Spiritualität – Schamanismus – Psychotherapie

Esther Bulang

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2019-1-19

«Ein spiritueller Weg, der nicht in den Alltag führt, ist ein Irrweg.»

Willigis Jäger

Mit diesem Artikel möchte ich einen weiteren Beitrag in die Diskussion zum Thema «Spiritualität in der Psychotherapie» einbringen, das von Peter Schulthess in der à jour! 1/2015 begonnen und mit Leserbriefen und Beiträgen von Thomas Lempert (2/2015) und David Boadella sowie Doris Signer-Brandau (1/2016) weitergeführt wurde.

Spiritualität ist ein sehr umfassender Begriff. Religion, Schamanismus, Buddhismus als Philosophie und neu die sogenannte Naturspiritualität sind einzelne Ausformungen darin. Das Wort Spiritualität, abgeleitet vom lateinischen spiritus (Luft, Hauch, Atem, Atmen, Seele, Geist, Begeisterung, Sinn), ist wesentlich tiefer in seiner Bedeutung. Prinzipiell halte ich Spiritualität für einen Grundbestandteil der menschlichen Existenz und Heilung erfolgt nach meiner Ansicht immer auf der körperlichen, seelischen und spirituellen Ebene. Vermutlich ist der Schamanismus die älteste menschliche Heilmethode, die auf der Körper-, Verstandes- und Geistesebene wirkt und Bewusstsein als Mittel nutzt. Die WHO hat bereits 1979 Schamanismus als ursprüngliche traditionelle medizinische und therapeutische Behandlungsmethode offiziell anerkannt. In Psychiatrists and Traditional Healers. Unwitting Partners in Global Mental Health (2009), herausgegeben von der World Psychiatric Association, werden diese Methoden beschrieben und anerkannt. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde DGPPN bot auf ihrem Kongress Ende November letzten Jahres in Berlin wiederholt einen Workshop an, der von dem grönländischen Schamanen Angaangaq Angakkorsuaq, einem der letzten indigenen Schamanen, der noch in der alten Tradition seiner Heimat Grönland aufgewachsen ist, gehalten wurde.

Schamanismus schlägt eine Brücke zwischen der physischen und der geistigen Welt. Sein komplexes Wesen wurde von EthnologInnen, AnthropologInnen, ReligionswissenschaftlerInnen studiert und beschrieben. Die Sozialisation mit ihren verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Ausprägungen in der zivilisierten Gesellschaft hat ihn an den Rand seines Daseins gebracht, teilweise sogar vernichtet, pathologisiert, verteufelt. Menschen begegnen ihm mit Angst, Ablehnung, Abwertung, aber auch mit Neugier, Respekt, Wertschätzung und Dankbarkeit. Denn die grundlegende Aufgabe eines Schamanen, einer Schamanin, ist es zu heilen. Für ihre Gemeinschaft übernahmen sie Arbeiten und Aufgaben, die heute PsychotherapeutInnen, ÄrztInnen, PriesterInnen, LehrerInnen und WissenschaftlerInnen übernehmen. Schamanismus ist die Urform des Heilens, der Philosophie, Naturwissenschaft, Religion. In den späteren Weltreligionen finden wir einen Teil, den Schamanismus ausmacht, unter anderem in der Mystik. Im tibetischen Buddhismus wurde er mit der schamanischen Bön-Tradition direkt integriert. Seine Heiligkeit der Dalai Lama nannte einmal die Bön-Tradition die fünfte spirituelle Schule Tibets.

