:
1.Die unabhängige Ausübung der Psychotherapie ist nur schwer möglich und steht daher im Widerspruch zum Psychologieberufegesetz (PsyG).
2.Die Bewilligungen für eine selbständige Praxis sind unter den aktuellen praktischen Bedingungen unnütz, wenn nicht absurd.
3.Die Rechnungsstellung der Psychotherapie im Rahmen des KVG ist durch den Gebrauch, der davon gemacht wird, beeinträchtigt.
4.Die Besonderheit der Psychotherapie wird in der Realität nicht als eine ganz eigene Tätigkeit mit ihrer eigenen Berufsordnung und ihren Behandlungsmitteln, wie sie im PsyG angegeben sind, anerkannt.
5.Dieses Ungleichgewicht kann dazu führen, dass Krankheiten chronisch werden wegen des mangelnden Zugangs zur psychotherapeutischen Behandlung durch Fachleute, die die psychologischen Funktionen des Individuums studiert haben. Demnach wird die notwendige Komplementarität zwischen Psychologen und Psychiatern in der Praxis nicht immer beachtet.
Die Logik der psychischen Erkrankung gehorcht weitgehend den Gesetzen der psychischen Kausalität, die sich der Linearität und der Berechnung entziehen; sie unterliegt daher den Auswirkungen unklarer Determinationen. Die Logik der psychologischen und der psychiatrischen Behandlung scheint von derselben Schwierigkeit zu zeugen, Kohärenz und gedankliche Unabhängigkeit zu beweisen und aufrechtzuerhalten, wenn sie sich mit Behörden konfrontiert sieht, die vom Über-Ich getrieben oder gar tyrannisch stets am Organisieren sind, um eine Struktur zu desorganisieren, die seit jeher die Unterordnung verweigert... Man denkt dann an diesen Ausspruch, der oft (projektiv oder nicht) von den Kranken und von der breiten Masse vorgebracht wird, wenn sie die Psychologen und/oder die Psychiater qualifizieren: Aber ihr seid doch alle verrückt!