Das Gendersternchen ist übergriffig

Marie Anne Nauer

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 8 (15) 2022 27–28

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2022-1-27

Das Gendersternchen – und mit ihm auch alle bedeutungsgleichen Zeichen – ist in mehrfacher Hinsicht übergriffig. Es verletzt Persönlichkeitsgrenzen auf verschiedenen Ebenen.

Die Verwendung zur Gendersprache bewegt sich, nicht unähnlich der Woke-Bewegung und der Cancel Culture, mit einem moralischen Anspruch entlang einer durchlässigen Grenze zum Gesinnungsterror. Die inzwischen nicht mehr nur latente Gefährlichkeit dieser gesammelten Intoleranzen ist in verschiedener Hinsicht ausgeleuchtet worden. Ein Aspekt aber ist bis jetzt meines Wissens noch nicht aufgetaucht – bezeichnenderweise, denn er verkörpert die Wiederkehr des Verdrängten.

Der sprachliche Übergriff

Zunächst und zuvorderst wäre da ein korrektes Sprachempfinden: Für einen Psychotherapeuten ist der Umgang mit Sprache essenziell, und es gibt auch eine Ethik des Sprachgebrauchs. Der sprachliche Unsinn der Genderformen konnte sich verbreiten, weil seine Verfechter nicht mehr Latein können und gerade nicht sprachbewusst unterwegs sind, obwohl sie das Gegenteil behaupten; deshalb wissen sie nicht, dass das grammatikalische genus nicht dem biologischen sexus gleichzusetzen ist, und sie wissen nicht, was ein Generikum ist und dass es auch weibliche Generika gibt.

Der neuropsychologische Übergriff

Wenn ich in jedem zweiten Satz ein Sternchen lesen muss, werde ich in meinem Lese- und damit Gedankenfluss dauernd abgelenkt und empfindlich in der Konzentration gestört. Ich muss mir überdies ja auch die ganze Zeit noch vorstellen, wie ich diese Wörter aussprechen würde, falls ich in die Lage käme, dies tun zu müssen. Wie der Neuropsychologe Lutz Jäncke kürzlich einmal mehr ausgeführt hat, bedeutet dauernde Ablenkung grossen Stress für die Psyche: Das Gehirn ist nicht dafür gemacht.

Der moralische Übergriff

Nun operieren die Vertreter der Gendersprache gerade mit einem orthodoxen, weil allein selig machenden Anspruch. Das heisst dann: Ich darf meine Sprache nicht mehr sprechen und schreiben. Insofern ist eine Analogie festzustellen zwischen der Genderdiskussion und derjenigen um die neuen Tabuwörter – bediene ich mich eines solchen, werde ich latent beschuldigt und immanent kriminalisiert.

Sprachzwang als politischer Übergriff

Diese neuen Tendenzen, die unter dem Deckmantel der Toleranz daherkommen und tatsächlich in höchstem Mass intolerant sind, halte ich für sehr gefährlich. Wohin politische Instrumentalisierung mittels Sprachzwang führen kann, haben wir wiederholt erlebt – es geschieht immer in diktatorisch-autoritärem Zusammenhang. Die rechts- und linksextremen Sprachzwänge im Europa des 20. Jahrhunderts wecken allesamt höchst ungute Assoziationen.

Wohin dies heute führen kann, hat etwa ein Fall an der Universität Wien gezeigt, wo eine Masterarbeit abgelehnt wurde, weil die Studentin sich nicht der vorgeschriebenen Genderformen bedient hatte. Der Fall im Zürcher Gemeinderat mit einer nicht gendergerecht formulierten Motion dürfte stadtbekannt sein: Das Gericht hat glücklicherweise zugunsten der Sprachfreiheit entschieden.

Die Tatsache, dass die neuen Zwänge vornehmlich von Frauenseite und scheinbar sanfter daherkommen, enthebt sie nicht ihres Zwangscharakters. Sprache aber darf niemals instrumentalisiert werden; Sprache hat neutral zu bleiben. Es ist noch keine einzige zusätzliche Professorin an die Universität berufen worden, bloss weil in der Habilitationsordnung von Professor*innen oder ProfessorInnen oder Professor:innen die Rede ist. Wenn sich die Frauen emanzipiert haben, dann aus eigener Kraft und nicht dank der Gendersprache, wie bereits an verschiedenen Orten schlüssig zu lesen stand. Diese ist laut Studien sogar kontraproduktiv: Das Gefälle wird – so vorhanden – zementiert. Es geht auch nicht an, dass Frauen oder Minderheiten ein Opferstatus aufoktroyiert wird.

Erschreckend ist, dass sich ein grosser Teil des Verwaltungsapparats sowie praktisch alle Bildungsinstitutionen und zunehmend Medien dazu einspannen lassen, ohne die Sache zu hinterfragen – mit der Ausrede: «Man muss doch heute …» Nein! Gar nichts muss man! Im Gegenteil: Nur selbst denken muss man, und sich trauen, sich gegen den aktuellen Mainstream zu stellen. Neue Männer braucht das Land! Und ja: Neue Frauen. Und neue Queers – keine Opfer.

Diese Genderisierung will nämlich niemand. 80 % der Deutschen lehnen die Gendersprache ab. An der vorletzten Versammlung eines europäischen Dachverbandes haben 16 Delegierte aus 13 Ländern die Genderisierung einstimmig abgelehnt.

Der sexuelle Übergriff

Wenn ich – als allgemein sehr tolerante und offene Person – in jedem zweiten Satz ein Sternchen lesen muss und dadurch gezwungen werde, mir für einen Bruchteil einer Sekunde zu überlegen, ob die gemeinten Personen Männer, Frauen, Schwule, Lesben, Bisexuelle, Inter-, Trans- oder Asexuelle, sonstige Queers oder allenfalls Meerfrauen oder Marsmenschen1 seien und auf welche Art diese Personen allenfalls ihre geschlechtliche Identität ausleben, sprich: Sex haben, empfinde ich das als übergriffig und als Verletzung meiner Persönlichkeitsgrenzen. Ich möchte mich nämlich ganz einfach nur mit dem meist wissenschaftlichen Inhalt des aktuellen Artikels befassen, in dessen Kontext das Geschlecht der handelnden Personen meist keine Rolle spielt.

Fazit

Als Psychotherapeuten möchten wir unsere Patienten zu höchstmöglicher individueller Freiheit, zur Selbstfindung und zur Übernahme entsprechender Verantwortung führen. So sollten wir uns sehr in Acht nehmen und den Anfängen wehren – und nicht den Weg ebnen zu einer intoleranten (Sprach-)Diktatur, die freilich unter dem Deckmantel neuer Gerechtigkeit und Toleranz daherkommt. Sie kann keine Option sein.

Das Gendersternchen (und seine sämtlichen politisch korrekten Verwandten) sind also mehrfach übergriffig und somit zutiefst persönlichkeitsverletzend. Und das, was verbannt und verdrängt werden sollte, nämlich der Übergriff, ist – schwupp! – wieder da. Nur heimtückischer als zuvor.

Dr. Marie Anne Nauer ist Psychoanalytikerin und Schriftpsychologin in freier Praxis in Zürich. Sie leitet das Institut für Handschriftwissenschaften und die Akademie für Handschriftanalyse sowie die Ethikkommission der ASP.

Anmerkungen

1 Man vergleiche dazu die – dort durchaus ergötzlichen – genderneutralen Toilettenschildchen bei Google.

Genderneutrales Toilettenschildchen bei Google