Kreativität in der Psychotherapie

Bruno de Raemy

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 7 (14) 2021 27–30

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2021-2-27

Lange Zeit war ich der Auffassung, künstlerische Ausdrucksformen wie Malerei, Bildhauerei, Musik, Architektur usw. hätten ein Patent auf Kreativität. Meine Vorstellung von Kreativität war alles andere als kreativ, sie glich einer Pseudodefinition der schönen Künste, wie sie von der Wissenschaftstradition festgelegt wurde. Diese Auffassung engte die Kreativität ein und machte sie zur ausschliesslichen Domäne der Künstler*innen. Aufgrund dieser sehr eng gefassten Auffassung betrachtete ich mich als unkreativ, und das kam mir gerade recht; auch wenn ich stets einen Anflug von Neid auf Kreative verspürte!

Mein Interesse an der Bedeutung von Kreativität für die Psychotherapie wurde geweckt, nachdem ich ein Video von Ken Robinson, einem britischen Bildungsexperten, gesehen hatte, der Kreativität als Prozess definiert, bei dem man auf originelle und konstruktive Ideen kommt. Ich war der Auffassung, dass ich drei mögliche Formen von Kreativität in der Psychotherapie ausmachen konnte.

Die erste Form möchte ich durch folgende kleine Anekdote veranschaulichen, die sich zutrug, als ich während der Sommerpause begann, diesen Artikel im Schatten einer Kiefer zu schreiben: Ich liess mich vom Gesang der Zikaden betören, aber hin und wieder ging mir ihr unablässiges lärmendes Zirpen auf die Nerven. Diese Änderung des Betrachtungswinkels von Betörung zu Genervtsein scheint mir einen der Schlüssel zur Kreativität in der psychotherapeutischen Praxis gut zu illustrieren: den Wechsel der Perspektive.

Eine andere Form der Kreativität ist die des Nicht-Wissens, die Fähigkeit, loszulassen, was wir wissen (oder zu wissen glauben), die Fähigkeit, uns von unseren Vorstellungen und Gewohnheiten zu befreien, die Fähigkeit, das Unbekannte zu ertragen, um den Erfahrungen unserer Patient*innen in einem jungfräulichen Beziehungsraum zu begegnen.

Den dritten Schlüssel schliesslich sehe ich in der Suche nach unserer inneren konzeptionellen Erneuerung, das heisst der Fähigkeit, unseren Patient*innen neue Erklärungen, Modelle, Bilder, Metaphern und Analogien anzubieten.

Schlüssel 1: Wechsel der Perspektive

Diese Form der Kreativität kommt im Zuge unserer Interventionen bei unseren Patient*innen zum Ausdruck.

Ich stimme diesem Aphorismus, der Laotse zugeschrieben wird, voll und ganz zu:

Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten. Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter. Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.

In der Kognitionswissenschaft herrscht Uneinigkeit darüber, wie viele dieser täglich wiederkehrenden Gedanken letztendlich unser Schicksal bestimmen. Einige Forschende gehen davon aus, dass ein Mensch durchschnittlich 6.200 Gedanken pro Tag hat, andere schätzen, dass es zehnmal so viele sind. Es besteht jedoch Einigkeit darüber, dass fast alle unsere Gedanken völlig repetitiv sind (etwa 95%). Dabei handelt es sich um ein allgemeines Merkmal, es tritt also nicht nur bei Menschen auf, die unter Grübeln oder an Zwangsstörungen leiden.

