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Nervenentzündung und Psychotherapie

Mehrere neuere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass bei psychiatrischen Patienten mit schwerwiegenden psychischen Problemen, wie starken Depressionen zum Beispiel, tatsächlich eine eigentliche Entzündung im Hirn vorliegt. Diese erstaunliche Entdeckung ergibt ein neues Bild der mentalen Erkrankung, sie erscheint nicht mehr nur als ein affektives und kognitives Problem, wie gewisse psychotherapeutische Ansätze bisher angenommen haben, auch nicht einfach als ein chemisches Ungleichgewicht, sondern beinhaltet eine wesentliche organische Veränderung. Dies beweist letztlich auch, dass Leib und Seele untrennbar sind und dass eine Erklärung für eine nicht-lineare Kausalität gefunden werden muss. Dies alles verpflichtet zur Überarbeitung der Depressionsbehandlung und zeigt neue Wege zur Erforschung anderer schwerer psychischer Erkrankungen. Was aber ist eine Nervenentzündung?

Im Allgemeinen nimmt man an, dass eine Entzündung von Nervengewebe auf eine Reihe verschiedener Faktoren zurückgeführt werden kann wie Infektionen, Hirnverletzungen, toxische Metaboliten oder Autoimmunität; Autoimmunerkrankungen werden bekanntlich durch eine Hyperaktivität des Immunsystems hervorgerufen, welches auf Substanzen oder Gewebe reagiert, die üblicherweise im Körper vorhanden sind. Als Antwort auf diese Faktoren aktiviert das Zentralnervensystem (einschliesslich Gehirn und Rückenmark) Gliazellen, eine Art Makrophagen, welche Zelltrümmer fressen, Fremdkörper, Mikroben Krebszellen usw. Sind zu viele Gliazellen vorhanden, verursachen diese in einer komplexen Dynamik einen Bruch der Blut-Hirnschranke; diese trennt auf selektive Weise das zirkulierende Blut vom extrazellulären Fluid des Nervensystems. Zu viele Gliazellen, welche ursprünglich einen Schutzeffekt besitzen, können dann einen toxischen Effekt haben und in diesem Fall eine Entzündung hervorrufen.

Wir wissen schon seit Langem, dass Stress (sozialer und umweltbedingter) ein Hauptfaktor für die Entstehung von oxydativem Stress auf Zellebene ist und auch für eine Überproduktion von chemischen Molekülen sorgt, welche Entzündungen auf verschiedenen somatischen Ebenen hervorrufen. Colen et al. (2011) erinnern daran, dass chronischer Stress zu einer Unempfindlichkeit der Glucocorticoidrezeptoren, welche für die Deregulierung von Entzündungsreaktionen verantwortlich sind, führt, was zur Entstehung verschiedener Krankheiten beiträgt. Diese Wissenschaftler sind der Ansicht, dass lang anhaltender Stress bewirkt, dass Cortisol (ein auf der Basis von Cholesterin sekretiertes Hormon, welches für die Erhöhung des Blutzuckers verantwortlich ist, für die Verhinderung verschiedener Antworten des Immunsystems, für die Regulierung des Metabolismus und des Tag/Nacht-Rhythmus) die Entzündungsantwort weniger effizient regulieren kann, weil das Gewebe weniger empfindlich auf das Hormon reagiert, genauer gesagt, die Immunzellen werden auf die regulierenden Effekte des Cortisols unempfindlich, der Entzündungsprozess entgeht der gewohnten Kontrolle und generiert verschiedene auf sich anbahnende Krankheiten hinweisende Symptome.

Ausgehend von diesen Forschungsansätzen schlägt Canli (2014) eine Neukonzeptualisierung der schwerwiegenden Depression als Infektionskrankheit vor, was alle im Allgemeinen bisher angenommenen Kenntnisse dieser Krankheit auf den Kopf stellt. Betreffend biologischen Kausalzusammenhang ist Canli zu Recht der Meinung, dass die Depression aufgrund ihrer Entzündungsmerkmale durch einen Parasiten, ein Bakterium oder eine virale Infektion hervorgerufen werden könnte. Diese erstaunliche Ätiologie ist meiner Meinung nach gleichzeitig plausibel und beschränkt wahr, wenn man das vorher Gesagte berücksichtigt, d.h. den Zusammenhang zwischen Stress, Immunantwort und Entzündung. Jedenfalls ist es in unserem Praxisalltag wichtig, diese Ätiologie in Betracht zu ziehen, da der menschliche Körper nicht nur ein Körper mit Kognitionen und Gefühlen, sondern auch ein von einer ganzen Reihe von Mikroorganismen bevölkertes Ökosystem ist, welche mehr oder weniger toxisch sein können und vom Immunsystem aus verschiedenen Gründen, z.B. Stress, nicht immer wirksam bekämpft werden können.

