Das hermeneutische Grundprinzip der Psychotherapie

Ein psychotherapiewissenschaftstheoretischer Comicstrip

Kurt Greiner

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 7 (14) 2021 35–37

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2021-2-35

Dieser psychotherapiewissenschaftstheoretische Comicstrip1 soll auf amüsante Weise veranschaulichen, dass der sinnverstehende Zugang («Hermeneutik») ein allgemeines, schulenübergreifendes Grundprinzip in der Psychotherapie repräsentiert. Dem Vorhaben liegt dabei die Prämisse zugrunde, dass der Gegenstand «Psychisches», für den sich auch die Psychotherapie interessiert, jeweils nur «subjektiv erlebbar» ist (Schmidt, 1995). Das heisst, dass ich jeweils nur mein Angsterleben, mein Schmerzerleben etc. habe, dass hingegen Karin jeweils nur ihr Angsterleben, ihr Schmerzerleben etc. und Gregor jeweils nur sein Angsterleben, sein Schmerzerleben etc. hat. Mithin können Karin und Gregor genauso wenig mein Angsterleben haben, wie ich deren Schmerzerleben haben kann, vice versa.

Mensch erlebt subjektiv …

Allerdings können Karin und Gregor mein subjektives Erleben «verstehen» und ich kann deren subjektives Erleben «verstehen» – vorausgesetzt natürlich, wir drücken unsere seelischen Befindlichkeiten in irgendeiner Form aus, teilen sie auf irgendeine Art und Weise mit. Insbesondere durch begriffssprachliche Artikulation können wir uns mit Psychischem, mit unserem eigenen sowie mit dem subjektiven Erleben unserer Mitmenschen in Beziehung setzen, können mit ihm dergestalt umgehen, dass es für uns begreiflich und nachvollziehbar wird.

Mensch artikuliert sein subjektives Erleben und macht es damit verständlich …

Im Zusammenhang mit der nachvollziehenden Erfassung von Äusserungen, die sich auf seelische Befindlichkeiten beziehen, sprach Wilhelm Dilthey (1833–1911) von der «Trias: Erleben – Ausdruck – Verstehen». Der deutsche Historiker und Philosoph, der als der erkenntnistheoretische Begründer der modernen Geisteswissenschaften gilt, konzeptualisierte jenes dreigliedrige Strukturschema des hermeneutischen Forschens im Rahmen seiner «verstehenden Psychologie», wonach sich subjektives «Erleben», so es «verstanden» werden will, zunächst im «Ausdruck» objektivieren muss. Dilthey (1982) zufolge könne sich «Verstehen» immer nur auf Formen und Gestalten des «Ausdrucks» beziehen, in denen sich das «Erleben» artikuliert, jedoch niemals auf das «Erleben» selbst in seiner Unmittelbarkeit. In der Alltagskommunikation konkretisiert sich diese Formel auf folgende Weise:

Diltheys Trias im Alltag – Zwischenmenschliche Relation: Mensch X — Mensch Y

1. Erleben: Mensch X erlebt Subjektives (Freude, Ärger, Angst etc.) im Rahmen seiner persönlichen Erlebens- und Erfahrungswelt (pEE).

2. Ausdruck: Mensch X artikuliert sein subjektives Erleben verbal und nonverbal.

3. Verstehen: Mensch Y macht sich die Äusserungen von Mensch X verständlich, indem er sie in den Rahmen seiner eigenen persönlichen Erlebens- und Erfahrungswelt (pEE) eingliedert.

4. Interaktion im Alltag: Gemäss dieser besonderen Trias (1–2–3), die natürlich in beide Richtungen funktioniert (X–Y/Y–X), gestaltet sich das konkrete Begegnungsgeschehen zwischen Mensch X und Mensch Y.

Dieses dreigliedrige Strukturschema der Hermeneutik finden wir als Grundprinzip auch in der Psychotherapie. Der*Die Klient*in thematisiert in der therapeutischen Situation unter anderem Erfahrungsinhalte, die er*sie im Rahmen seiner*ihrer persönlichen Erlebens- und Erfahrungswelt als mehr oder weniger problematisch erlebt. Den verbalen sowie nonverbalen Leidenstext2, den der*die Klient*in dabei produziert, macht sich der*die Therapeut*in in der Weise professionell verständlich, als er*sie ihn in den Kontext jener spezifischen Therapiekultur integriert, in der er*sie als Therapeut*in ausgebildet wurde bzw. die sein*ihr praktisches Arbeiten leitet. Therapiekulturen gibt es viele verschiedene, wie zum Beispiel tiefenpsychologische, verhaltenstheoretische, humanistische, existenzielle, systemische oder transpersonale (Greiner, 2021), und es hängt immer von der besonderen Therapiekultur ab, wie ein Leidenstext professionell verstanden wird. Mit dem spezifischen Verstehen bestimmt die Therapiekultur auch das konkrete Therapiegeschehen, das sich zwischen Therapeut*in und Klient*in entfaltet.

Diltheys Trias in der Psychotherapie – Professionelle Relation: Klient*in K — Therapeut*in T

1. Erleben: Klient*in K erlebt Subjektives (Ängste, Konflikte, Irritationen etc.) im Rahmen seiner*ihrer persönlichen Erlebens- und Erfahrungswelt (pEE).

2. Ausdruck: Klient*in K artikuliert sein*ihr subjektives Erleben in der therapeutischen Situation, indem er*sie verbalen und nonverbalen Leidenstext produziert.

3. Verstehen: Therapeut*in T macht sich den Leidenstext von Klient*in K professionell verständlich, indem er*sie ihn in den Denk- und Handlungskontext seiner*ihrer spezifischen Therapiekultur (sTK) integriert.

4. Therapeut*in-Klient*in-Kooperation: Gemäss dieser besonderen Trias (1–2–3) gestalten sich konkrete professionelle Formen psychotherapeutischen Kommunizierens, Interagierens und Intervenierens.

Literatur

Dilthey, W. (1982). Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Stuttgart/Göttingen: Teubner/Vandenhoeck & Ruprecht.

Greiner, K. (2020). Tiefenpsychologie als religionsähnliche Glaubensrichtung? ZfPFI, 7(1), 66–73.

Greiner, K. (2021). Akademische Psychotherapie. Wien: SFU Press.

Schmidt, N.D. (1995). Philosophie und Psychologie. Reinbek: Rowohlt.

Univ.-Prof.Dr.Dr. Kurt Greiner ist Professor für Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien. Seit 2007 lehrt und forscht er auf den Gebieten der Psychotherapiewissenschaftstheorie und der Therapieschulenforschungsmethodologie.
E-Mail: kurt.greiner@sfu.ac.at

Anmerkungen

1 Alle Comicfiguren stammen vom Autor selbst (© K. Greiner) und sind als geschlechtsneutral zu verstehen.

2 In Greiner (2020) ist in ähnlichem Zusammenhang von «seelischen Leidenssignalen» die Rede.