Pierre Canouï
à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 8 (15) 2022 20–22
https://doi.org/10.30820/2504-5199-2022-1-20
Die Situation der Psychotherapie in Frankreich ist besonders, da das geltende Gesetz zunächst die Verwendung des Titels «Psychotherapeut*in» definiert. Die Ausübung der Psychotherapie wird in Frankreich und Europa nicht als eigenständiger Beruf angesehen. Der Titel «Psychotherapeut*in» gilt nicht als berufliche Qualifikation: Er weist auf eine Kompetenz hin, die bestimmte Berufsgruppen, in erster Linie Psycholog*innen und Ärzt*innen, für sich beanspruchen können.
Nach jahrelangen Diskussionen und Kämpfen, in denen versucht wurde, einen Rahmen für die Praxis der Psychotherapie zu schaffen, hat Frankreich einen gesetzlichen Rahmen verabschiedet. Es ist nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass das ursprüngliche lobenswerte Ziel darin bestand, unsere Mitbürger*innen vor Scharlatan*innen zu schützen, gefährliche sektiererische Entwicklungen zu bekämpfen und allen Personen, die sich an Psychotherapeut*innen wenden, eine ausreichende Garantie für Professionalität zu bieten. Gemäss diesem gesetzlichen Rahmen muss man, um den Titel «Psychotherapeut*in» zu verwenden und darüber zu berichten, seine Eintragung in das von der Agence Régional de Santé (ARS; Regionale Gesundheitsbehörde)1 geführte nationale Register der Psychotherapeut*innen erwirken.
In Frankreich ist der Titel «Psychotherapeut*in» geschützt (Art. 52 des Gesetzes 2004-806 vom 09.08.2004 und Dekret Nr. 2010-534 vom 20.05.2010) und Personen vorbehalten, die einen Masterabschluss (Art. 1) in Psychopathologie oder Psychoanalyse besitzen, sowie Personen mit einer Promotion in Medizin, die zusätzliche Ausbildungsanforderungen erfüllen:
Für Bewerber*innen, die die Mindestanforderungen für den Zugang zur Ausbildung erfüllen, aber nicht den Titel «Psycholog*in» führen dürfen, ist eine zusätzliche Ausbildung vorgesehen, die 400 Stunden Theorie und fünf Monate Praktikum umfasst. Themen dieser Post-Master-Ausbildung sind: Entwicklung, Funktion und psychische Prozesse; Unterscheidung der grossen psychiatrischen Pathologien; Theorien zur Psychopathologie; die wichtigsten psychotherapeutischen Ansätze.2 Diese Ausbildung wird nur von Einrichtungen angeboten, die von der ARS zugelassen sind.
Frankreich blieb in der Mitte stehen
In diesem Rechtsrahmen ist lediglich die Verwendung eines Titels, nämlich des Titels «Psychotherapeut*in», verankert. Es fehlt jedoch eine Definition des Inhalts der Praktika und ein Hinweis auf die Verpflichtung zum Lernen in Supervision. Es fehlt auch die Forderung nach persönlicher Erfahrung in der Psychotherapie, nach gründlichen Kenntnissen mindestens einer Methode und nach den notwendigen Voraussetzungen für die Ausübung des Berufs.
Wir wissen, dass internationale Instanzen seit der Strassburger Erklärung von 1990 – EAP –, also vor 32 Jahren, die Grundlagen für den Inhalt des Berufs gelegt haben. Es ist leicht, den Finger auf die Unzulänglichkeit des französischen Gesetzes zu legen. Einerseits können Fachleute, die keine persönliche Erfahrung in Psychotherapie, keine gründliche Ausbildung in einer Methode und keine Supervisionspraxis haben, den Titel «Psychotherapeut*in» verwenden und praktizieren. Andererseits gibt es in Frankreich sehr viele Psychotherapeut*innen, die die internationalen Kriterien erfüllen, aber den Titel «Psychotherapeut*in» nicht verwenden dürfen, da sie weder Ärzt*innen, Psycholog*innen, Psychoanalytiker*innen noch Masterabsolvent*innen sind. Diese Praktizierenden haben sich entschieden, die Bezeichnung «Psychotherapeut*in» zu verwenden oder den Namen ihrer Psychotherapiemethode zu benutzen: Gestalttherapeut*in, Transaktionalist*in, Motivationspsycholog*in, Verhaltenstherapeut*in, sogar Coach*in oder Spezialist*in für Hilfeleistung oder Beziehungstherapie usw.