Eine andere Perspektive in einer Studie des Centre for Addiction and Mental Health von Setiawan et al. (2015) betont, dass die Nervenentzündung bei von klinischer Depression Betroffenen um 30% erhöht ist. Diese Beweise zeigen, dass die Entzündung unter den Symptomen der schwerwiegenden Depression ebenso eine Rolle spielt wie das Stimmungstief, die Appetitlosigkeit, der Verlust von Motivation allgemein und die Schlafstörungen. Ein Weg zur medikamentösen Behandlung wird also der Einsatz von Entzündungshemmern sein, zusätzlich können Schmerzmittel, Pro-Neurogenika und Pro-Neutrophine gegeben werden.

Schliesslich wird in einer Studie von Wager-Smith und Markou (2011) vorgeschlagen, dass im Gehirn durch die Nervenentzündung verursachte Mikroläsionen vorhanden sein könnten. Gemäss diesen Autoren führen Stressfaktoren zu Schädigungen im Gehirn, welche eine Reparaturantwort auslösen, die aus einer Entzündungsphase, welche Zelltrümmer beseitigen will, und einer Spontanheilung des Gewebes besteht, an welcher Neutrophin und Neurogenese beteiligt sind. Im Verheilungsverlauf lösen die Entzündungsmediatoren Krankheitssymptome aus sowie die psychologischen Schmerzen; dies geschieht durch ähnliche Mechanismen wie bei den durch Vernarbung entstehenden Schmerzen. Die Depression wäre nach Abschluss der neuronalen Reparation geheilt; hingegen führt das psychische Leiden und die Nervenentzündung gemäss diesen Autoren häufig zu einem chronischen Zustand und schliesslich zu einer pathologischen Depression. Gemäss diesem Modell ist eine schwere depressive Episode normalerweise selbstbegrenzend, es können aber bei der Heilung der Schäden durch Stress ausgelöste Fehler passieren.

Die Auslösefaktoren der Nervenentzündung scheinen vielfältig, und man betrachtet von nun an gleichzeitig die Stressfaktoren, welche mit Beziehungen des Betroffenen mit seiner Umwelt zusammenhängen (und meines Erachtens mit sich selbst und seinem eigenen Gedächtnis), und Infektionen, die von Mikroorganismen hervorgerufen werden. Wie oben vorgeschlagen, kann die Kausalität dieses Zustands nur in einem zirkulären Sinn erklärt werden, d.h. dass ein biosomatisches und psychologisches Gedächtnis und Prädispositionen das Entstehen der Nervenentzündung begünstigen, welche ihrerseits die Depression entstehen lässt, die auch durch einen permanenten Stresszustand gegenüber der Umwelt und seinem eigenen Funktionieren gekennzeichnet ist, welcher chronisch werden kann.

Die aufgrund dieser Feststellungen für uns Psychotherapeuten interessante Frage ist, wie mit dieser Art von Patienten während einer Gesprächstherapie verfahren werden soll. Welche Änderungen des Bezugsrahmens verlangen diese neuen Erkenntnisse? Seit Urzeiten ist bekannt und auch in Studien mittels Neuroimaging bewiesen, dass Zuhören auf den Patienten eine verändernde und beruhigende Wirkung hat, was auch eine Überschreibung von Gedächtnisspuren hervorrufen kann, wenn neue Tatsachen mittels durch die Psychotherapie vorgeschlagener Intersubjektivität auftauchen. Nur ein Beispiel dafür sehen wir in einer Studie mit Neuroimaging (Buchheim et al. 2012), welche signifikante Veränderungen von mit der emotionalen Reaktivität zusammenhängenden Hirnstrukturen zeigen, im Vergleich zum Zustand bei der Kontrolle nach einer psychodynamischen Therapie. Um auf die möglichen Auswirkungen der Nervenentzündung zurückzukommen: Erfahren wir aufgrund dieser Tatsachen etwas Neues, das noch nicht bekannt war?

Wir sprechen zuallererst von einem physisch wirklichen Leiden, das nicht nur an frühe Episoden der persönlichen Geschichte gebunden ist, welche für die aktuellen gefühlsmässigen Zustände eines Individuums bestimmend sind. Denn aufgrund der erwähnten Entdeckungen basiert der Schmerz nicht nur auf psychologischen Fakten; zusätzlich muss die vom Schmerz möglicherweise verursachte psycho-somatische Desorganisation berücksichtigt werden, die mit Schwierigkeiten der verbalen Kommunikation verbunden sein kann, was bei depressiven Personen häufig vorkommt. Last but not least ist es ebenso wichtig, die individuelle Geschichte mit ihren heiklen Punkten auf der Beziehungsebene auszuarbeiten, welche den Betroffenen in seine Position der Schwäche gegenüber seiner Umwelt gebracht hat (auch in Bezug auf das Immunsystem). Dies kann durch dysfunktionales Lernen geschehen sein oder dadurch, dass er sich Beziehungskompetenzen, gefühlsmässige, kognitive und körperliche Kompetenzen, die ihn in ein defensives bio-psychologisches Gleichgewicht versetzen, nicht angeeignet hat.

