Armin Baumann
https://doi.org/10.30820/2504-5199-2019-1-28
Um es vorwegzunehmen: Die Mitwirkung der Psychotherapie in der Erfassung und Beurteilung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit der in der Invalidenversicherung (IV) Versicherten ist marginal und in hohem Masse von Ausgrenzung gekennzeichnet.
Die «Nichtbeachtung» ist bereits in der Ausformulierung des Sozialversicherungsrechts (ATSG) und des Invalidengesetzes (IVG) verankert, in dem Gebrechen bzw. Invalidisierungen vorzugsweise medizinisch konnotiert sind. Ist die Psychotherapie eine Unterform der medizinischen Grundversorgung? Nein, das ist sie nicht.
Die Präambeln des Sozialversicherungsrechts (ATSG) beginnen ganz ausgewogen mit Artikel 3: «Krankheit ist jede Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit, die nicht Folge eines Unfalles ist …» Aber schon im Nachsatz folgt die einschneidende bzw. entscheidende Weichenstellung: «… und die eine medizinische Untersuchung oder Behandlung erfordert oder eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.»
Weiter zu Diskussionen Anlass gibt die Definition der Erwerbsfähigkeit (Art. 7). Es heisst da: «Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen». Klingt ja eigentlich gut, wenn findige BundesrichterInnen nicht daraus abgelesen hätten, dass alle familiären, sozialen und kulturellen Wirkfaktoren nicht zu berücksichtigen seien. Asylbetroffene, MigrantInnen sowie Personen mit familiären Belastungen fallen aus dem Raster.
Weiter heisst es im besagten Artikel 7: «Eine Erwerbsunfähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist.» Was heisst hier objektiv? Alle Daten, die intersubjektiv erhoben werden – das heisst über dialogische Verfahren, wie sie in der Psychotherapie zu guten Teilen stattfinden –, sind im Unterschied zu medizinischen Erhebungsverfahren offenbar mit Vorsicht zu geniessen!
Im Unterschied zur Arbeitsunfähigkeit, die sich auf die Unfähigkeit bezieht, im bisherigen Beruf zumutbare Arbeit zu leisten, ist bei einer Erwerbsunfähigkeit auch nach einer zumutbaren Behandlung und Eingliederung ein ganzer oder teilweiser Verlust der Erwerbsmöglichkeiten zu konstatieren.
Was ist eine zumutbare Behandlung?
Wenn gesundheitlich beeinträchtigte und nicht mehr arbeitsfähige IV-Versicherte für eine Rente berücksichtigt werden wollen, müssen sie zeigen, dass sie ihrer Mitwirkungspflicht (Art. 7 IVG: Pflichten der versicherten Person; Art. 28 ATSG: Mitwirkung beim Vollzug) nachkommen.
Es ist ein von den IV-Stellen häufig eingesetzter Fallstrick, dass die therapeutische und/oder psychiatrische Versorgung als unzureichend bezeichnet wird, was die Intensität der Therapiesitzungen betrifft, und noch beliebter, dass das Fehlen einer pharmakologischen Therapie beanstandet wird.
Nun noch zu einem letzten Punkt. In der Definition der Erwerbsunfähigkeit wird folgende Bedingung kolportiert: «Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt.»
Was ist ein «ausgeglichener Arbeitsmarkt?»
Erstaunlicherweise habe ich in der Vielzahl immer wieder zitierter Sozialversicherungs- bzw. Bundesgerichtsentscheide nie irgendwelche Erläuterungen und auch mögliche Konsequenzen dieses Sachverhalts angetroffen, obwohl die Invaliditätsbefunde integral mit dieser Konditionalaussage verknüpft sein müssten.
Naheliegenderweise ist ein «ausgeglichener Arbeitsmarkt» wohl in einem Gleichgewicht zwischen Nachfrage und Angebot, das heisst zwischen Stellenangeboten und Stellenbewerbern zu suchen. Sowohl Nachfrageüberhänge wie auch ein Überangebot an offenen Stellen bringen volkswirtschaftliche Nachteile mit sich. Die Mitwirkungspflicht im IV-Prozess erfordert eine Übernahme auch einer «angepassten» Tätigkeit. «Angepasste» Jobmöglichkeiten zeichnen sich durch reduzierte Leistungsanforderungen bzw. auch weniger fundierte Berufskenntnisse und -fertigkeiten aus. Bei Einschränkungen des Bewegungsapparats wird daher oft auf sitzende Tätigkeiten verwiesen, beispielsweise in Bürojobs. Bei kognitiven (z.B. Legasthenie bzw. Diskalkulie) oder stressbedingten Einschränkungen sind einfache handwerkliche oder angelernte Tätigkeiten empfohlen (z.B. Küchenhilfen, Gärtnerarbeiten, Transport etc.).
