Narben werden immer bleiben

Interview mit Dr. Julia Harsch, Schweizerisches Rotes Kreuz

Frau Harsch, Sie sind Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und ärztliche Leiterin des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) in Bern. Wie muss ich mir das Ambulatorium SRK vorstellen?

Wir sind ein kleines Team, aktuell bestehend aus zwei Ärztinnen, drei Fachpsychologinnen für Psychotherapie, einem Kinder- und Jugendlichentherapeut, fünf Sozialarbeiterinnen, drei Mitarbeiterinnen mit überwiegend administrativen Aufgaben und unserer Leiterin, die ebenfalls keinen therapeutischen Hintergrund hat. Wir sind eine spezialisierte Einrichtung unter dem Dach des SRK und arbeiten interdisziplinär. Historisch gesehen ist vielleicht interessant, dass wir die erste Einrichtung in der Schweiz waren, die auf die Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen und Folter- und Kriegsopfern spezialisiert waren. Einer durch das SRK in den 1990er Jahren in Auftrag gegebenen Studie zur Situation von Flüchtlingen in der Schweiz zufolge, hatte damals ein Viertel aller Flüchtlinge Erfahrungen von Folter oder Krieg erlebt, woraufhin unser Ambulatorium gegründet wurde.

 

Woher kommen die Leute, die Sie behandeln und wer sind sie?

Wir behandeln Frauen, Männer, Kinder, ja ganze Familien. Die Herkunftsländer haben sich seit den 90er Jahren deutlich verändert, wobei man sagen muss, dass aufgrund der langen Behandlungsdauer unserer Patientinnen und Patienten deren Verteilung in Bezug auf die Herkunftsländer nicht die aktuellen Trends der Flüchtlingsströme widerspiegeln. In den letzten ein, zwei Jahren kamen viele Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Eritrea. Zahlenmässig am häufigsten behandeln wir Kurdinnen und Kurden aus der Türkei, aber auch dem Irak oder Syrien. Teilweise sind sie schon seit Jahren in der Schweiz und in langjähriger Behandlung bei uns.

Wir behandeln anerkannte Flüchtlinge, erhalten aber auch viele Patientinnen und Patienten zugewiesen, die noch im Asylprozess sind. In den Asylzentren leben die Menschen in sehr engen Verhältnissen und mit der riesigen Unsicherheit, ob das Asylgesuch anerkannt wird oder nicht. Die damit verbundenen Belastungen führen häufig zur Dekompensation, sodass die Menschen psychisch auffällig und uns frühzeitig zugewiesen werden.

Wenn die Flüchtlinge an der ugandischen Grenze ankommen, werden sie zuerst in ein sogenanntes Registrierungscamp auf der Grenze zu Südsudan gebracht und von der ugandischen Regierung registriert. Rotkreuz-Mitarbeiter leisten einer Mutter mit ihren Kindern medizinische Hilfe.

 

Werden sie Ihnen hauptsächlich aus den Durchgangszentren zugewiesen?

Wir bestehen darauf, dass die Zuweisung durch den Hausarzt erfolgt, gerade weil wir ein kleines Ambulatorium sind und auch keinen Notfalldienst haben. Zuweisende sind also häufig Haus­ärztinnen und Hausärzte, die für die Versorgung eines Durchgangszentrums zuständig sind. Aber es gibt wie gesagt auch bereits anerkannte Flüchtlinge und Menschen, die seit Jahren in der Schweiz leben, die durch die Hausärzte zu uns geschickt werden. Angeregt wird eine Anmeldung bei uns oft durch andere Bezugspersonen der Betroffenen, beispielsweise Sozialarbeitende, die im Asylbereich arbeiten und unsere Einrichtung kennen.

 

Welches sind die häufigsten Beschwerden oder Störungen, die Sie antreffen – oder sind es gleich mehrere?

Die meisten unserer Patientinnen und Patienten haben in der Tat sowohl psychische Störungen als auch körperliche Beschwerden. Die häufigsten psychiatrischen Diagnosen sind posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen. An körperlichen Beschwerden zeigen sich am häufigsten chronische Schmerzen. Teilweise gibt es dafür eine somatische Ursache, als Folge der erlebten Folter zum Beispiel oder in Folge von Kriegsverletzungen. Teilweise sind es Schmerzstörungen, die kein fassbares somatisches Korrelat haben und mit der psychischen Belastung zusammenhängen.

 

Behandeln Sie auch Kinder oder minderjährige Flüchtlinge?

Seit fünf Jahren haben wir auch einen Bereich für Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie im Ambulatorium SRK, der jedoch bislang nur mit einem Therapeuten besetzt ist. Da die Nachfrage in diesem Bereich immer grösser wird, ist geplant, unser Angebot für diese Gruppe auszuweiten.

 

Psychische Probleme sind ja in vielen Kulturen tabuisiert. Wie gehen Sie damit um?