Erste Zeugnisse des Schamanismus sind vor etwa 30 000 Jahren zu finden. Im Schamanismus drückt sich das Urbedürfnis des Menschseins nach Leben, Sinn und Verbundenheit aus. Entsprechend den Veränderungen in den gesellschaftlichen Strukturen über die Jahrtausende und Jahrhunderte änderte sich die Form des Schamanismus, auch bezeichnet mit Traditionellem Schamanismus und Neo-Schamanismus. Allen Formen ist eines gemeinsam: der Heilauftrag (ohne Heilversprechen zu geben) ist zentral. Die Heilarbeit in der schamanischen Welt beinhaltet verschiedene Welten und Ebenen der Realität und die Existenz jenseitiger Mächte, sogenannte Geistmächte bzw. Geister (spirits). Schamanismus repräsentiert eine Urform der Spiritualität. Er ist darauf ausgerichtet, das Leben des Einzelnen, der Gemeinschaft, der Gesellschaft, der Natur, im Gleichgewicht zu halten. Im Gleichgewicht befinden wir uns, wenn wir die Non-Dualität anerkennen und leben. Dies bedeutet auch, das Prinzip des «Sowohl-als-auch» grundlegend dem Denken und Handeln zugrunde zu legen und damit aus dem Dualismus unserer westlichen Kultur und dem damit verbundenen «Entweder-oder» hinauszuwachsen. Die Welt ist komplex und ihre Probleme lassen sich nicht durch einfache duale Schemata lösen, auch wenn diese Schemata schnelles Denken ermöglichen.

Der Schamanismus entstammt einer Zeit und Gesellschaftsstruktur, die Verbundenheit als Grundprinzip des Daseins pflegte. Sie war und ist Bestandteil indigener Bevölkerungsgruppen und Völker. Wie Andreas Weber in seinem Buch Indigenialiät (2018, S. 14) unter dem Punkt Verbundenheit schreibt: «Für die Indigenen existiert kein Dualismus.» Daraus leiten sich ganz andere Handlungsprinzipien ab als wir sie heutzutage und viel zu lange schon leben. Darin ist bereits eine Ethik enthalten, die «auf das adäquate Handeln für eine Gemeinschaft, das allen zugutekommt» ausgerichtet ist (ebd., S. 15). Im Buddhismus entspricht diese grundlegende Haltung dem Prinzip des Mitgefühls.

Mitgefühl, das auf Empathie beruht, drückt sich auf den drei grundlegenden Ebenen aus: Mitgefühl im Denken, Mitgefühl auf der Gefühlsebene, Mitgefühl im Handeln. Und grundlegend könnte man sagen, mit dem Mangel an Empathie und Mitgefühl zu uns selbst mangelt es uns auch an Verbindung zu uns selbst und zur Welt um uns. Wir fühlen und anerkennen nicht mehr, was uns im Leben wirklich dient und nützlich für alle ist. Wir verlieren diese grundlegende Verbundenheit zu uns selbst und allem um uns herum zunehmend, die Welt um uns wird kognitiv rational und abstrakt. Wir sehen und fühlen nicht mehr, dass wir das Wasser, die Erde, die Pflanzen, alles um uns herum selbst sind.

Stattdessen haben wir uns insbesondere in der westlichen Weltsicht mit der Arroganz des westlichen Denkens zur höchsten Stufe des Seins erhoben und schreiben eine Weltsicht vor, die wiederum vorschreibt, was wir von der Welt kennen. Mit diesem exklusiven Narzissmus schliessen wir uns schliesslich aus dem Leben selbst aus, indem wir Bedingungen schaffen, die zu unserem Untergang führen. Schamanismus in der heutigen Zeit bedeutet also auch, sich diesen zunehmend die Menschheit bedrohenden globalen Problemen zu widmen und den äusseren Klimawandel mit der Forderung nach einem inneren Klimawandel bei jedem einzelnen von uns zu verbinden (vgl. Angaangaq, 2014).

Den Weg dorthin drückt Angaangaq so aus: Die Aufgabe des Schamanen ist es, die Zeremonien zurückzubringen. Um Zeremonien feiern zu können, muss man seinen Geist und sein Herz öffnen, zuallererst für sich selbst, und da Schamanismus in der Verbindung zu allem lebt, auch für eine Aufgabe in Verbindung zu unserer Welt, dem Anderen. Im Schamanismus ist kein Platz für ein Ego, es muss stark sein durch eine starke Liebe zu sich selbst – aber dann muss man davon loslassen können.