In den 1960er Jahren wurde Dr. George Land von der NASA beauftragt, einen Test zur Bewertung der menschlichen Kreativität zu entwickeln. Die NASA war auf der Suche nach den innovativsten Ingenieur*innen und Wissenschaftler*innen. Aus Neugier wandte Land seinen Test auf Fünfjährige an und stellte fest, dass 98% auf einer für Erwachsene kalibrierten Skala als «genial» eingestuft wurden. Dieses schockierende Ergebnis veranlasste ihn, eine Längsschnittstudie mit denselben Kindern im Alter von 10, 15 und 20 Jahren durchzuführen. Im Alter von 10 Jahren sank der Durchschnitt auf 30% und im Alter von 15 Jahren auf 12%. Bei Erwachsenen im Allgemeinen (mit einem Durchschnittsalter von 30 Jahren) waren es 2%. «Wir kamen zu dem Schluss», schreibt Land, «dass unkreatives Verhalten erlernt wird.»

Kreativität wäre demnach eine angeborene Fähigkeit, die durch Konditionierung, Erziehung, Kultur, Ängste und Gewohnheiten allmählich und weitestgehend verlernt wird. Eine Erklärung dafür ist die Tatsache, dass unser Gehirn zwei neurologisch unterschiedliche Systeme umfasst, die zwei Formen des Denkens hervorbringen: konvergentes Denken (hervorgerufen durch verschiedene Formen der Konditionierung) und divergentes Denken (hervorgerufen durch Kreativität). Der (westlichen) Bildung wird nachgesagt, dass sie ein Übermass an konvergentem Denken produziert und einen unaufhaltsamen Rückgang des divergenten Denkens bewirkt.

Ich stellte folgende drei dramatische Gegebenheiten fest: 1) die Fatalität des repetitiven Denkens, 2) die Tatsache, dass unsere Gedanken im Wesentlichen repetitiver Natur sind, und 3) die Tatsache, dass die Kreativität mit zunehmendem Alter drastisch abnimmt. So bin ich zu dem Schluss gekommen, dass eine der zentralen Aufgaben von Psychotherapeut*innen darin besteht, Patient*innen dabei zu helfen, wieder zu erlernen, auf kreative Art und Weise zu denken (zusätzlich zu den klassischen Aufgaben des Einhegens, Annehmens, Ermutigens, Aufklärens usw.)

Um das divergente Denken unserer Patient*innen zu fördern, müssen wir sie zu regelrechter Kopfgymnastik einladen. Es ist unsere Aufgabe, sie dabei zu begleiten, neue Blickwinkel zu finden, Einflussgrössen hinzuzufügen, die sie zuvor nicht berücksichtigt haben, Nuancen in ihrer Sichtweise zu entdecken, sie für neue Perspektiven zu öffnen usw. Natürlich müssen wir diese Kopfgymnastik fördern und dabei ihr Leiden respektieren, sie ihren eigenen Rhythmus finden lassen und den richtigen Zeitpunkt abpassen.

Die (Wieder-)Entdeckung, dass unsere Gedanken im Wesentlichen Überzeugungen und keine absoluten Tatsachen sind, führt Patient*innen zu der Erkenntnis, dass ihre Überzeugungen variiert, verändert und allmählich relativiert werden können. Die kreative Erweiterung auf mehrere Blickwinkel wird dann die Beziehung eines Subjekts zu seinen Gedanken verändern, ganz wie im folgenden Aphorismus:

Das Problem ist nicht das eigentliche Problem Das eigentliche Problem ist, wie man das Problem betrachtet Wir werden nicht von unseren Umständen bestimmt Wie wir mit unseren Umständen umgehen, bestimmt wer wir sind.

Wenn wir zum Beispiel an der Lösung eines Gedankenknotens arbeiten, können wir unsere Patient*innen sich vorstellen lassen, dass der Knoten sich im Zentrum einer Kugel befindet und dass sie ihn aus einer Vielzahl von Perspektiven betrachten können, indem sie die Kugel von aussen betrachten und drehen. Die radikalste neue Perspektive ist natürlich diejenige, die der ursprünglichen diametral entgegengesetzt ist. Deshalb schlage ich, wenn die Zeit reif ist, besonders gern die «Umkehrung von Glaubenssätzen» vor. Diese Umkehrung ist der Kern der von Katie Byron (The Work) vorgeschlagenen Methode, bei der der letzte Schritt darin besteht, einen Gedanken, der eine Quelle des Leidens ist, vollständig umzukehren.

