Sandra Feroleto
à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 7 (14) 2021 8–9
https://doi.org/10.30820/2504-5199-2021-2-8
Jeden Tag begegne ich einem Arzt, der seinen Kittel an den Nagel hängt, einem Krankenpfleger, der seinen ursprünglichen Beruf aufgibt, einer Leiterin einer Pflegeeinrichtung, die auf einen mehr als vorgezogenen Ruhestand hinarbeitet. Wer Menschlichkeit grossschreibt, versucht, der Höllenmaschinerie zu entkommen, die in Gang gesetzt wurde.
Im Praxisalltag erlebe ich ängstliche Patient*innen, die sich an ihre Masken klammern, gefolgt von Patient*innen, die darauf bestehen, sie abzunehmen, um freier sprechen zu können, gefolgt von Patient*innen, die ihre Masken abnehmen und wieder aufsetzen, ohne es überhaupt zu bemerken … Hin und wieder legen sie sie dabei auf dem Sofa ab, auf das sich nur wenig später andere Patient*innen setzen werden.
Nach welchen neuen Massstäben handeln wir? Die Regierung setzt sich mithilfe des übermächtigen Covid-19-Gesetzes über viele gesetzlichen Bestimmungen hinweg. Einige reagieren darauf zutiefst schockiert und empfinden ein Gefühl der Bedrohung. Andere wiederum fühlen sich beruhigt, da sie den Eindruck haben, dass «die Sache ernst genommen wird». Diejenigen, die für gewöhnlich dem Mainstream folgen, fühlen sich verloren, wissen nicht mehr, wem sie glauben, zuhören oder folgen sollen. Sie verlassen sich auf die Regierung oder auf die Narrative der Massnahmen-Gegner*innen … manchmal ohne richtig überzeugt zu sein.
In der Romandie erwiesen sich einige Regierungspositionen als beruhigend pragmatisch. Studierenden werden Tests angeboten, um zu vermeiden, dass sie entweder ihr Studium abbrechen oder sich impfen lassen müssen. Man weigert sich, zuzulassen, dass Bürger*innen andere Bürger*innen unter Druck setzen, sich impfen zu lassen, um so weiterhin die Möglichkeit zu haben, Geld zu verdienen. Glücklicherweise gibt es ein paar beruhigende Anzeichen für das ethische Handeln, den gesunden Menschenverstand, die Weitsicht und die Mässigung, die der Schweizer Politik im Allgemeinen eigen sind … Wie wirkt sich all dies auf unseren Praxisalltag aus?
Die Romandie ist natürlich nicht immun gegen all diese Probleme. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich in diesem à jour!-Beitrag nicht über ein anderes Thema als Covid-19 sprechen können. Wenige Wochen vor dem Urnengang, bei dem die Schweizer*innen zum zweiten Mal über das Covid-19-Gesetz und die Krisenbewältigungsstrategien der Regierung abstimmen konnten, fiel es schwer, sich nicht daran zu erinnern, dass dieselben Schweizer*innen sich geweigert haben, die Ferien zu verlängern oder die Arbeitszeit zu verkürzen.
Sind wir etwa ein besonders fügsames und unterwürfiges Volk? Stellt diese «dienende» Haltung, diese Tendenz, die Bedürfnisse anderer vor die eigenen zu stellen, nicht eine der grössten Schwierigkeiten der meisten unserer Patient*innen dar? Von ausgebrannten Eltern bis zu Berufstätigen, die den Boden unter den Füssen verlieren, von jungen Menschen, die erfolglos versuchen, die Erwartungen ihrer Mitmenschen zu erfüllen, bis zu Senioren, die nicht mehr wissen, wo sie sich nützlich machen können.
In jedem Fall wirft diese Krise Fragen auf. Sie stiftet Identität, kitzelt den Unabhängigkeitstrieb der einen und erschüttert die übliche Wohnzimmer-Konformität der anderen. Für die Psychotherapie eröffnen sich angesichts dessen neue Möglichkeiten. Es bewegt sich etwas. Und wir Psychotherapeut*innen haben die Aufgabe, unsere Mitbürger*innen bei ihrer Weiterentwicklung zu unterstützen. In welche Richtung auch immer. Den Blickwinkel ändern, die Perspektive wechseln. Dieser Prozess setzt neue Kreativität frei, schafft innovative Perspektiven …
Das ist es also, was ich uns in der Romandie wie auch anderswo wünsche: uns zu erneuern, solidarischer und freier zu werden. Marie-Eve Hildebrand, deren Vater bis vor Kurzem Landarzt in der Romandie war, hat ihm zu Ehren einen sehr schönen Film gedreht, Les Guérisseurs, in dem sie sich und die Welt fragt: Wer sind die Heiler*innen von heute?
Nachdem ich ihn mir angeschaut hatte, sagte ich mir, dass wir Psychotherapeut*innen genau das sind: Heiler*innen. Auch wenn man in der Romandie nicht von Heiler*innen sprechen sollte, denn das würde schnell exzentrisch, esoterisch und politisch inkorrekt wirken. Und doch denke ich, dass wir genau das sind: Heiler*innen der Wunden der Seele.
In der Romandie war ein Besinnungstag zu den Themen Angst vor dem Tod, Angst vor der Endlichkeit und Salutogenese geplant, an dem mehrere sehr engagierte welsche Persönlichkeiten teilnehmen sollten. Aber die Gesundheitskrise hat unsere Ambitionen bisher zunichte gemacht. Wir müssen noch warten, bis wir unser geplantes Treffen abhalten können.
Wer möchte, kann sich in der Zwischenzeit mit mir in Verbindung setzen, um der neu gegründeten Gruppe «Psy» beizutreten, deren Ziel es ist, in diesen hektischen Zeiten einen solidarischen Bewusstseinskreis zu bilden, aber auch Informationsflyer für die breite Öffentlichkeit über «Psy»-relevante Themen zu erstellen, die uns derzeit beschäftigen, insbesondere die Themen Angst, mentale Manipulation, Auswirkungen des Totalitarismus usw. Wie Sie sicher verstanden haben, handelt es sich um eine nonkonformistische Gruppe, die versucht, die Debatte über das, was wir derzeit durchmachen, offen und lebendig zu halten! Zögern Sie nicht, mir Bescheid zu geben, wenn Sie der Gruppe beitreten möchten.
Einstweilen werden wir uns hoffentlich bei unserer nächsten Frühjahrs-GV persönlich treffen – falls sich die Gelegenheit nicht vorher bereits ergibt. Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Winter am Kamin.
Sandra Feroleto ist Vorstandsmitglied der ASP und Delegierte für die Romandie.