Auch der Buddhismus lehrt dieses Prinzip. Durch das Feiern von Zeremonien findet der Mensch zu sich selbst, denn er muss fühlen können, was er zelebriert. Er muss den für sich und die Zeremonie innewohnenden Sinn fühlen und begreifen, sonst wird die Handlung zu einem Ritual, dessen Spirit/Geist gestorben ist. Angaangaq benutzt die Unterscheidung zwischen Zeremonie und Ritual, um dies deutlich zu machen. Wenn der Geist einer Zeremonie stirbt, wird die zuvor zeremonielle Handlung zur Routine. Die Welt ist voller Routine, sodass bei vielen Menschen zum Beispiel durch Zeit- und Effizienzdruck durch die Ökonomisierung, durch schier unendliches rationales Denken im Alltag und Beruf, durch Informationsflut und Reizüberflutung, letztlich durch Ignoranz im Alltag der Geist verloren geht, der uns mit uns selbst und allem um uns verbindet. Es geht darum, sich von sich selbst berühren zu lassen und damit die Welt zu berühren. Eine Zeremonie zu feiern bedeutet Hingabe in tiefer Verbundenheit und Sinnhaftigkeit zu praktizieren. Was daraus entsteht sind Gefühle von Liebe, Dankbarkeit und Mitgefühl. Angaangaq sagt: «Das Leben ist eine Zeremonie in sich selbst – wert, mit einer Zeremonie gefeiert zu werden» (ebd., S. 33).

Schamanische Praktiken beinhalten unter anderem das Arbeiten mit Klang (Trommel), Gesang, Tanz, Trance, Rauch, Kraftgegenständen, Kräutern, Verbindung zu den Ahnen, die Schwitzhüttenzeremonie, energetische Arbeit. Schamanismus bringt wieder eine Philosophie des Lebens zurück, die auf den Weisheiten indigener Völker beruhen. Dazu gehört auch das Leben in Jahreszeiten – anzuerkennen, dass es wichtig ist, zum Beispiel eine Zeit für Ernte zu haben und mit Dankbarkeit zu feiern, Zeit für Ruhe zum Sammeln von Kräften und Konsolidierung zu haben, auch in der Psychotherapie. Ein weiterer Punkt ist, alte Menschen mit ihrem Wissen und ihrer Weisheit zu ehren, ihnen einen besonderen Platz in der Gesellschaft einzuräumen, sprich die Kultur der Ältesten würdigen. Nach einem indigenen Sprichwort ist ein Dorf ohne Älteste wie ein Baum ohne Wurzeln. Auch universelle Prinzipien wie Verbundenheit, Teilhabe, Geben und Schenken, Gerechtigkeit, radikale Demokratie, Nachhaltigkeit, Lust und Leidenschaftlichkeit verbunden mit Liebe und Sexualität gehören dazu – Andreas Weber (2014) spricht von einer erotischen Ökologie.

Die Lehre des Schamanismus – verbunden mit der indigenen Kultur – bedeutet auch, etwas Grösseres als sich selbst anzuerkennen, was im Wunder der Schöpfung geborgen liegt, zu verstehen, dass wir mit allem um uns herum auf einer tieferen Ebene verbunden sind, nur Gast auf dieser Erde sind, diesem grossen Wunder des Lebens mit Demut und Hingabe zu begegnen und mit Liebe und Mitgefühl Fürsorge zu tragen für uns selbst und das Andere. Zu der Kultivierung und Pflege dieser Werte gehört ebenso Glauben zu können, ganz allgemein, und speziell an die Magie der Wunder und die Kraft des Gebets. Wenn man alte Menschen fragt, wie sie die furchtbaren Erlebnisse ihrer Zeit, des Krieges, überstanden haben, dann erzählen sie, sie haben geglaubt und sich dem, ohne es «Praktizieren» zu nennen, wie selbstverständlich zu bestimmten Tageszeiten hingegeben, einen Platz eingeräumt und sich in ihrem Glauben «verbunden» vertieft.