Aus diesem Blickwinkel kann eine Nervenentzündung bei einem depressiven Patienten als ein chronischer Schmerz angesehen werden. In der psychoanalytischen Perspektive kann der chronische Schmerz als eine dysfunktionale Bindung zum Objekt verstanden werden, welches sich nur durch eine schmerzhafte Verbindung zeigt und in einem nicht enden wollenden traumatischen Einbruch endet. Es ist deshalb sehr wichtig, die passive Haltung des Patienten sowie die interne Gewalt und ihre Verbindung mit den wiederholten frühen vorsprachlichen Beziehungen herauszuarbeiten, welche die Entwicklung einer Symbolsprache verhindert haben, die das körperlich und auf psychischer Ebene Erlebte so organisieren soll, dass er gegenüber wiederholten Traumata Distanz wahren kann. Das oft mit Schwierigkeiten verbundene In-Worte-Fassen hilft, den Patienten von den traumatischen Belastungen mittels neuen überlagerten Neueinschreibungen der Objektbeziehungen zu entlasten. Diese werden zusammen mit dem Therapeuten erarbeitet. Der durch die Nervenentzündung hervorgerufene tatsächliche Schmerz stellt den Teil des nicht nur in der Vorstellung vorhandenen Schmerzes dar; ich bin der Ansicht, dass dieser mittels einer parallel dazu durchgeführten Unterstützung behandelt werden muss, um Angst und Desorganisation zu vermindern.

Hinsichtlich kognitiv – verhaltenstherapeutischer Massnahmen ist es wichtig, die vom Schmerz und der Depression unvermeidlich verursachten kognitiv-behavioralen Verzerrungen zu restrukturieren, indem an ihre Stelle neue Gedanken gesetzt werden, welche den durch langandauerndes Leiden entstandenen Automatismen entgegenwirken. Negative und parasitäre Gedanken müssen identifiziert und neue Aktionsmuster auf Basis von täglichen Aufgaben eingeführt werden; dies könnte zusätzlich zur Verbesserung der chronischen Schmerzzustände und zu einem effizienteren Lernverhalten führen.

Solche Überlegungen führen uns unweigerlich an die Grenzen der Gesprächspsychotherapie, welche als zugleich notwendig und ungenügend erscheint; ich erachte die Behandlung solcher Patienten zusätzlich zur medizinischen Behandlung ohne Einsatz von komplementären psycho-körperlichen Behandlungsmethoden, welche direkt auf den Körper einwirken, als schwierig. Diese Therapien, bei welchen abwechslungsweise Gespräch und Körperarbeit mittels verschiedenartiger Techniken (Entspannung, Rollenspiele, Massagen, Gymnastik etc.) eingesetzt werden, scheinen mir bei Patienten mit Nervenentzündungen unbedingt indiziert. Leider sind diese Ansätze, zumindest in der Schweiz, nicht weit verbreitet und werden deshalb von der Grundversicherung nicht vergütet. Dies verhindert, dass sie als Zusatzbehandlung öfter eingesetzt werden.

Bibliographie

Buchheim, A., Viviani, R., Kessler, H., Kächele, H., Cierpka, M., Roth, G., George, C., Kernberg, O. F., Bruns, G., Taubner, S. (2012). Changes in Prefrontal-Limbic Function in Major Depression after 15 Months of Long-Term Psychotherapy, PLoS one.

Canli, T. (2014). Reconceptualizing major depressive disorder as an infectious disease, Biology of Mood & Anxiety Disorders, 4 :10.

Cohen, S., Janicki-Deverts, D., Doyle, W. J., Miller, G. E., Frank, E., Rabin, B. S., Turner R. B. (2011). Chronic stress, glucocorticoid receptor resistance, inflammation and disease risk, PNAS, 109 (16), 5995-5999.

Setiawan, E. Wilson A. A., Mizrahi, R., Rusjan, P. M., Miler, L., Rajkowska, G., Suridjan, I, Kennedy, J. L., Rekkas, P. V., Houle, S., Meyer, J. H. (2015). Role of translocator protein density, a marker of neuroinflammation, in the brain during major depressive episodes, JAMA Psychiatry, 72 (3) : 268-75.

Wager-Smith, K., Markou, A. (2011). Depression : A repair response to stress-induced neuronal microdamage that can grade into a chronic neuroinflammatory condition ? Neuroscience and Biobehavioral Reviews, 35 (2011), 742-764.

Dr. Liviu Poenaru