Replik zum Artikel «Alles Verhalten entsteht im Kontext» von Theodor Itten

(in: à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 6, 2017)

Gabriele Isele

Danke für den anschaulichen und engagierten Artikel, der vieles, was wir täglich beobachten können, prononciert hervorhebt.

Verhaltensweisen und Störungen bilden sich auf eine spezifische Weise innerhalb eines sozialen und kulturellen Kontextes aus und werden innerhalb dieses Kontextes wahrgenommen bzw. diagnostiziert. Das erste Beispiel von der jungen Frau auf den Kirchenstufen illustriert das aufs Schönste.

Irritiert hat mich dann aber der Verweis auf «Entfremdung vom eigentlichen Wesen des Menschen» («Viele menschliche Verhaltens- und Erlebnisweisen in unserer, uns vom eigentlichen Wesen des Menschen entfremdenden superkapitalistischen Gesellschaft, werden zunehmend nicht mehr als normal gesehen, sondern von Krankheitsmachern zu behandlungsbedürftigen Diagnosen umgewandelt»).

Auch wenn es nicht intendiert sein mag, taucht hier die Gefahr auf, in einem Kurzschluss gesellschaftliche Verhältnisse als kausale Erklärung für Krankheiten heranzuziehen. Das zweite Beispiel des irischen Handwerkers legt das ebenfalls nahe. Vielleicht sind aber die Umgebungsbedingungen auf der heimatlichen Insel für ihn nur bessere Voraussetzungen, um seine Depression zu heilen – wodurch auch immer sie entstanden sein mag.

In der Systemtheorie betrachtet man Entwicklung und Veränderung als komplexe rückgekoppelte Prozesse selbstorganisierter Strukturen, die zwar Umgebungsbedingungen aufgreifen, aber nicht in einem linearen Ursache-Wirkungs-Verhältnis mit ihnen stehen.

Der Entfremdungs-Begriff ist meiner Ansicht nach hinsichtlich seines Kontextes kritisch zu befragen, schwingt doch implizit eine essentialistische Antwort mit. Was genau ist denn das «eigentliche Wesen» des Menschen? Und wovon genau entfremdet er sich? Und auf welche Weise können Entfremdungsprozesse psychische Krankheit bedingen?

Entfremdung kann zum einen deskriptiv gebraucht werden, ein Phänomen beschreibend, das einen Leidenszustand charakterisiert (jemand fühlt sich fremd in einer Situation, in seinem Leben, Körper usw.). Mit Entfremdung kann aber auch versucht werden, (psychische) Krankheit kausal zu erklären im Sinne einer Entfremdung von einer als allgemeingültig angenommenen «Natur» des Menschen. Solche Annahmen sind aber ihrerseits historisch geprägt. Im Sinne Rousseaus bedeutet Entfremdung den Bruch mit der ursprünglichen unmittelbaren Verbindung mit der Natur, im Sinne Marx’ ist sie das Resultat kapitalistischer Produktionsprozesse, im Sinne Schellings das Ergebnis eines Abfalls der Seele vom Absoluten.

Ende des 19. Jahrhunderts gewann die Degenerationstheorie des französischen Psychiaters Bénédict Augustin Morel erheblichen Einfluss auf die Wissenschaft. Er sah die Ursache für krankhafte Abweichungen im biblischen Sündenfall.

In enger Verbindung mit dem Gedanken der Degeneration standen auch Vererbungslehre, Eugenik und Rassentheorien. Im Nationalsozialismus schließlich diente die Vorstellung von «Entartung» zur Legitimation von Zwangssterilisierung und Euthanasie.

Individuelles Leiden ist jedoch nicht direkt aus bestimmten gesellschaftlichen Zuständen ableitbar. Psychische Erkrankungen sind nicht ausschließlich Folge einzelner gesellschaftlich bedingter Entfremdungsprozesse. Menschen können auch unter bestmöglichen sozialen Bedingungen erkranken. Entfremdung ist immer nur im Hinblick auf die im jeweiligen Moment artikulierbaren Verwirklichungsmöglichkeiten zu betrachten: als Seinsweise des Menschen, die durch tiefgreifende Beschränkungen der individuell oder sozial derzeit möglichen Lebensentwürfe gekennzeichnet ist (vgl. Heinz, A., 2014. Der Begriff der psychischen Krankheit. Berlin: Suhrkamp, S. 73ff.).

Gabriele Isele, geb. 1948, Diplomsoziologin, Heilpraktikerin, european certificate for psychotherapy (ECP), Ausbilderin für personzentrierte Beratung in der GwG, freiberuflich tätig in eigener Praxis, freie Dozententätigkeit, Mitglied im Ethikrat der GwG

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