Alles Verhalten entsteht im Kontext

Theodor Itten

«Durch nichts macht man die Leute von sich abhängiger als durch die Unabhängigkeit, die man ihnen einredet.»

H. Schweppenhäuser1

 

Am Wegrand

In einer grösseren europäischen Metropole kniet sich die 25-jährige Ella auf die oberste Treppe, welche zur verschlossenen Kathedrale führt. Es ist nach 23 Uhr. Nach einer heftigen Auseinandersetzung mit ihrem Freund, hatte sie das Bedürfnis nach Ruhe und wollte im stillen heiligen Raum der Kathedrale beten. Da diese geschlossen war, entschied sie sich, vor dem Portal niederzuknien und ihr Gebet dort zu verrichten. Eine Polizei-Patrouille wird auf sie aufmerksam. Da Ella nach einer Stunde immer noch am Beten ist, wird sie von der Polizei weiter beobachtet. Als diese während ihrer dritten Kontrollrunde zum Portal rüber schaut, ist diese verheulte junge Frau immer noch da. Die besorgte Polizistin und ihr Fahrer parken, steigen die wenigen Treppenstufen zu Ella hoch und nehmen Kontakt mit ihr auf. Sie fragen sie, was sie hier tue. Beten, sagt diese leicht verstört, verwirrt von der Unterbrechung ihrer Versunkenheit. Wer sie sei? Ella. Und weiter? Keine Antwort. Wo sie wohne? Keine Antwort. Ella wollte weiterbeten. Na dann kommen sie mal mit, sagt die Polizistin in einem netten Ton. Sie heben Ella, sie unter ihren Achseln anfassend, hoch und begleiten sie zum Auto. Hintersitz wie üblich für angehaltene Personen. Sie fahren Ella zur psychiatrischen Klinik als Notfall. Dort wieder die Befragung zur Person und zur Aktivität vor der Kathedrale. Ella: Ich betete zum Ewigen. Ansonsten keine weiteren Antworten. Sie wird dabehalten für weitere Abklärungen am kommenden Tag.

Wäre die Kathedrale offen gewesen, hätte Ella drinnen beten können und niemand hätte, auch nach zwei Stunden Beten, daran gedacht, es wäre mental etwas mit ihr nicht in Ordnung. Vielleicht hätte eine Ordensschwester oder ein Priester ihr ein Nasentuch gereicht, ihren Arm auf die Schulter der Betenden gelegt. Was hat Gott mit DSM-5 zu tun? Warten wir ab.

Mit unserem diagnostischen Blick, der notwendig ist, kommen wir in den Bereich derjenigen Macht, die laut einem ehemaligen Zürcher Psychiater, Adolf Guggenbühl-Craig, eine Gefahr für Helferinnen und Helfer ist.2 Jede Gesellschaft hat ihre Pathologie und ihre Heilverfahren, die sie verdient. Um das Ritual des Gewinnens eines Durchblicks durchlaufen zu können, brauche ich, als Seelenkundler, das Erkennen der Symptome, die sich in deren Abweichung von der Norm zeigen. Mit Bateson gesagt, muss ich also den Unterschied, der den Unterschied macht, erkennen. Doch gilt erst die Wahrnehmung der Norm. Die Wissenschaft der Norm ist, in unseren drei Psy-Feldern, die Psychologie. Die Psychiatrie stellt meist fest, anhand vorgefertigter Kriterienkataloge, welche seelischen oder geistigen Krankheitswerte (nosos) erreicht sind. Wir Psychotherapeut*innen begleiten dann die Hilfesuchenden oder die Patient*innen auf ihrem Weg zur Genesung. Aber Obacht, bitte schön der Reihe nach. Erst die Symptome, welche uns den Weg zum psychosozialen Durchblick (Diagnose) verhelfen. Danach die Prognose und die Behandlungsempfehlung.

In London, wo ich vor 40 Jahren meine Ausbildung machte, war es beispielweise üblich, einem irischen Handwerker, der an Trübsinn und Schwermut litt (Depression wurde als Konzept meist noch in den Wetterberichten gebraucht), der vielmals durch zunehmendes Heimweh und den auszehrenden kapitalistischen Produktionsbedingen hervorgerufen wurde, ans Herz zu legen, baldmöglichst ein Schiff zurück zur Insel zu besteigen. Wenn er dann, am anderen Ufer angekommen, über die Landungsbrücke steigen wird, wäre er (damals meistens Arbeiter) von dieser seelischen Kränkung geheilt. Was wie ein Witz tönt, ist leider keiner. Jeder diagnostische Blick passiert im jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Somit ist eine Aufgabe der Psychotherapie die achtsame Veränderungsermöglichung und nicht die modulare Anpassung an die gegebenen sozialen und wirtschaftlichen Umstände, die immer mehr Menschen seelisch krank machen.