Zu begreifen, dass alles mit allem verbunden und in Wechselwirkung ist, beinhaltet, dass wir die Verantwortung dafür mit unserem Handeln tragen. In diesem Sinne lässt sich Nachhaltigkeit gestalten, auch in der Psychotherapie. Studien belegen, dass Spiritualität ein mächtiger Wirkfaktor in der individuellen Psychotherapie darstellt, eine sehr wichtige Ressource ist und die Resilienz erhöht, insbesondere bei schweren Erkrankungen und dem Umgang mit dem Tod sowie bei Traumatisierungen. Persönlich bin ich der Überzeugung, dass die Fähigkeit zur Spiritualität eine genuine Eigenschaft aller Menschen ist, im Zusammenhang mit der Existenz einer vom Körper unabhängigen Seele. Von wissenschaftlicher Seite wird vermutet, dass Spiritualität «in der Evolution aufgrund von Reifungsprozessen im Gehirn möglich geworden» sei (Bucher, 2014, S. 26).

Für die Psychotherapie bedeutet das für mich – mit einer «nicht-wissenden» Grundhaltung, die die phänomenale Welt der PatientInnen anerkennt und als egalitärer Stil in der enaktiven Traumatherapie nach Nijenhuis (2017) bezeichnet wird, PatientInnen gegenüberzutreten (eine Deutungsmacht existiert dort nicht), sie sich in der Ganzheit ihres Seins willkommen und angenommen fühlen zu lassen, Spiritualität wie «Nicht-Spiritualität» gleichermassen zu akzeptieren und nicht zu «missionieren».

Angaangaq spricht davon, das Eis in den Herzen der Menschen zu schmelzen. Denn nur wenn uns dies gelingt, hat der Mensch die Chance, sich zu ändern und sein Wissen weise anzuwenden (Quarch, 2014). Es bedeutet auch, sich in der Psychotherapie nicht den ökonomischen Zwängen unterzuordnen und Psychotherapie als eine eigene Wissenschaft zu begreifen, in der sich Weisheit und Methode vereinigen und mit dem Wissen gesamtgesellschaftlich wirken.

Literatur

Angaangaq, A. & Babel, A. (2014). Schamanische Weisheit. Für ein glückliches Leben. 21 kleine Zeremonien für den Alltag. München: Gräfe & Unzer.

Boadella, D. (2016). Grenzen zum Transpersonalen. Eine Erwiderung an Peter Schulthess. à jour!, 1, 21–24.

Bucher, A.A. (2014). Psychologie der Spiritualität. Weinheim: Beltz.

Henke, A. (2019). «Naturspiritualität ist im Begriff zu einer neuen Weltreligion zu werden». Der Biologe und Philosoph Andreas Weber über magisches Denken und den Sprung über den eigenen Tellerrand. In National Geographic. Geschichte und Kultur, 19. Februar, online.

Lempert, T. (2015). Psychotherapie und Spiritualiät: Wenn’s passt. à jour!, 2, 26–29.

Marx, S. (2010). Schamanismus praktisch. Wie Sie aus der inneren Weisheit alter Kulturen schöpfen. Kirchzarten/F.: VAK.

Müller, K.E. (2006). Schamanismus. Heiler, Geister, Rituale. München: C.H. Beck.

Nijenhuis, E.R.S. (2017). The trinity of trauma: ignorance, fragility, and control. Enactive trauma therapy.Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Quarch, C. (Hrsg.). (2014). Angaangaq – der Schamane aus Grönland. Schmelzt das Eis in euren Herzen! Aufruf zu einem geistigen Klimawandel. München: Kösel.

Schulthess, P. (2015). Psychotherapie gehört abgegrenzt von der Transpersonalen Psychologie und Esoterik. à jour!, 1, 23–26.

Signer-Brandau, D. (2016). Spiritualität in der Psychotherapie macht Sinn. à jour!, 1, 25–28.

Lobsang, T. (2014). Lu Jong. Tibetan Healing Yoga. Handbuch für Lu Jong Lehrer. Wien: Nangten Menlang International.

Weber, A. (2014). Lebendigkeit. Eine erotische Ökologie. München: Kösel.

Weber, A. (2018). Indigenialität. Berlin: Nicolai Publishing & Intelligence.


Esther Bulang ist Psychotherapeutin der ASP und Fachärztin für Augenheilkunde sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Sie ist Meditationslehrerin (Buddhistische Psychologie und Selbsterfahrung) und absolvierte Trainings mit den indigenen Schamanen Angaangaq Angakkorsuaq und Hiah Park.