Interview mit ASP-Mitglied Peter Müller-Locher

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https://doi.org/10.30820/2504-5199-2019-1-31

Was waren Deine Beweggründe, den Beruf eines Psychotherapeuten zu wählen?

Mein Vater suchte meinetwegen einen theologischen Psychotherapeuten auf, weil ich mit 18 Jahren eigenmächtig den konfessionellen Handballclub zugunsten des attraktiveren Mittelschülerclubs verlassen hatte. Der Theologe und Jungianer bestellte mich zu sich, zeigte sein Verständnis, unterstützte meine Wahl und erläuterte mir relativierend die Sorge meines Vaters. Ein Jahr später entschloss ich mich, nach der Matura Psychologie zu studieren. Ich wollte auch Psychotherapeut werden, nicht aber primär Jungianer. Diese Passage schildere ich auch in einer berufsbiografisch angereicherten Arbeit (2011). Es zeigt vielleicht exemplarisch, dass eine hilfreiche persönliche Erfahrung für die Berufswahl, PsychotherapeutIn zu werden, ein entscheidender Beweggrund sein kann.

Was ist Dein beruflicher Hintergrund/Werdegang?

Ich habe Psychologie, Psychopathologie und Philosophie an der Universität Zürich studiert. Nach zwei Jahren als Sekundarlehrer ohne Ausbildung habe ich meine Praxis als psychologischer Berater eröffnet und mit der ersten Psychotherapieweiterbildung in Daseinsanalyse begonnen.

Arbeitest Du als selbstständiger Psychotherapeut in freier Praxis und/oder bist Du (allenfalls zusätzlich) als delegierter Psychotherapeut tätig?

In den 70er Jahren war einerseits im Kanton Zürich das Anbieten von Psychotherapie durch PsychologInnen gemäss Gesundheitsgesetz zwar noch illegal, jedoch gang und gäbe. Eine Psychotherapie zu machen galt anderseits noch häufiger als Emanzipationsunternehmung und nicht nur als sogenannte Krankenbehandlung. Und drittens gab es das Konzept der delegierten Psychotherapie noch nicht. Im Rahmen dieser Voraussetzungen gelang es mir, meinen Beruf als freien Beruf auszuüben und zu bewahren – heute mit der notwendigen Praxisbewilligung, weiterhin einem Akzent auf Persönlichkeitsbildung und ohne Einbindung in die Grundversorgung der Krankenkassen.

Gibt es noch einen weiteren Beruf, eine weitere Beschäftigung, den/die Du zusätzlich zur Psychotherapie ausübst?

Ein Drittel meines Dienstleistungsangebots gehört in den Bereich der Supervision (analytisch und systemisch) in verschiedenen Settings. Meine spätere weitere Qualifikation als Organisationsentwickler konnte in der Kommission für Qualitätssicherung der Schweizer Charta für Psychotherapie fruchtbar werden.

Was ist Deine Spezialisierung?

Prinzipiell verstehe ich mich als allgemeiner psychotherapeutischer Grundversorger. Störungsspezifische Spezialisierungen habe ich keine vorzuweisen. Besonders gern pflege ich meine Arbeit als Gruppenanalytiker in meiner ambulanten Psychotherapiegruppe; ein Handwerk, das ich dem Seminar für Gruppenanalyse Zürich verdanke.

Fühlst Du Sich mit Deiner beruflichen Situation zufrieden?

Ja, sehr. Ich hatte das Glück, zur richtigen Zeit in meinen freien Beruf hineinwachsen zu können. Ich weiss, dass heute die Voraussetzungen und Bedingungen für eine unabhängige Berufsausübung beträchtlich schwieriger sind.

Gibt es etwas, das Du Dir anders wünschst?

Selbstverständlich wäre es begrüssenswert, wenn die Arbeit der Psychologischen PsychotherapeutInnen in ihrer Seriosität politisch, sozial und ökonomisch viel mehr wertgeschätzt würde. Wahrscheinlich ist dies aber nur für den Preis eines weiter anwachsenden medicozentrierten Verständnisses der Psychotherapie zu haben. Diesen Preis erachte ich allerdings als zu hoch.

Im Weiteren läuft der Prozess der Akkreditierung von Psychotherapieweiterbildungsgängen teilweise in schwer nachvollziehbarer Weise, widersprüchlich und offenbar stillschweigend nach hochschulpsychologischen Interessen.