Kurzum, um Patient*innen zu helfen, ein eingefahrenes Denkmuster auf kreative Art und Weise zu lösen, braucht dieses nicht aufgehoben oder durch ein anderes ersetzt zu werden, ein*e Patient*in braucht sich seiner*ihrer nicht völlig zu entledigen; es geht vielmehr darum, ihn*sie dabei zu begleiten, sich zu öffnen, den Blickwinkel zu erweitern. Durch diese Bemühung der Vorstellungskraft er*sie in der Lage sein, so viele Perspektiven wie möglich zu erfassen. Jede neue Perspektive kann dann eine emotionale Erleichterung bewirken und ihm*ihr zu einem grösseren Gefühl von Freiheit verhelfen.

Schlüssel 2: Kunst der Unwissenheit

Diese Form der Kreativität kommt in dem Beziehungsraum zum Ausdruck, den wir unseren Patient*innen bieten.

Es gibt eine subtile Form der Kreativität, die dem Beruf des Psychotherapeuten, der Psychotherapeutin zugrunde liegt, nämlich die Kunst, loszulassen, was man weiss oder zu wissen glaubt. Nach vielen Jahren der Ausbildung und dann mit den sich ansammelnden Jahren der Praxis entwickeln wir Psychotherapeut*innen ein Wissen und eine Erfahrung, die unsere Intuition nährt und es uns ermöglicht, die von unseren Patient*innen geschilderten Situationen fast augenblicklich zu diagnostizieren und zu verstehen. Wir können zum Beispiel mit einem Blick erkennen, dass eine Person ängstlich und kontrollierend ist, oder wir können sofort den Kloss aus Kummer wahrnehmen, der im Hals feststeckt. Die Fähigkeit, schnell und messerscharf zu analysieren und zu konzeptualisieren, muss durch die kreative Anstrengung ausgeglichen werden, die wir unternehmen, um eine Situation frischen und unvoreingenommenen Geistes zu beobachten.

Die Weitergabe unseres wertvollen Wissens an unsere Patient*innen sollte daher durch die heikle Übung ausgeglichen werden, das Gelernte aussen vor zu lassen. Eine zentrale Tugend von Psychotherapeut*innen ist es, Unwissenheit zu ertragen: die eigene und die der Patient*innen. Im Gegensatz zu Ingenieur*innen, die bereits viele Brücken entworfen haben und ein neues Projekt auf der Grundlage ihrer bisherigen Erfahrungen angehen können, müssen wir Psychotherapeut*innen den durch Erfahrung erworbenen Automatismen widerstehen. Um in unserer Unterstützung demütig zu bleiben, müssen wir eine Art umgekehrte Kreativität ausüben (auch wenn wir sofort eine festgefahrene Situation, eine toxische Dynamik, eine emotionale Blockade, das Fehlen von Grenzen, ein Seelenleiden usw. erkennen).

Die Schaffung eines neutralen und einladenden Nichtwissens erfordert echte innere Freiheit, um sich von den Konzepten, Analysen und Interpretationen zu befreien, die sich in stundenlangen Konsultationen angesammelt haben. Es geht nicht darum, unser Know-how und unsere Erfahrung zu minimieren oder gar abzuwerten. Es geht darum, die Existenz eines Raumes in uns selbst zuzulassen, in dem wir nicht oder noch nicht wissen. Es geht darum, das Erfahrungswissen, das uns eine direkte intuitive Vorstellung vermittelt, mit der Fähigkeit, diese Vorstellung zu ignorieren, in Einklang zu bringen. Als Resonanz auf unsere neutrale und einladende Präsenz kann dann Folgendes entstehen: Bei Psychotherapeut*innen: eine einzigartige Metapher, eine neuartige Illustration, eine Interpretation, die sie sich im Moment als Echo auf das vorstellen, was Patient*innen im Beziehungsraum präsentieren. In Patient*innen: ihr eigenes Verständnis, eigenes Nachdenken, eine neue Reaktion als Echo auf eigene Worte. Wir bieten Patient*innen also einen Raum, in dem sie sich selbst neu erfinden und ihrem Leben (wieder) einen Sinn geben können, indem sie den Spuren ihres Leidens folgen. Ich sage meinen Patient*innen oft, dass sie die Dinge, die sie sagen, nicht zu mir sagen, sondern zu sich selbst.

