Gesichter des Fremden

Barbara Saegesser

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 7 (14) 2021 24–26

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2021-2-24

Der heutzutage vielbeschriebene Rassismus scheint tief im menschlichen Psychismus zu wurzeln. Der Begriff oder was ihm zugeschrieben wird, hat mit gut und böse, bekömmlich und unbekömmlich, vertraut und fremd zu tun, mit: «Das will ich oder das will ich nicht.» Es erinnert an die frühen Impulse zum Ausspucken des Essens, das nicht schmeckt. Das Gute projizieren wir, das Schlechte verwerfen wir (Freud). Sagt jemand, ich bin nicht rassistisch oder ich habe nie etwas gegen andere, so scheint mir, dies sei religiösen und/oder anderen ideologischen Einstellungen zu verdanken, bildet sich nicht originär oder verdankt sich dem Umstand, dass aus dem eigenen Wunsch eine illusionäre Realität wurde.

Eine rassismuskritische Diskussion, wie Dshamilja Adeifio Gosteli das im à jour! 1-2021 fordert, kann sicher sinnvoll sein, sofern wir die menschlichen psychischen Realitäten miteinbeziehen. Theoretisches Wissen wird meines Erachtens im diskutierten Artikel – für das psychotherapeutische Tun – etwas überbewertet. Wir täuschen uns oftmals über Ausmass und Kraft unseres Wissens. Wir wissen quasi nichts, obwohl wir denken, viel zu wissen, etwa über das Leben in armen ostafrikanischen Gebieten. Wir wissen vielleicht, wenn überhaupt, etwas von Wassermangel, Dürre und Armut. Aber was bedeutet das fürs tägliche Leben der Menschen und für Geflüchtete aus diesen Ländern? Quasi nichts. Das Überschätzen des Eigenen dürfte psychotherapeutisch in der Arbeit mit Fremden vor allem dann einigermassen klappen, solange und weil der «Weisse» ja seine «weisse Norm» meist unbedroht einsetzen kann. Überanpassungen an die «weissen Normen» vollziehen sich häufig gerade auch in der Hoffnung, im Neuland so besser «durchzukommen». Sie entsprechen kaum einer Psychotherapie, die die Betroffenen einigermassen zu sich selbst führt. Es wird dabei zu wenig auf das gehört, was Patient*innen sagen und von sich selbst wissen (Freud), sondern man «weiss», scheint es, was Patient*innen «brauchen».

Nun ist allerdings das nicht vorurteilsverhaftete Zuhören heute wenig verbreitet. Wer allgemein nicht gut zuhört, tut dies auch berufsmässig, mit welchen Patient*innen auch immer. Beim wirklich Zuhörenden wird das Fremde nicht abgewiesen, sondern interessiert diesen. Wir empfinden vieles – wohl bereits ab utero – als unvertraut: fremde Gerüche, nicht-alltägliche unangenehme Geräusche, unbekannte körperliche Rhythmen der Mutter; und ab Geburt ereignet sich dies natürlich weiterhin. So wird in der Folge die Basis eines Sammelsuriums des Unangenehmen, Unverträglichen, werden also manche rassistischen Eindrücke und Gefühlsmomente, vielleicht auch Gedanken, gesetzt.

Übrigens existiert auch ein Wissen, das tatsächlich mithelfen kann, manche Verletzungen des Gegenübers zu vermeiden, etwa: tiefergehende Kenntnis von Kultur, Religion, Politik der Heimat der Patient*innen und besonders das Wissen über die Familienstruktur bestimmter Kulturen. Ostafrikanische Väter und Söhne zum Beispiel haben übermässiges (aus europäischer Sicht) Hauptgewicht, Frauen kommt kaum Gewicht zu. Das verweist bereits auf den dem männlichen Psychotherapeuten zugeschriebenen «Mehrwert». Psychotherapeutinnen fallen in diesem Rahmen weit weniger ins Gewicht. Ein Nichtwissen und Nichtberücksichtigen solcher Faktoren wird oft als erniedrigend empfunden und trägt mitunter Flammen dorthin, wo sowieso schon Schmerz und Entzündung eingenistet sind. Zudem ist Wissen zu Folgendem überaus wichtig: Als «weisse» Menschen beeindrucken wir die meisten andern, die nicht unsere Hautfarbe haben, als mögliche Erdrücker. «Weisssein» bedeutet für sehr viele Menschen, sich in der Nähe von Kolons, von Unterdrückenden, von sie Übersehenden zu befinden.

Schweizerische Psychotherapeut*innen besitzen wenig Wissen über Funktionen und Auswirkungen kolonialer Systeme, ganz anders als in europäischen Ländern rund um die Schweiz herum. Psychotherapeut*innen, etwa aus Belgien, haben einen sehr freien und fast täglichen Kontakt mit der Problematik des Kongo, der lange eine belgische Kolonie war, in der schlimmste Gräuel an den Einheimischen verübt wurden und zugleich Belgier*innen dort in aller Ruhe lebten. Unbekannte ethnisch-kulturell-religiöse Situationen können besonders für Schweizer*innen kaum vorstellbar sein. Wie lässt sich das mit psychotherapeutischen Konzepten des Verstehens verbinden? Kleine bis grössere Verletzungen sind so wohl unvermeidlich, so unter anderem auch, was das Aussprechen von Namen betrifft. Wobei das bereits zwischen Kantonen ein Problem sein kann.

Wichtig ist gerade auch das Wissen über diverse Religionen. Eine gläubige katholische Christin denkt und fühlt wahrscheinlich ausgesprochen anders als eine streng gläubige Muslimin oder ein engagierter Atheist.