 

Dialektik der Diagnose bedeutet: Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.

Jede Erfahrung hat mindestens zwei Aspekte, wenn nicht mehr. Wenn es mir gut geht, kann das auch psychosomatisch sein. Oder? Genauso wie somato-psychische Leiden heute einen grossen Anteil am unverminderten Wachstum der seelischen Krankheiten oder psychischen Störungen haben. Viele menschliche Verhaltens- und Erlebnisweisen in unserer, uns vom eigentlichen Wesen des Menschen entfremdenden superkapitalistischen Gesellschaft, werden zunehmend nicht mehr als normal gesehen, sondern von Krankheitsmachern zu behandlungsbedürftigen Diagnosen umgewandelt. Die Politik der Erfahrung wird in ihrem Reichtum dadurch erschüttert, dass immer mehr neue und differenziertere psychologisch-psychiatrische Diagnosen entstanden sind. Das DSM-5 ist die fünfte und neueste Auflage des von der American Psychiatric Association (APA) herausgegebenen Klassifikationssystems «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders». Es handelt sich, laut psychopharmakologischer Propaganda, um einen diagnostischen Leitfaden in der Psychiatrie, welcher sich auf sogenannte wissenschaftliche Evidenzen abstützt. «Gut, dass sie heute schon gekommen sind», sagt der Arzt zur Patientin, «morgen wäre es von alleine weggegangen.»

Das DSM-I, erstmals veröffentlicht anno 1952 (meinem Geburtsjahr), war ein übersichtliches Büchlein von 65 Seiten. Danach kam, präzise zu den rebellischen 1968er Zeiten, die zweite Version heraus und hatte sich verdoppelt auf 134 Seiten. Kaum zu glauben, dass DSM-III sich im Jahr 1980 mit seinen 494 Seiten mehr als verdreifacht hat. Diese Version wurde erstmals ein Verkaufsschlager. Zusammen mit der später überarbeiteten Ausgabe, wurden mehr als eine Million Exemplare, vor allem an Psychiater*innen, verkauft. Wir gewöhnen uns unweigerlich an das kontinuierliche Wachstum der Diagnosen. 1994 kam dann DSM-IV bereits auf 886 Seiten und wurde 2000 in revidierter Fassung neu aufgelegt, mit 57 Seiten mehr Text. Die aktuelle, fünfte Version hat sage und schreibe 991 Seiten. Das ist, neben all den anderen, hier nicht erwähnten Aspekten, ein sicherer Ausdruck, dass der Psy-Gesundheitsmarkt ein immenser Wachstumsmarkt ist. 1952 mussten 106 Diagnosen gelernt werden. Seit 2013 sind 374 Diagnosen erkundbar. Jaja, mögen einige Leser*innen sich flüstern hören, wir gebrauchen ja mehr den 1992 abgeschlossenen ICD-10. Viele meiner Generation diagnostizierten noch mit dem schlanken ICD-9 von 1976. Für mich kommen diese diversen Diagnoseauswahlen manchmal daher wie Etikettensammlungen, aus denen ich etwas auslesen muss. Als meine Lehrjahre auf der Couch vonstattengingen, war es üblich, dass die oder der Psychoanalytiker*in erstmal, hauptsächlich, zwischen Neurosen und Psychosen unterschied. Bei mir gab es immer wieder Restneurosen, somit sind Sie informiert. Wir haben in der Lehranalyse gelernt, die eigenen Neurosen nicht nur zu erkennen und im Leben zu integrieren, sondern diese auch als positive Erfahrungsbilder zu benutzen. Im Zweifelsfalle nie gegen das Unbewusste zu handeln. Mir scheint trotzdem, wenn ich diesen kurzen numerischen Überblick der Diagnosefibel anschaue, dass der psychische Schatten der sogenannten wissenschaftlichen Psychiater*innen, sich unangenehm und peinlich, in einer megalomanen Form konstelliert. Wie die Seelenindustrie uns zu Patient*innen macht, hat Jörg Blech in seinen Büchern seit Die Krankheitserfinder (2003) und Die Psychofalle (2014) als kritischer Medizinjournalist und Spiegel-Autor genausten recherchiert. Blech ist einer der Mitschreiber*innen fürs kommende Psychotherapie-Wissenschaft-Heft (8. Jg., 1/2018), welches ich im nächsten Frühjahr als verantwortlicher Redaktor zum Thema »Politik der Diagnose« im Psychosozial Verlag herausgeben werde. Damit erhoffe ich mir, dass die Diskussion, auch im ASP, über unsern Gebrauch von Diagnoseschlüsseln und unsere diesbezügliche berufliche Anhängigkeit, wieder in Gang kommt. Es geht ja auch darum, was die Patient*innen in ihrer subjektiven Wahrnehmung uns selber zu sagen haben. Dazu gehört unsere Frage, was sie brauchen. Danach folgen wir gemeinsam den Möglichkeiten der Erfahrung.