Vergessen wird dabei, dass sich der Arbeitsmarkt durch die Globalisierung und Migration einerseits, durch Digitalisierung und Roboterisierung andererseits massiv angespannt hat. Einfache Tätigkeiten werden zunehmend wegrationalisiert oder verlagert. Von einem «ausgeglichenen» Arbeitsmarkt ist speziell im Niedriglohnbereich in den letzten 50 Jahren nicht mehr auszugehen.
Die Argumentationslinien der IV-Instanzen sind paradox. Sie verlangen Anpassungsleistungen, im genauen Wissen jedoch, dass die Betroffenen diesen «Wunschzettel» kaum je erfüllen können. Hinzu kommt, dass der Arbeitsmarkt auch unbesehen der «Ausgeglichenheit» einen ausschliessenden Charakter hat. Wer einmal aus irgendeinem Grund rausgefallen ist, hat es schwerer, wieder hineinzukommen, je länger eine Auszeit dauert.
Kommen wir nun zum IVG in der Fassung von 2019. Es wurde 1959 auf dem innovativen Grundsatz «Eingliederung vor Rente» aufgebaut. In mehr als 70% der Gesetzesbestimmungen geht es vorwiegend um Integrationsbemühungen. Der Sündenfall kam allerdings schon bald. Mit der Wirtschaftskrise in den 70er Jahren wurde die IV als Reaktion auf drohende Arbeitslosigkeit als geniales Auffangbecken entgegengenommen. Die Konsequenz war allerdings eine massive Verschuldung der IV, die 2011 mit ungefähr 14,9 Milliarden Schweizer Franken und einem zinsbelasteten Kredit der AHV ihren Höhepunkt erreichte.1 Aber schon früher, ab circa 2003 war sparen angesagt. Das gelang laut zitierter Botschaft des Bundesrates vorzüglich – allerdings auf Kosten einer massiven Reduktion der Neu-Renten, erreicht und durchexerziert über eine beispiellose Verschärfung der Rentenzulassung. Zwischen 2006 und 2015 wurden in etwa 25 000 Neu-Renten «eingespart».2
Erwerbsunfähige einer ganzen Generation müssen für die leichtfertige Krisenbewältigung der staatlichen Behörden in den 70er Jahren geradestehen.
Kommen wir zum Thema der Einbindung der Psychotherapie in die IV-Gesetzgebung zurück. Wiederholt ist ausschliesslich von ÄrztInnen die Rede, mit denen eine intensivere Zusammenarbeit gesucht wird. Gerade in der Früherfassung und in der Begleitung von Integrationsmassnahmen könnten PsychotherapeutInnen eine ideale Hilfestellung bieten.
Um dem offen deklarierten Sparziel des Bundes zu entsprechen, entwickelten die diversen involvierten Bundesämter eine Reihe von verdeckten Strategien, ich bezeichne sie als maskierend, das heisst, es sind Techniken, die eingesetzt werden, ohne das involvierte Sparziel explizit zu benennen.
Wichtigstes Instrument dazu war eine schleichende Rückbindung der behandelnden ÄrztInnen und TherapeutInnen mit dem Argument ihrer «Voreingenommenheit». Dies wurde zusätzlich damit untermauert, dass Berichten der behandelnden Fachkräfte nicht derselbe Stellenwert zugeordnet wurde wie den «anerkannten» GutachterInnen. Eine weitere «Technik» waren das «Päusbonog», mit deren Hilfe das Bundesgericht über Jahre nicht medizinisch erfassbare Schmerzsyndrome, im gleichen Atemzug auch psychische Krankheitsbilder wie PTBS oder mittlere Depressionen etc., als nicht rentenberechtigt taxierte, da sie «mit zumutbarer Willensanstrengung als überwindbar» (BGE 141 V281 3.3.1) zu gelten hatten.