Da es in Frankreich eine grosse Freiheit und ausreichende Toleranz bei der Berufsausübung gibt, vorausgesetzt, sie halten sich an die geltenden Gesetze, können diese Praktizierenden ihren Beruf frei ausüben.
So vielfältig ist die Organisation der Psychotherapeut*innen in Frankreich
Es gibt Psychotherapeut*innen, die den beschriebenen gesetzlichen Rahmen erfüllen. Andere Personen praktizieren Psychotherapie, dürfen den Titel «Psychotherapeut*in» aber nicht verwenden und verwenden daher die Bezeichnung «Psychopraktiker». Einige von ihnen sind von der FF2P3 und anderen Verbänden, die die EAP- und WCP-Validierungskriterien übernommen haben, zugelassen. Es gibt aber auch Psychopraktiker*innen, die praktizieren, ohne diese Kriterien zu erfüllen, da diese Bezeichnung nicht reguliert ist.
In Bezug auf Psychoanalytiker*innen kann man die gleiche Bemerkung machen: Einige sind Mitglieder psychoanalytischer Gesellschaften und in deren Verzeichnissen eingetragen, aber da die Verwendung des Titels «Psychoanalytiker*in» völlig frei ist, können einige ihn nach eigenem Gutdünken verwenden, ohne die Aufnahmekriterien der psychoanalytischen Gesellschaften zu erfüllen. Die Feststellung wurde gerade von der Académie de Médecine in ihrem Bericht gemacht:
«Der Vergleich zwischen dem, was in Frankreich und in den Nachbarländern als Ausbildung vor der Anerkennung einer Kompetenz in Psychotherapie gefordert wird, offenbart eine Diskrepanz, die durch nichts zu rechtfertigen ist. Frankreich muss sich mit einem Referenzsystem ausstatten, das theoretische und praktische Ausbildungsangebote strukturiert, die einen Zugang zu dieser Kompetenz eröffnen.»4
Man kann nur sagen, dass es noch ein weiter Weg ist, um dem Beruf der Psychotherapeutin, des Psychotherapeuten einen echten Inhalt zu geben und ihn als freien und autonomen Beruf anzuerkennen. Wir sind in der Mitte des Wegs stehen geblieben.
Dr. Pierre Canouï ist Ehrenpräsident der FF2P und Pädagogischer Leiter des DU für Psychotherapie und Entwicklungspsychopathologie Université de Paris Cité Universitätsausbildung, die von der ARS für den Erwerb des Titels «Psychotherapeut*in» zugelassen ist.
1 Eine ARS ist eine öffentliche Verwaltungseinrichtung des französischen Staats, die für Umsetzung und Steuerung der Gesundheitspolitik in der Region zuständig ist. Sie untersteht den Ministerien für soziale Angelegenheiten und Gesundheit. Es gibt 18 ARS, die den 18 Regionen Frankreichs entsprechen.
2 Bericht der nationalen Akademie für Medizin (18.01.2022): Olié, J. P. et al., Psychothérapies : une nécessaire organisation de l’offre. https://www.academie-medecine.fr/wp-content/uploads/2022/02/RAPPORT-Psychotherapies.pdf.
3 Es handelt sich um von der FF2P (Fédération Française de Psychothérapie et Psychanalyse; Französischer Verband für Psychotherapie und Psychoanalyse) zugelassene Psychopraktiker*innen, die alle Kriterien der EAP und WCP erfüllen. Die FF2P ist der grösste Verband, in dem Psychotherapeut*innen, Psychopraktiker*innen und Psychoanalytiker*innen zusammengeschlossen sind.
4 Original auf Frz. Bericht der nationalen Akademie für Medizin (wie zuvor), S. 8.