Das ist ein wichtiger Punkt, wobei ich selbst überrascht war, wie positiv unser Ambulatorium von den meisten Patientinnen und Patienten angenommen wird, insbesondere auch von den vielen männlichen Patienten. Es ist schon eine Besonderheit im Vergleich mit anderen psychiatrischen Einrichtungen, dass bei uns über die Hälfte der Patienten Männer sind. Ein wichtiger Faktor für die hohe Akzeptanz ist sicher, dass nicht das Psychiatrie-Label im Vordergrund steht, sondern das Logo des Roten Kreuzes, also eines Hilfswerks, bei dem das Leiden anerkannt wird. Trotzdem sind natürlich viele Symptome sehr schambesetzt und es braucht oft viele Sitzungen, bis die Patienten uns das ganze Ausmass ihrer Symptomatik mitteilen. Ein weiterer wichtiger Faktor für die hohe Akzeptanz dürfte sein, dass Sozialberatung bei uns einen grossen Stellenwert hat und jede Patientin und jeder Patient in Zusammenarbeit mit dem fallführenden Therapeuten eine Sozialarbeiterin oder einen Sozialarbeiter zur Seite gestellt bekommt. Das bedeutet, dass über längere Strecken der Therapie auch die Sozialarbeit im Vordergrund stehen kann, wobei die Betroffenen konkrete Hilfe bekommen, was den Alltag in der Schweiz angeht. Diese konkrete Unterstützung kann helfen, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und es den Patientinnen und Patienten erleichtern, sich auf die psychotherapeutische Behandlung einzulassen.

 

Man liest, dass viele Flüchtlinge nicht von zu Hause aus traumatisiert seien, sondern dass ihnen die schlimmsten Erlebnisse auf dem Fluchtweg begegnen. Gibt es «typische» Fluchtgeschichten?

Aus Ländern wie Eritrea oder auch Westafrika gibt es schon Fluchtgeschichten, die sich sehr ähneln. Bei langen Fluchtwegen geht es damit los, dass die Sahara passiert wird, meist mit Schleppern. Dabei nehmen die Menschen grosse Entbehrungen auf sich, machen existenziell bedrohliche Erfahrungen mit Durst und Hunger und werden häufig Zeugen des Todes von Mitreisenden. Die Flucht wird immer wieder unterbrochen, weil das Geld zur Weiterreise fehlt und auf verschiedenste Weise beschafft werden muss. Oft haben die Menschen schon eine Odyssee hinter sich, bis sie am Mittelmeer ankommen. In Libyen werden sie dann häufig Opfer von Inhaftierungen und Misshandlungen durch paramilitärische Organisationen oder Schlepper. Ein grosser Teil der weiblichen Flüchtlinge wird irgendwo auf dem Weg vergewaltigt oder muss sich prostituieren, um das Geld für die Weiterreise aufzutreiben.

Es gibt schon Geschichten, die man zu kennen glaubt, aber aufgrund des grossen individuellen Leides, das die Menschen vermitteln, gelingt es, jeden Flüchtling und seine Geschichte individuell, vor dem Hintergrund seiner Persönlichkeit, zu betrachten.

 

Haben traumatisierte Flüchtlinge überhaupt eine Chance, das Erlebte zu überwinden? Oft werden sie hier ja retraumatisiert, weil die Situation, die sie hier antreffen, nicht ihren Vorstellungen entspricht.

Narben werden sicher immer bleiben. Mit den Schwierigkeiten, auf welche die Geflüchteten im Ankunftsland treffen, sprechen Sie etwas an, was wir unter anderem versuchen mit dem Begriff «Sequenzielle Traumatisierung» zu beschreiben, ein traumatischer Prozess, der nicht abgeschlossen ist, wenn die Betroffenen hier ankommen, sondern der dann eigentlich weitergeht und im schlimmsten Fall durch die postmigratorischen Stressoren chronifiziert und aufrechterhalten wird. Da braucht es lange Therapien und – unabhängig von der Therapie – viel Zeit und Geduld, bis wieder eine ausreichende Lebensqualität erreicht werden kann.

 

Wenn diese Menschen eine geregelte Arbeit hätten oder hier besser in den Alltag integriert würden, wäre dies wohl eine grosse Hilfe.

Auf jeden Fall. Damit könnte man viel Unterstützung leisten, gerade auch aus finanzieller Sicht. Bei den allermeisten Flüchtlingen, die noch im Asylprozess oder vorläufig aufgenommen sind, ist der Wunsch riesig, zu arbeiten und Geld zu verdienen, häufig auch, um damit Angehörige zu unterstützen, die noch im Herkunftsland sind, und mehr Unabhängigkeit zu erreichen. Ich denke, da könnte man sehr viel erreichen, auch was die soziale Integration oder das Lernen der Sprache angeht.

 

Sie haben gesagt, dass auch Familien zu Ihnen kommen. Wie muss man sich das vorstellen?