Seit 2017 kommt für alle psychischen Krankheitsbilder ein Indikatorenkatalog zur Anwendung, der von JuristInnen, vermutlich BundesrichterInnen, entwickelt wurde und ein objektiver Prüfkatalog zur Beurteilung einer Arbeitsunfähigkeit sein sollte. In Tat und Wahrheit ist es ein unsorgfältig erarbeiteter Abklatsch von diagnostischen Beurteilungen, die in der Anwendung des ICD-10- oder DSM-Manuals viel genauer gehandhabt werden. Es kann als Ausdruck dafür gelten, was herauskommt, wenn disziplinfremde AkademikerInnen sich in Bereiche vorwagen, die sie nicht gelernt haben.
In dieselbe Kategorie gehört die Überprüfung der sogenannten «guten Ressourcen». Das sind Alltagsfähigkeiten wie Hobbies, Hausverrichtungen, Reisen, Partnerschaften, Freundeskreis etc., die belegen sollen, dass Exploranden über «weitreichende gesunde Fähigkeiten» verfügen, die für eine spätere Arbeitsfähigkeit aktiviert werden könnten, sofern eine angemessene therapeutische bzw. psychiatrische Begleitung sichergestellt wäre.
Eine weitere in den letzten Jahren häufig zur Anwendung gekommene Technik der IV-Stellen besteht im von mir genannten «Aschenputtel-Syndrom». Es bezeichnet einen Entscheidungsmodus, der mehr oder weniger willkürlich positive Einschätzungen der Arbeits-/Erwerbsfähigkeit als «fundiert erhoben» darstellt, bzw. umgekehrt, hohe Einschätzungen von Arbeits-/Erwerbsunfähigkeit negativ konnotiert, mittels Formulierungen wie «nicht nachvollziehbar», «nicht begründet», in der Regel ohne jeweilige Begründungen.
Zu guter Letzt: Die am Rentenentscheid beteiligten Instanzen bilden eine Art hegemoniales System, das gekennzeichnet ist durch eine von aussen nicht sichtbar gewordene Unterstützung und gegenseitige Deckung, gegen die mit Fachbegründungen bzw. juristischen Mitteln kaum anzukommen ist (Beispiel: Anklage wegen Amtsmissbrauchs, Art. 314, oder falscher Gutachten, Art. 307).
Ich komme zum Schluss. Die IV-Beauftragten des Bundes haben eine drohende Kostenexplosion und Staatsverschuldung rigoros abgewendet – allerdings zum Preis einer psychischen und sozialen Verelendung von bis heute circa 25 000 abgewiesenen Arbeits- und Erwerbsunfähigen, vermutlich in der Mehrzahl den Sozialämtern anhängig, die dafür nicht ausgelegt sind. Dazu kommt eine Armee hochqualifizierter behandelnder Fachleute (ÄrztInnen, PsychiaterInnen, PsychotherapeutInnen etc.), die in ihrer Arbeit amputiert und zu einer Art «Kanonenfutter» zu Zwecken der Kostenplafonierung missbraucht wurden.
Armin Baumann ist Psychotherapeut und Mitglied der ASP.
Wer ist bereit, in einer Interessengruppe weiter an den genannten IV-Praktiken zu arbeiten? Ich möchte zum Beispiel mehr wissen über eure Erfahrungen mit KlientInnen, die Integrationsmassnahmen durchlaufen haben. Geplant ist die Erarbeitung eines Fragebogens – unter Mithilfe eines Sozialwissenschaftlers –, der dann auch an die FSP bzw. den Verband für Psychiatrie und Psychotherapie weitergereicht werden kann.
Bitte melde dein Interesse dem ASP-Sekretariat. Je nach Nachfrage werden wir Zeitpunkt und Räumlichkeit eines ersten Treffens bekanntgeben.
1 «Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung» vom 15.02.2017 ( https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2017/2535.pdf).
2 Siehe zuvor erwähnte Botschaft (S. 2547). Zwischen 2001 bis 2006 hatte die Anzahl der IV-RentnerInnen von 212 100 auf 251 800 zugenommen. «Seither sank diese Zahl stetig und lag im Jahr 2015 bei 223 200 Personen. Gegenüber dem genannten Höchststand entspricht dies einem Rückgang von 28 600 (-11.4%).»