Die Regelung der Psychotherapie in einem Bundesgesetz der Psychologieberufe widerspricht darüber hinaus den vielfach belegten Erfahrungen gelingender Psychotherapieprozesse. Denn die Hauptwirkfaktoren solcher Psychotherapien sind in guten Beziehungsgestaltungen zu finden, und dazu braucht es eine seriöse Persönlichkeitsentwicklung der TherapeutInnen und keine Voraussetzungen von ausschliesslich hochschulpsychologischen Studienabschlüssen. Der einstige pluridisziplinäre Zugang zur Psychotherapieweiterbildung wurde leider geschlossen.

Gibt es etwas, das Du Dir von Deinem Verband ASP wünschst?

Natürlich muss sich die ASP für die Interessen ihrer Mitglieder einsetzen. Und diese Interessen liegen in der Verbesserung der politischen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen für die Berufsausübung der praktizierenden PsychotherapeutInnen. Das Nachdenken über ein qualitativ hochstehendes Psychotherapieverständnis sollte jedoch nicht zu kurz kommen und den Berufsinteressen der praktizierenden PsychotherapeutInnen geopfert werden. Das kurative Interesse der Psychotherapie, das heisst das Verständnis der Psychotherapie als Heilverfahren ist zweifellos werbewirksam zu vertreten. Das emanzipative Interesse der Psychotherapie, das heisst das Verständnis der Psychotherapie als Persönlichkeitsentwicklung mit ihren Auswirkungen auf Paarbeziehungen, Familien, Gruppen und Organisationen darf aber nicht vergessen werden. Der gut dokumentierte Kongress im November 2014 mit dem Titel «Emanzipieren wir uns!» versuchte weitere Schritte in diese Richtung anzuzeigen.

Fühlst Du Dich in Deinem Berufsverband ASP vertreten und gewürdigt?

Ja.

Was wäre Dein Fokus, wenn Du im Vorstand der ASP wärst?

Wie oben ausgeführt, läge mir die Reaktualisierung, Vertiefung und Verbreitung des emanzipatorischen Interesses der Psychotherapie am Herzen, ebenso die weitere Ausgestaltung des Weiterbildungskonzeptes «ASP Integral». Noch immer halte ich die Idee eines schulenübergreifenden, eigenen Weiterbildungsganges der ASP mit integralen methodenspezifischen Vertiefungsrichtungen für zukunftsweisend, ist doch die Bewahrung der Methodenvielfalt stets ein zentraler Zweck der in der ASP weitergeführten Philosophie der Schweizer Charta für Psychotherapie. Mit guten Gründen. Denn es kommt bekanntlich auf eine dreifache Passung an, um erfolgreiche Psychotherapien zu lancieren: Die persönliche Passung zwischen PatientIn und TherapeutIn, die Passung zwischen TherapeutIn und Methode und die Passung zwischen PatientIn und Methode. Für die Ermöglichung, solche Passungen überhaupt zu finden, braucht es eine seriöse Methodenvielfalt und nicht nur zwei, drei Mainstreams.

Im Weiteren verliert durch eine eidgenössische Anerkennung der PsychotherapeutInnen eine Verbandsmitgliedschaft der Berufsleute an Bedeutung. Darum ist das Konzept eines Weiterbildungspools innerhalb des Berufsverbandes der ASP mit schulenübergreifenden Teilen, aber methodenspezifisch integralen Vertiefungen für die Studierenden beste Werbung, um nach ihrem Abschluss der ASP als Berufsverband treu zu bleiben.

Du hast Dich in der ASP bzw. der Schweizer Charta für Psychotherapie jahrelang engagiert, unter anderem als Vorsitzender der Kommission für Qualitätssicherung. Was sind rückblickend die Highlights dieser Tätigkeit?

Basis für einige sachliche Highlights war immer die erfreulich passende Zusammenarbeit mit den KollegInnen, sowohl in der Kommission für Qualitätssicherung wie auch dem Vorstand der Charta. Sehr bereichernd empfand ich auch die Begegnungen mit den verschiedenen Delegierten der Chartamitgliedsinstitutionen in den Kolloquien und die Gespräche bei den Überprüfungen in den Institutionen und Verbänden. In aller Regel gelang es, hilfreich beratend in den doch sehr unterschiedlichen «Homelands» zu wirken. Denn wo auch die Passung zwischen der Weiterbildungsinstitution und dem Zweck der Charta stimmte, konnte eine gute Beziehungsgestaltung zwischen den VertreterInnen der Institutionen und den Mitgliedern der überprüfenden Kommission fruchtbar werden.