Ich möchte noch hinzufügen, dass der Wechsel der Umgebung eine weitere Manifestation der Kreativität ist, wenn wir unsere Gewohnheiten ablegen. Als Therapeut*innen können wir eine einzigartige Gestaltung des Gesprächs vorschlagen: nebeneinandersitzen, Rücken an Rücken stehen, die Augen geschlossen halten, an der frischen Luft spazieren gehen, Musik hören, sich an einem symbolischen Ort treffen, gemeinsam meditieren, Patient*innen Zeit allein im Sprechzimmer geben usw.

Schlüssel 3: Erneuerung der Analogien

Diese Form der Kreativität bezieht sich auf die innere Welt der Psychotherapeut*innen.

Weniger wichtig als die ersten beiden Schlüssel ist die dritte Form der Kreativität, die sich in der inneren Welt der Psychotherapeut*innen entfaltet. Wie Sprachlehrer*innen, die – um auf Dauer nicht in Wiederholung und Langeweile zu verfallen – Schüler*innen jedes Jahr ein anderes Buch zum Lernen vorschlagen, können Psychotherapeut*innen sich bemühen, die Konzepte, Analogien, Metaphern und Geschichten, die sie bei ihren Patient*innen regelmässig verwenden, zu erneuern.

Im Laufe der Jahre habe ich festgestellt, dass ich, wenn ich Patient*innen ein Konzept beschreiben wollte, wie zum Beispiel psychologische Spiele, auf eine begrenzte und vertraute Anzahl von Erklärungen, Begriffen und Beispielen zurückgreifen würde. Und je relevanter und aussagekräftiger diese Metaphern und Analogien waren, desto öfter verwendete ich sie; und je öfter ich sie verwendete, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass ich mich wiederholte. Eines Tages wollte ich aus diesem System ausbrechen und mich selbst der Herausforderung stellen, nicht stets die gleichen Bilder wiederzuverwenden, nicht ständig aus dem gleichen Arsenal an Erklärungen zu schöpfen. Meine Bezugnahmen zu ändern, wenn ich Wissen weitergebe, ist inzwischen für mich zu einem kleinen Denkspielchen geworden.

Die Erneuerung unseres Repertoires an Metaphern, Beispielen und Geschichten ist auch eine Möglichkeit, unsere Praxis lebendig und anregend zu halten, sowie eine Form des Respekts gegenüber den Patient*innen, denn diese neuen Bilder sind einzig und allein ihnen gewidmet.

Zum Abschluss

Ich hätte in diesem kleinen Beitrag auch die Kreativität einbeziehen können, die mit der Notwendigkeit verbunden ist, sich weiterzubilden und nach neuen Modellen zu suchen, die unser Verständnis erweitern. Als Psychotherapeut*innen machen wir alle die Erfahrung, dass ein*e Patient*in nicht in unsere konzeptionellen Schubladen passt und uns dazu bringt, zu graben, zu forschen und nach neuen Theorien zu suchen.

Das Thema ist riesig!

Bruno de Raemy ist ASP-Psychotherapeut und Supervisor. Zudem bildet er in Transaktionsanalyse aus. Er praktiziert seit mehr als 25 Jahren in einer Privatpraxis in der Region Nyon. Seine psychotherapeutischen Interessenschwerpunkte sind Psychotraumatologie, Neuroatypie, Körperpsychotherapie, veränderte Bewusstseinszustände und Psychoedukation.