Wie Psychotherapeut:innen Menschenrechte
in Krisen- und Kriegsgebieten stützen

Peter Schulthess

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 8 (15) 2022 23–24

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2022-1-23

So wie es schwer zu verstehen war, wie die Balkankriege 1991–2001 im Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens praktisch vor der Haustür der Schweiz stattfinden konnten, so schwer fällt es zu verstehen, wie aktuell der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine Realität werden konnte, mit dem Ziel, historische russische Reichsgrenzen wieder zu etablieren, die Ukraine als Staat auszulöschen und die Ukrainer:innen als Volk auszulöschen. Als Psychotherapeut:in mag man versucht sein, dies als Unfähigkeit zu interpretieren, den Zerfall von einstigen Reichen einzugestehen, zu akzeptieren und zu betrauern und stattdessen mit aller Gewalt frühere Grenzen und Machtzustände wiederherzustellen.

Kriege erzeugen unermessliches Leid

Wie auch immer, Kriege bedeuten immer grosses, unermessliches menschliches Leid für die Betroffenen. Derzeit erleben wir den grössten Strom von Menschen, die aus den Kriegsgebieten in der Ukraine flüchten, um ihr Leben zu retten. Sie alle sind traumatisiert und brauchen auch psychotherapeutische und psychiatrische Hilfe. Wo soll diese herkommen? Wie soll sie finanziert werden?

Psychotherapeut:innen sehen sich den Menschenrechten verbunden. Diese zu schützen, ist Teil ihrer ethischen Verpflichtung als Berufstätige. Während der Balkankriege waren viele Psychotherapeut:innen in Kooperation mit dem UNHCR involviert in Projekte zur psychotherapeutischen Hilfe für kriegstraumatisierte Erwachsene und Kinder. Universitäten engagierten sich und führten vor Ort Forschungsprojekte verbunden mit Therapieangeboten durch. Das ist durch manche Literatur belegt.1 Ausbildungsseminare wurden gehalten, um Fachleuten und Lai:innen vor Ort Kompetenzen in der Betreuung von Traumabetroffenen zu vermitteln.

Psychotherapieverbände helfen

In den vergangenen Jahren haben psychotherapeutische Verbände und manche ihrer Mitglieder Initiativen entwickelt, psychotherapeutische Hilfe in Krisengebieten anzubieten und auszubauen. So initiierten die EAP (European Association for Psychotherapy) und die EAGT (European Association for Gestalt Therapy) in der Ukraine nach der Niederschlagung der Maidan-Bewegung 2014 verschiedene Projekte zum Support der Ukrainischen Fachkolleg:innen bei der Betreuung von Traumabetroffenen. Mit dem Ausbruch des Krieges wurden diese Initiativen nun weiter intensiviert.

In verschiedenen Ländern (so z. B. Ukraine, Russland, Rumänien, Bulgarien, Kosovo, Deutschland, Griechenland, Österreich und andere mehr) haben die Nationalen Dachverbände der Psychotherapeut:innen Committees gebildet, die Verbandmitglieder aufrufen niederschwellig und oft ehrenamtlich Ressourcen bereitzustellen, um Kolleg:innen Supervision und Weiterbildung oder Direktbetroffenen Therapie und Beratung zu ermöglich. Insbesondere auch in Ländern, die nun Tausende von Geflüchteten aufnehmen und fachliche Hilfe benötigen, weil die Kapazitäten der bestehenden Versorgungsstrukturen überstiegen werden.

Committee for Human Rights and Social Responsibility

Die EAGT hat seit Jahren ein «Committee for Human Rights and Social Responsibility», das ehrenamtliche Unterstützung durch Fachleute des Verbandes anbietet, um etwa die Arbeit der «Peace Brigades»2 zu unterstützen und begleiten. Die Peace Brigades sind eine NGO, die Menschenrechtsaktivist:innen in Krisenländern begleiten durch Präsenz. Ein anderes Projekt ist die Unterstützung von Volontär:innen in den Flüchtlingslagern Griechenlands. Das Committee führt Weiterbildungsprogramme in der Ukraine und in Weissrussland durch, um Psychotherapeut:innen in ihren Kompetenzen zu unterstützen und fortzubilden. Die Grundidee dabei ist, dass Volontär:innen in NGOs arbeiten und Psychotherapeut:innen ebenfalls als Volontäre und Volontärinnen diese in ihrem Einsatz unterstützen, wo dies gewünscht und benötigt wird. Die Arbeit dieses Committees ist in einem kürzlich erschienenen Buch anschaulich beschrieben.3

Schweizer Projekte und internationale Konferenz

Auf Anregung eines ASP-Mitglieds hat sich an der Mitgliederversammlung vom 11. April 2022 auch in der ASP eine Arbeitsgruppe gebildet, die im Verband gegenüber der Öffentlichkeit eine Anlaufstelle bilden will, wo in die Schweiz Geflüchtete niederschwellig Psychotherapeut:innen finden können, die bereit sind, ehrenamtlich oder zu reduziertem Tarif Hilfe anzubieten, wenn keine Versicherung dafür aufkommt bzw. bis eine Versicherungslösung gefunden werden kann. Die Arbeitsgruppe wird sich in Kürze an die ASP-Mitglieder wenden.

Die «Gesundheitsförderung Schweiz» hat eine Website zur Gesundheitsförderung von Geflüchteten aufgeschaltet, auf der Initiativen zur Unterstützung von Geflüchteten präsentiert werden.4 Die EAP wird am 15./16. Oktober 2022 in Pristina eine Konferenz organisieren zur Frage der psychotherapeutischen Hilfe für nach Europa Geflüchtete. Ziel ist ein internationaler Erfahrungsaustausch über Projekte, die die Helfer:innen von Geflüchteten unterstützen können.

Peter Schulthess ist Vorstandsmitglied der ASP und repräsentiert den Verband in der EAP.

Anmerkungen

1 Bspw. Butollo, W. Hagl, M. & Krüsman, M. (2003). Kreativität und Destruktion posttraumatischer Bewältigung. Forschungsergebnisse und Thesen zum Leben nach dem Trauma. Stuttgart: Klett-Cotta.

3 Kato, J., Klaren, G. & Levi, N. (2022). Supporting Human Dignity in a collapsing Field. Siracusa: Istituto di Gestalt HCC Italy Publ. Co.