Respekt und Selbstbestimmung sehen in Uganda oft anders aus

Eva Winizki

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 8 (15) 2022 29–32

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2022-1-29

Dieser Artikel entstand vor dem Hintergrund von Erfahrungen in einer NGO, die in Uganda tätig ist: Ugandan Empowerment & Career Development (UECD). Der Start dieser NGO erfolgte dadurch, dass Eva Winizki Doreen und Ronald eine Berufsausbildung an der Universität in Kampala/Uganda finanzierte. Sie unterstützte danach deren Initiative, auch anderen mittellosen Jugendlichen aus den Dörfern Ugandas eine Gelegenheit zu geben, in eine Berufskarriere einzusteigen. 2007 gründete sie UECD Switzerland für das Fundraising. Bisher schlossen 25 Studierende ihr Studium in Kampala erfolgreich ab, acht sind noch in laufenden Studiengängen, Jahr für Jahr werden drei bis fünf Jugendliche neu aufgenommen. Operativ wird die Organisation in Uganda seit 15 Jahren von den Alumnae und Alumni geführt. UECD ist aktuell – auf Initiative der Ugander*innen – im Übergang, eine non-profit Company limited by guarantee in Uganda zu gründen: ein entscheidender emanzipativer Schritt in die Autonomie der Organisation. Im Folgenden werden einige interkulturelle Aspekte aus der täglichen Arbeit geschildert.

Prioritäten und Pünktlichkeit

Unsere Kernaufgabe bei UECD ist die Vergabe von Stipendien für eine Berufsausbildung. Wir nutzen aber auch bestehende Kontakte, um Alumni und Alumnae mit Schweizer Firmen in Uganda zu vernetzen. Beim Meeting kommt es zu einem typischen schweizerisch-afrikanischen Kulturcrash: Wir haben auf 10 Uhr abgemacht. Von sechs Studierenden sind zwei hier. Die ganze Geschäftsleitung sitzt ruhig da, Blöcke und Kugelschreiber auf den Tischen, gut vorbereitet auf unser Gespräch. Ich werde nervös. Wo bleiben die Studierenden, für die wir dieses Treffen organisiert haben? Für sie wäre eine Stelle in einer Schweizer Firma in Kampala nach dem Studienabschluss ein Lottosechser. Eine solche Chance lässt man sich doch nicht entgehen? Keine telefonische Absage kommt. Wir wissen nicht, wo sie sind. Ich bitte um Entschuldigung, worauf der CEO gelassen sagt: «Wissen Sie, Afrikaner*innen brauchen in unserer Firma etwa ein Jahr, bis sie in unsere Kultur der Pünktlichkeit und Dossierkompetenz hineingefunden haben und eine Viertelstunde vor Beginn vorbereitet am Tisch sitzen.» Nach und nach trudeln denn auch alle Studierenden ein. Um 11 Uhr können wir beginnen.

Früher schob ich diese Schwierigkeiten, pünktlich zu sein, auf den unzuverlässigen Transport in Afrika. Heute merke ich, dass Unpünktlichkeit in Uganda eine verbreitete Angewohnheit ist. Hier geht man von der qualitativen Zeit aus – man setzt Prioritäten. Ereignet sich auf dem Weg zu einer Verabredung etwas Wichtigeres oder es taucht ein Hindernis auf, so hat das Vorrang. Unsere Arbeit und unser Beziehungsleben sind hingegen so eingerichtet, dass wir Abmachungen einhalten, auch ohne uns zu überlegen, ob diese sinnvoll sind und Verspätungen durchgeben. Unser Sicherheitsbedürfnis, aber vor allem die Organisation unserer Arbeitswelt, setzen Pünktlichkeit als Grundsatz voraus. Das ist unseren Studierenden in Kampala fremd.

