Buchbesprechung

Fischer, Jeannette (2018):
Psychoanalytikerin trifft Marina Abramović – Künstlerin trifft Jeannette Fischer
Zürich: Scheidegger & Spiess, 176 Seiten, 19,00 Euro, 22,90 Franken

https://doi.org/10.30820/8245.16

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Marina Abramović ist eine weltbekannte Performance-Künstlerin und lebt in New York. Jeannette Fischer ist eine Psychoanalytikerin aus Zürich, die das Schaffen der Künstlerin verfolgte. 1998 lernten sie sich in Bern anlässlich der Performance «Artist Body – Public Body» kennen, woraus sich eine Freundschaft entwickelte. Die beiden verbrachten 2015 vier Tage im Haus der Künstlerin, um miteinander frei assoziierend über das künstlerische Schaffen von Marina Abramović und was dieses mit ihrem Seelenleben zu tun hat, zu reden. Aus den Notizen dieser Gespräche ist dieses Buch entstanden, so gestaltet, dass es selbst als kleines Kunstwerk daherkommt. Auf der Vorderseite des Umschlages steht der Titel «Psychoanalytikerin trifft Marina Abramović» auf der Rückseite «Künstlerin trifft Jeannette Fischer».

Die Gespräche drehen sich hauptsächlich um vier Performances:

 

Die Texte sind so gegliedert, dass ein Eindruck der Performances entsteht (mit Bildern), die Biografie der Künstlerin deutlich wird und Zusammenhänge zwischen biografischen Ereignissen und Performances herausgearbeitet werden. Textstellen sind markiert mit «JF» oder «MA», je nachdem, wer zu Wort kommt. In fünf Kapiteln werden fünf Grundthemen beschrieben, die sich durch das Werk von Marina Abramović ziehen: «Der Schmerz gibt der Angst ein Gefühl», «Seit die Erde rund ist, fehlt der Abgrund», «Ohnmacht kennt keine Grenzen», «Auch an der Ablehnung lehnt sich’s an», «Honig ums Maul macht nicht satt».

Das Interesse der beiden am Buch war gegenseitig.

MA: «Aus meiner Sicht machst Du ein Buch für mich, um mein Seelenleben zu ergründen. Da ist etwas, das ich besser verstehen möchte. Erkläre mir die Verbindung zwischen meiner Arbeit und meinem Leben.»

JF: «Sie performt das, was ich mit der Psychoanalyse erforsche – schoss es mir durch den Kopf – ich war begeistert und rief sie sofort an.»

Marina Abramović wurde von beiden Elternteilen psychischer Gewalt ausgesetzt und in diesem Sinne schwer missbraucht. Gewalt, die keine Alternative zulässt. Das hinterlässt Spuren: Sie weiss nicht, ob sie ein Recht auf Leben hat oder nicht, sie ist voller Angst und deckt diese mit Schmerz zu. Ihr Leben steht im Zeichen des Bemühens, nicht unterzugehen, gegen den Tod zu schwimmen (sie wurde von ihrem Vater als Kind mitten im See aus dem Boot ausgesetzt, um schwimmen zu lernen: entweder sie schafft es, ans Ufer zurückzuschwimmen, oder sie ertrinkt). In ihren Performances reinszeniert sie die Dramen ihrer Kindheit, was ein Weg ist, ihren Dilemmata einen Ausdruck zu geben und einen Weg zum (Über-)Leben zu finden. Kunst als Mittel zum Überleben.

Untitled zeigt das Dilemma in ihrer Beziehung zur Mutter: Entweder sie trägt die Kleider, die die Mutter ihr gab (und gibt damit ihre Autonomie auf), oder sie hat kein Recht auf Leben. Vorgesehen war, dass sie eine Pistole aus der Rocktasche holen, mit der anderen Hand eine Kugel nehmen, die Waffe laden und wie beim Russischen Roulette abdrücken würde. Das Stück hätte zwei mögliche Ausgänge gehabt, wurde aber nie aufgeführt.

In Rhythm 0 macht sie sich über sechs Stunden zum Objekt des Publikums, lässt sich anmalen, entkleiden, es liegen gar eine geladene Pistole und ein Messer bereit, mit denen man sie töten könnte – wofür sie selbst die Verantwortung übernehmen würde. Eine Inszenierung der Ohnmacht mit Todesangst. «Ich gehe so weit, dass es weh tut, dass ich nichts mehr spüre.»

In der Performance The Artist is present spielen einerseits andere KünstlerInnen im Sinne einer Retrospektive frühere Performances von MA nach, parallel dazu sitzt die Künstlerin selbst 90 Tage lang sechs Stunden bewegungslos auf einem Stuhl. Vis à vis können ZuschauerInnen Platz nehmen. Sie blickt dem Gegenüber in die Augen und richtet ihre ganze Aufmerksamkeit auf die andere Person, weg von sich selbst. Im Nachhinein nennt sie diese Performance Mission Impossible.

In Incision inszeniert sie die Macht der Gewalt. Ihr Partner ist nackt auf der Bühne und steht dem Publikum zugewandt, zurückgehalten durch ein Gummiband. MA steht angekleidet parallel zu ihm und tut nichts. Ihr Nichtstun weckt im Publikum Aggression, jemand kommt auf die Bühne und wirft sie um. Sie wird Opfer der Gewalt, die sie durch ihr Nichtstun provoziert hat: unschuldiges Opfer.

Die Themen «kein Recht auf Leben», «Verantwortung tragen für alle anderen und sich selbst dabei total aufgeben müssen», «Angst und Schmerz als Copingstrategie gegen die Angst», «Ambivalenz, ob man so überhaupt leben will/kann oder nicht», kennen wir PsychotherapeutInnen aus unserer Praxis in vielfältiger Weise. Dieses Büchlein bringt uns einerseits das Seelische, das hinter dem Schaffen dieser äusserst erfolgreichen Künstlerin steht, nahe, andererseits liest sich das Buch wie eine Anschauung für

vieles, was wir auch aus der Arbeit mit unseren eigenen PatientInnen kennen.

Es gelingt Jeannette Fischer, ein sehr differenziertes Portrait der Person und Künstlerin Marina Abramović zu zeichnen und psychische Wirk­mechanismen als Folge traumatischer Ge­walt­erfahrung und Ablehnungserfahrungen sicht­bar zu machen. Ich empfehle es sehr zur Lektüre.

 

Peter Schulthess