Wie wir alle wissen, gab und gibt es eine rege wissenschaftliche Kritik am DSM, so auch an Nr. 5. Grosse Bedenken regten sich in der weltweiten Psy-Community über bestimmte normative Teile, einschliesslich der Senkung der diagnostischen (Hemm-)Schwellen von normalen menschlichen Verhaltensweisen. Die riskante Einführung von neuen Störungskategorien, welche seelisch anfälligere Bevölkerungsgruppen – im Kontext von Klasse, Bewusstsein, Konflikt und Bildung – zusätzlich zur wirtschaftlichen Ausbeute verstärkt und vorsätzlich als psychosozial «gestört» stigmatisieren könnten. Indem zum Menschsein gehörendes, normales menschliches Leiden – «life is hard for the soul»3 – in all seinen Variationen, plötzlich pathologisiert wird, kann für die Psychopharmaindustrie psychiatriedienlich sichergestellt werden, dass die Überbeanspruchung psychiatrischen Drogen weiter wächst. Bald leidet die Hälfte der Bevölkerung in unseren westlichen, superkapitalistischen Staaten an mindestens einer psychischen Störung. Die psychische Belastung in und am Arbeitsplatz nimmt zu und immer mehr Menschen werden krank am Job. Es ist die Realität unserer modernen voll computerisierten Dienstleistungsgesellschaft, zu deren Dienstleister unser Beruf auch gehört, dass unser alle Berufsleben immer anstrengender wird. Immer mehr ist nicht mehr gut genug. Erschöpfungsdepression nimmt weiter zu und fordert viele Opfer der 24-Stunden-Erreichbarkeit durch unsere Laptops, Smartphones und Swatch Uhren. Etwas geht hier kategorisch falsch mit uns allen.

 

Denken beeinflusst Stimmung und Stimmungen prägen Gedanken.

Durch all diese vergangenen 65 Jahre konnten die verschiedensten Forscher auf unserem

Psy-Gebiet nicht nachweisen, wie kausalzusammenhängende Modelle für jede grössere Form von psychischen Störungen, nicht nur theoretisch plausibel, sondern auch in der Wirklichkeit überzeugen können. Trotz modernster Hirnforschung sind wir nach wie vor weit entfernt, wie Generationen vor uns, dem Verständnis der ätiologischen Wurzeln der grossen psychiatrischen Erkrankungen, übereinstimmend näher gekommen zu sein.

Dank unserer Praxisstudie PAP-S und der Erfahrung der vielen verschiedenen Rater*innen im OPD-Ratingprozess konnte auf dem delikaten Gebiet der Diagnose ein einsichtiger Erfolg verbucht werden. Peter Müller-Locher hat im 4. Kapitel des PAP-S Buch Was wirkt in der Psychotherapie?4 einige sehr wertvolle und einleuchtende Erkenntnisse publiziert, wie die Strukturierung und die Beziehungsgestaltung im Diagnoseprozedere das Ergebnis beeinflusst. Wenn ich andere Menschen so behandle, wie ich von ihnen behandelt werden möchte, wären diese in meiner Position, dann ergibt sich eine sehr wahrscheinlich hohe humanistische Konstanz für beide Seiten. Als Müller-Locher seine Rater-Kolleg*innen fragte, was ihre wichtigen Erfahrungen über die Jahre der Studie waren (2007–2012), wurde neben der «aufwendigen Zusammenarbeit – eine Arbeit, die über die eigene Methode hinaus in neuen Begrifflichkeiten zu denken verlangte, um sich verständigen zu können» (ebd., S. 62) – der Gewinn grösserer Selbstbefähigung im Ratingprozess angegeben. Es freut mich, dass Müller-Locher als Schreiber fürs Heft «Politik der Diagnose» gewonnen werden konnte. Für unseren eigenen Berufsalltag sind diese Befunde der PAP-S-Diagnostiker von grosser Bedeutung.

Hinter meinen Zähnen ruht die Zunge. Hat nun DSM-5 etwas mit Gott zu tun? Ja, dem Gott Mammon. Erschütternd, oder nicht?

 

Theodor Itten, Psychotherapeut ASP

info@ittentheodor.ch

Anmerkungen

1 Schweppenhäuser, H. (1966): Verbotene Frucht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 108.

2 Vgl. Guggenbühl-Craig, A. (1971): Macht als Gefahr beim Helfer. Basel: Karger.

3 Eels – Novocaine For The Soul. https://www.youtube.com/watch?v=5qLZEajl10w (05.10.2017).

4 Vgl. Müller-Locher, P. (2016): Der OPD-Ratingprozess – Persönliche Erfahrungen und Einsichten. In A. von Wyl et al. (Hg.), Was wirkt in der Psychotherapie? (S. 51–63). Gießen: Psychosozial-Verlag.