Sachlich wurde die einstimmige Gutheissung des lange erarbeiteten Qualitätskonzeptes ein Highlight, auch weil wir vorausschauend die Akkreditierungsverordnung des Bundes antizipierten. Ferner war auch die Durchführung des Kongresses «Emanzipieren wir uns!», der auf die emanzipative Wirkung anderer Hochschuldisziplinen fokussiert war, eine gelingende Veranstaltung. Und drittens schätze ich auch die Arbeit in der Raterschulung der PAPS-Studie als Erfolg ein, obwohl es in unserem Feld unterschiedlich verankerter Raterinnen und Ratern nur ansatzweise gelang, eine gute Übereinstimmung der Werte bei der angewendeten Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) zu erzielen (vgl. Müller-Locher, 2016).

Wie sähe Deine Wunschsituation im gegebenen politischen Umfeld für PsychotherapeutInnen aus?

Schwer zu beantworten, zielen doch meine Wünsche vor allem auf eine Veränderung des politischen Umfelds.

Selbstverständlich wären gemeinsame Initiativen aller anerkannten PsychotherapeutInnen zielführender als die Veränderung blockierenden Auseinandersetzungen zwischen dem PsychologInnen- und dem PsychotherapeutInnenverband. Ein gutes Einvernehmen zwischen den psychologischen und den ärztlichen PsychotherapeutInnen gehört ebenfalls dazu. Denn letztlich geht es doch um die Verbesserung der psychosozialen Versorgung seelisch leidender Menschen, die keine hinderlichen Graben- und Standeskämpfe der sogenannten Leistungserbringenden dulden sollte. Und darüber hinaus verlangt ein solcher Schulterschluss nach einer Reflexion der Frage nach einem gelingenden Leben der Menschen und somit dem Verhältnis von aufgeklärter Emanzipiertheit und «Gesundheit» bzw. Emanzipiertheit als Freiheit und Gesundheit als ertragbarer Endlichkeit. Mit anderen Worten, Psychotherapie braucht mehr Philosophie und Politik und weniger Theologie und Esoterik.

Was ist Deine Vision in Deinem beruflichen Alltag?

Da ich persönlich mit meiner beruflichen Situation sehr zufrieden bin, kann ich nur sagen, weiter wie bisher. Noch einige Jahre erfreuliche Weiterarbeit als psychodynamischer Psychotherapeut und Supervisor, teilzeitlich, wohlverstanden.

Literatur

Müller-Locher, P. (2011). Das Dilemma der Psychotherapie-Weiterbildung in der Schweiz – Erfahrungen und Reflexionen eines Insiders. In B. Bucher, T. Hagmann, R. Kuhn & G. Thomann (Hrsg.), Resonanz – Gestalten von Organisationen in flüchtigen Zeiten, Bd. 2: Loyalität (S. 121–138). Bern: hep.

Müller-Locher, P. (2016). Der OPD-Ratingprozess. Persönliche Erfahrungen und Einsichten. In A. vonWyl, V. Tschuschke, A. Crameri, M. KoemedaLutz & P. Schulthess (Hrsg.), Was wirkt in der Psychotherapie? Ergebnisse der Praxisstudie ambulante Psychotherapie zu 10 unterschiedlichen Verfahren (S. 51–63). Gießen: Psychosozial-Verlag.

o.A. (2014). «Emanzipieren wir uns!» Interdisziplinärer Kongress der Schweizer Charta für Psychotherapie. 8. November, Volkshaus Zürich [YouTube].

Zur Person

Peter Müller-Locher, Dr. phil., MSc, ist eidgenössisch anerkannter Psychotherapeut der ASP und arbeitet in eigener psychotherapeutischer Praxis in Zürich und Horgen. Er ist seit 1986 Mitglied der ASP und bekleidete von 1993 bis 2018 diverse Funktionen in der Schweizer Charta für Psychotherapie.

Das Interview wurde schriftlich von Peter Schulthess geführt.