Sogenannter Rassismus, also ein tiefes befremdendes Gefühl im psychotherapeutischen Prozess, kann quasi etwas Alltägliches, aber natürlich unbedingt etwas zu Reflektierendes sein. Dieselben psychischen Abläufe wie etwa zwischen Colons und dem Volk, das sie beherrschen wollen, spielen sich unter Umständen ab. Gewisse Interventionen können von dem auf diese Weise respektlos Behandelten als sehr kränkend, in der Wiederholung als traumatisierend erlebt werden. Beim Lesen der Gedanken von Dshamilja Adeifio Gosteli realisiere ich, wie sehr ich mit diesen Problemen dank meiner langjährigen psychotherapeutischen Arbeit in ostafrikanischen Ländern vertraut bin: Es braucht gegenseitige ausreichende Akzeptanz bis zu einem gewissen Verstehen zwischen sehr unterschiedlichen Menschen, auch punkto Hautfarbe.

Und es ist mir ebenfalls vertraut, zu sehen und zu erleben, wie es nicht allein den einen sogenannten Rassismus, das eine extrem tiefe Befremden gibt, von sogenannten Stärkeren (Ärztin, Psychotherapeut, Lehrerin etc.) zu sogenannten Schwächeren (Migrant*innen), sondern eben auch das Umgekehrte: Angst und Hass der sogenannten Schwächeren, die zum Beispiel unter europäischen Colons selbst gelitten haben oder deren Vorfahren, die jedoch von diesem Leiden vieles, bewusst und unbewusst, in sich tragen, was einen chronischen Unmut bzw. Anfeindungen der sogenannten Untergebenen gegenüber den sogenannten Übergeordneten weckte und immer noch weckt.

Im psychotherapeutischen Prozess können sich, wie anderswo, nicht bedachte, weil zu wenig oder nicht gekannte, als rassistisch zu benennende Gesten gegenüber Patient*innen einschleichen und einnisten. Es ist wichtig, zwischen allzu fremden Gesten, die Psychotherapeut*innen realisieren und überwinden möchten, und demjenigen Rassismus, der – gerade auch im schweizerischen Umfeld – aus Unwissen entsteht, zu unterscheiden. Der Ort und der Prozess, sich mit dem eigenen Rassismus zu konfrontieren und wirklich auseinanderzusetzen, dürfte vor allem die psychotherapeutische Arbeit am eigenen Psychismus sein.

Ist es nicht oftmals so, dass bereits der Gedanke, dass der andere Mensch wirklich ein anderer ist, uns innerlich unruhig macht und vielleicht zum Verzweifeln bringt. Dieser Gedanke oder dieses einigermassen Erkennen widerspricht dem menschlichen symbiotischen Wunsch, auf Gleiche zu treffen, die Gleichen zu sein, nicht streiten zu müssen. Das ist ein nicht möglicher, unrealistischer, eben ein Wunsch, den wir von vielen Patient*innen kennen. Seine Nichterfüllung ist hart zu ertragen. Und wenn sich Unterschiede dann auch äusserlich zeigen, in verschiedenen Hautfärbungen, wird die Situation zunehmend krasser. Dieser Unterschied lässt sich schlecht banalisieren. Das ist das Eine. Das Andere scheint zu sein, dass wir Menschen uns im Leben Feinde und Feindinnen suchen und sie auch finden, wenn wir nicht einer sehr strengen Religion angehören, die uns sagt, wie wir gute Menschen sein können und sollen, was wir zu denken und zu glauben haben (wobei Religionen durchaus auch Hinweise auf Feinde geben).

Und sofern die*der andere ein*e Fremde*r, ein*e Feind*in ist – etwa in der therapeutischen Situation – oder uns wegen seines ausgeprägten Andersseins Angst macht und insofern ein*e allzu feindliche*r Fremde*r ist, können und wollen wir uns wohl nicht besonders stark um sie*ihn bemühen, sondern bemühen uns primär um uns selbst, da wir uns ja verängstigt sehen. Und plötzlich zugleich sehr gestärkt dastehen, weil die*der andere, Schlechte, die*der Feind*in ist – und nicht wir selbst. Und das gilt sowohl für das Befremdetsein der sogenannten Stärkeren als auch der sogenannten Schwächeren.

Empfohlene Literatur

Cyrulnik, B. (2021). Des âmes et des saisons. Psycho-écologie. Paris: Odile Jacob.

Freud, S. (1975 [1915]). Das Unbewusste. Frankfurt/M.: Fischer.

Saegesser, B. (2012). Der alltägliche Rassismus und der umgekehrte. In Jahrbuch für Kinder und Jugendlichen-Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Brandes & Apsel.

Saegesser, B. (2012). Geschlechterdifferenz in Ostafrikanischen Städten. In Jahrbuch für Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Brandes & Apsel.

Saegesser, B. (2021/22 i.D.). Essential requirements to work psychoanalytically with refugees from East Africa. In Trauma, Flight and Migration. Routledge: New York.

Taguieff, P.-A. (2021). L’imposture décoloniale. Science imaginaire et pseudo-antiracisme. Paris: L’Observatoire.

Dr. phil. Barbara Saegesser arbeitet in eigener Praxis in Basel, unter anderem als Ausbildungsanalytikerin IPA und an in- und ausländischen psychotherapeutischen/psychoanalytischen Seminaren. Sie ist seit 16 Jahren eigenständig in Ostafrika humanitär engagiert und publiziert regelmässig dazu.
E-Mail: barbara.saegesser@bluewin.ch