Teilweise ist es zufällig, teilweise Mund-zuMund-Propaganda innerhalb der Familie eines Patienten. Bis jetzt ist es noch nicht die Regel, dass wir nach einem systemischen Ansatz eine ganze Familie behandeln. Oft ist es so, dass wir traumatisierte Eltern behandeln, wobei dann auch die Kinder zum Thema werden, die Sorgen der Eltern und/oder der Therapeutinnen und Therapeuten um die Kinder. Wenn das Gesamtbild der Symptomatik deutlich wird, stellt man sich die Frage: Wenn die Patienten so beeinträchtigt sind, wie können sie mit kleinen Kindern umgehen? Da werden wir teilweise auch aktiv. Wenn es Hinweise gibt auf Symptome der Kinder, bieten wir zumindest eine Abklärung durch unseren Kinder- und Jugendlichen-Therapeuten an und versuchen dann entweder eine Behandlung bei uns oder extern zu vermitteln. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Eltern von Kindern, die bei uns in Behandlung sind.

 

Werden auch Therapien unterbrochen von Ihren Patientinnen und Patienten?

Abbrüche gibt es erstaunlich wenig im Vergleich zu öffentlichen Institutionen. Es gibt sicherlich immer wieder auch Pausen sowie Patientinnen und Patienten, die aus Vermeidung oder aufgrund von Konzentrationsstörungen und Vergesslichkeit Therapien verpassen oder Schwierigkeiten haben, die Anreise auf sich zu nehmen. Wenn das Vertrauensverhältnis einmal da ist, melden sie sich aber meist auch wieder. Es ist schon eine besondere Erfahrung, die die Patientinnen und Patienten hier machen können, von einem multiprofessionellen Team unterstützt zu werden. Ein wichtiger Punkt sind auch die Dolmetscher.

 

Das ist ein interessanter Punkt. Da ist ja noch eine Drittperson dabei. Ist das kein Problem?

Am Anfang ist es ungewohnt, das muss man schon sagen, und es müssen bei der Zusammenarbeit bestimmte Regeln beachtet werden, auf die wir Wert legen. Aber Psychotherapie ist schliesslich ein sprachgebundenes Verfahren und es geht einfach nicht ohne die Möglichkeit, sich sprachlich zu verständigen. Für viele unserer Patientinnen und Patienten erleichtert gerade die Anwesenheit einer Drittperson, die mit der eigenen Kultur vertraut ist, sich zu öffnen. Die interkulturellen Dolmetschenden, mit denen wir zusammenarbeiten, leisten mehr als die reine Übersetzung des Gesprochenen. Sie können den Therapeutinnen und Therapeuten und Patientinnen und Patienten auch helfen, kulturelle Besonderheiten und Unterschiede besser zu verstehen.

 

Haben Sie Schwierigkeiten, solche Übersetzer zu finden? Es ist ja doch ein Spezialgebiet, das eine besondere Sensibilität voraussetzt.

Wir legen Wert darauf, dass alle Übersetzende als interkulturelle Dolmetschende ausgebildet sind und ein Zertifikat vorweisen. Für bestimmte Sprachen ist es nicht einfach, Dolmetschende mit der entsprechenden Qualifikation zu finden. So hatten wir in der letzten Zeit zum Beispiel Schwierigkeiten, Dolmetschende für Tigrinya, einer der Sprachen, die in Eritrea gesprochen wird, zu finden. Da gab es einen hohen Bedarf. Wir mussten Kompromisse eingehen, was die Ausbildung betrifft. Das ist schon nicht immer einfach.

 

Wie ist es mit der Genderfrage, wenn zum Beispiel ein Mann von einer Frau oder umgekehrt behandelt wird?

Das ist bei uns erstaunlicherweise eigentlich kein grosses Problem, vielleicht weil wir uns viel Zeit nehmen, unsere Arbeitsweise zu erläutern und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Auch die Anwesenheit der Dolmetscher kann hier wiederum hilfreich sein. In Einzelfällen kann es schon Probleme geben, generell aber nicht.

 

Wird Ihre Arbeit von den Behörden geschätzt oder sogar unterstützt?

Was die finanzielle Seite angeht, werden wir zum grossen Teil von der öffentlichen Hand finanziert. Wichtige Unterstützung erhalten wir zum Beispiel vom Staatssekretariat für Migration (SEM). Auch gibt es eine gute Zusammenarbeit mit den Sozialdiensten, die uns als Ansprechpartner schätzen.

 

Was sind Ihre gegenwärtigen Perspektiven?

Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir versuchen, unser Angebot einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, weil der Bedarf immens ist. Wir sind dabei zu überprüfen, ob wir niederschwellige Angebote ausbauen können mit hauptsächlich psycho-edukativem Charakter, womit wir eine grössere Zahl an Patientinnen und Patienten erreichen könnten. Auch wird unser Sozialarbeit-Team in diesem Jahr erstmals ein Gruppenangebot mit informativem Charakter starten. Besprochen werden vor allem alltagsrelevante Themen, die das Ankommen und Leben in der Schweiz betreffen. Da bin ich sehr gespannt, wie sich das bewährt.

 

Frau Harsch, vielen Dank für dieses aufschlussreiche Gespräch.

 

Das Interview führte Marianne Roth.