Buchbesprechung

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2019-1-36

Manuel Trachsel, Jens Gaab & Nikola Biller-Andorno (2018): Psychotherapie-Ethik
Göttingen: Hogrefe, 120 Seiten, 24.95 EUR, 32.50 CHF

Die drei AutorInnen legen ein sehr verdienstvolles Buch zur Ethik als Grundpfeiler der Psychotherapie vor, dessen Stellenwert in der Literatur, Forschung und Weiterbildung oft vernachlässigt wird. Sie wollen mit diesem Buch die Bedeutung der Ethik für die Psychotherapie hervorheben und betrachten und beurteilen unterschiedliche klinische Sachverhalte aus einer ethischen Perspektive. «Der Einbezug der Ethik ist dabei nicht nur hilfreich, sondern verdeutlicht, dass diese neben der persönlichen Expertise und der wissenschaftlichen Empirie als Grundpfeiler der Psychotherapie in Theorie und Praxis anzusehen ist» (S. 106).

Ethik ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit moralischen Werthaltungen oder gesellschaftlichen Normen. Sie ist nicht selbst eine Moral, vielmehr ist die Moral ihr Untersuchungsgegenstand. Wie in anderen Wissenschaften gibt es auch in der Ethik unterschiedliche Theorien. Sie werden im Buch anschaulich und praxisbezogen erläutert. Um die Schrift nicht theoretisch zu überfrachten, wurde ein Set von Prinzipien eingegrenzt – Respekt vor der (PatientInnen-)Autonomie, Nichtschaden, Wohltun und Gerechtigkeit –, was theorieunabhängig eine erste analytische Annäherung an viele psychotherapie-ethische Konflikte erlaubt.

Das Buch ist in zehn Kapitel gegliedert, die folgende Themen behandeln:

  1. Ethik als Grundkompetenz von PsychotherapeutInnen
  2. Patientenaufklärung, Einwilligungsfähigkeitund informierte Einwilligung
  3. Interessenkonflikte, Mehrfachbeziehungen und andere Überschreitungen der üblichen therapeutischen Beziehungsgrenzen
  4. Kulturelle Differenzen und interkulturelle Kompetenzen von PsychotherapeutInnen in einer multikulturellen und offenen Gesellschaft
  5. Vertraulichkeit, Vertrauen und Grenzen der Geheimhaltungspflicht
  6. Professionelle Kompetenz und Behandlungs­fehler
  7. Intimität und nichtsexuelle körperliche Berührungen
  8. Sexuelle Kontakte und Missbrauch
  9. Placebo und Verum in der Psychotherapie
  10. Unfreiwillige Klinikeinweisung und andere Formen von Zwangsmassnahmen

Jedes Kapitel wird mit einem Praxisbeispiel zum Thema des Kapitels begonnen, zu dem dann theoretische Ausführungen ethischer und rechtlicher Art gegeben werden, oft forschungsgestützt. Begriffe werden definiert, Bezüge zu Standesregeln relevanter Organisationen gemacht, worauf zum Schluss das jeweilige Fallbeispiel wieder aufgenommen und aus neuer Perspektive beurteilt wird, wie in der therapeutischen Situation darauf besser oder anders hätte umgegangen werden können. So gelingt es den AutorInnen, Praxis, Theorie und Forschung anschaulich zusammenzuführen.

Es ist anregend, dieses Buch zu lesen, und es hilft, ethische Richtlinien nicht nur als abstrakte Regulatorien auf der Seite liegen zu lassen, die man erst dann zur Hand nimmt, wenn es um Beschwerden geht. Ich stimme mit den AutorInnen völlig überein, «dass die Ethik in der Psychotherapie und der Behandlung von Personen mit psychischen Störungen und Problemen nicht erst dann anfängt, wenn das Verhalten von Patientinnen, Patienten, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in einen strafrechtlich relevanten Bereich abdriftet» (S. 106).

Trotz des gelungenen Aufbaus des Buches und seiner relevanten Inhalte sei auch auf ein paar Mängel hingewiesen, die wohl aus einer etwas verengten Perspektive auf andere AutorInnen und die Verbände entspringt, die Massgebliches zur Psychotherapie und Ethik beigetragen haben. Eingangs wird erwähnt, dass es im Unterschied zum angelsächsischen Raum noch kaum deutschsprachige Literatur zum Thema der Ethik in der Psychotherapie gäbe. Das erstaunt. Eine kleine Google-Recherche führt ziemlich schnell zu den Beiträgen etwa von Renate Hutterer-Kirsch, die unter anderem schon 1996 zu «Fragen der Ethik in der Psychotherapie» publizierte und 2007 das Buch Grundriss der Psychotherapieethik folgen liess. Es ist unverständlich, dass die AutorInnen weder darauf verweisen noch sich darauf beziehen.

Die AutorInnen haben Verbindungen zu den berufsethischen Richtlinien oder den «wichtigsten psychotherapeutischen Berufsverbände[n] in Deutschland, Österreich und der Schweiz, sowie der EFPA» (S. 3) gezogen. Das sind ihrer Ansicht nach: Deutsche Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs), European Federation of Psychologist’s Associations (EFPA), Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP), Österreichischer Berufsverband für Psychotherapie (ÖBVP). Drei dieser Verbände sind nicht spezifische Psychotherapieverbände sondern PsychologInnenverbände, deren Richtlinien für alle Psychologieberufe gelten. Verbände, die ausschliesslich die beruflichen Belange der Psychotherapie vertreten (ASP, EAP auf europäischer Ebene, WCP weltweit), werden von den AutorInnen offenbar als nicht so wichtig eingestuft. Unverständlich bei einem Buch, das die Psychotherapie-Ethik betrifft, nicht die Psychologie-Ethik.

Es ist eh schade, dass die Begleitgruppe, die den AutorInnen zur Verfügung stand, nicht auch den einen ASP-Psychotherapeuten oder die andere ASP-Psychotherapeutin enthielt und auch keine anderen Fachrichtungen vertreten waren (etwa aus der Körperpsychotherapie). Das hätte dem Buch und der Vielfalt an Beispielen gut getan. So bleiben die Beispiele doch etwas sehr Verhaltenstherapie-orientiert und in der Reflexion wird nicht erwogen, ob etwa im Beispiel der Kindertherapie auf Seite 51 nicht schon die Wahl der Therapierichtung und eingesetzten Technik als Kunstfehler zu bezeichnen wäre, oder im Beispiel auf Seite 58, wo die Therapeutin bei einem Expositionsexperiment selbst in Ängste geriet, es also möglicherweise an einer unzureichenden Selbsterfahrung der Therapeutin im Rahmen ihrer Weiterbildung gelegen hat, dass das Experiment schief ging.

Ein Fehler schlich sich auf Seite 49 ein: In der Schweiz haben Psychologische PsychotherapeutInnen kein Melderecht betreffend Zweifel an der Fahrtüchtigkeit gestützt auf das Strassenverkehrsgesetz, dieses haben ausschliesslich Ärzte.

Kein Buch ohne gewisse Mängel – insgesamt empfehle ich es aber praktizierenden PsychotherapeutInnen (ob selbstständig oder in Anstellung), Lehrenden und Lernenden mit Überzeugung zur Lektüre. Es gibt in der Tat einen Nachholbedarf in Weiterbildung, Praxis und Fortbildung zum Thema der Psychotherapie-Ethik. Die AutorInnen wollen einen Beitrag dazu leisten und diesen Anspruch erfüllen sie in gelungener Weise.

Peter Schulthess