Höflichkeit ohne Augenkontakt

Es gelten non-verbal verschiedene Codes, die entschlüsselt werden müssen. In Uganda gilt es beispielsweise als respektvoll, Autoritätspersonen nicht in die Augen zu schauen, sondern den Blick im Gespräch auf den Boden zu richten. Bei uns wird dieses Verhalten nicht mit Respekt in Zusammenhang gebracht, sondern mit Unaufmerksamkeit, Desinteresse oder Schuldbewusstsein. Wir Schweizer*innen wollen unserem Gegenüber auf Augenhöhe begegnen, wir streben nach Gleichberechtigung. Uns Sponsor*innen beim Vornamen nennen, ist für die Studierenden höchst ungewohnt. Oft geben sie uns deshalb Zunamen wie Mummy, Aunty, manchmal auch spasseshalber «Queen Doreen», und zeigen uns damit ihren Respekt.

Auch die verbalen Codes weichen von unseren ab. Wir stellen gern direkte Fragen. Fragen an uns zu stellen oder unsere Fragen mit einer persönlichen Story zu beantworten, sind unsere Studierenden nicht gewohnt. Sie wuchsen aus streng hierarchischen und patriarchalischen Systemen in die Erwachsenenkultur hinein. In der Schule galt es als höflich, den Lehrer*innen Ein-Wort-Antworten zu geben. Sich proaktiv ins Gespräch einzubringen und dieses mitzugestalten, gilt im schulischen Kontext als respektlos. Wir Schweizer*innen sind jedoch diskussionsfreudig und frustriert, wenn die Initiative im Gespräch immer nur von uns ausgeht.

Die Autoritätsgläubigkeit in Uganda lässt sich vielleicht mit derjenigen in Europa vor 100 Jahren vergleichen: In der afrikanischen Familie lebt das Patriarchat bzw. Matriarchat, vor staatlichen Behörden und Militär hat man Angst und selbst bekanntermassen korrupte kirchliche Würdenträger werden mit höchstem Respekt behandelt. Autoritätssystemen entzieht man sich nach Möglichkeit klandestin.

So erstaunte uns, dass eine der Studentinnen ihre Schwangerschaft verheimlichte, bis wir schliesslich das Neugeborene zu sehen bekamen. Für sie war es hingegen eine logische Vorsichtsmassnahme, weil sie befürchtete, aus dem Programm zu fallen, also bestraft zu werden – eine unbegründete Angst. Wir Schweizer*innen möchten Transparenz und wünschen persönliche Offenheit. Wir wollen in der Diversität einen gemeinsamen Beziehungsprozess führen und die kulturellen Unterschiede verstehen. Dies setzt eine Praxis der Reflexion voraus, die sich unsere Studierenden erst im Studium anzueignen beginnen. Als NGO in der Schweiz justieren wir uns gerade neu innerhalb des totalitären ugandischen Regierungssystems, das 2021 54 NGOs geschlossen hat. Die Zivilgesellschaft wird gegenwärtig als Staatsfeindin angesehen, weil sie den Staat kritisiert. Deshalb registrieren wir auf Wunsch der Alumni und Alumnae unseren operativen Teil in Uganda als non-profit company limited by guarantee. Eine solche hat nicht mit Misstrauen des Staates zu rechnen und kann von den Alumni und Alumnae selbstständiger geführt werden.

Liebesheirat dank Uni-Abschluss

Die Familienorientierung und das ethnische kollektive Denken sind absolut prägend. Die gute Beziehung zur Herkunftsfamilie ist für Mütter in Scheidung die existenzielle Überlebensstrategie. Es gibt keine Alimente, Männer gehen ohne gesetzliche Unterstützungspflicht aus den Ehen. Wenn die Frauen wieder heiraten, werden die Kinder früherer Partner ins Dorf zurückgeschickt und von Grosseltern und Aunties aufgezogen. Nur die eigenen Kinder mit der neuen Frau werden angenommen. Deshalb ist die Berufsbildung essenziell für die Mädchen. Eine Ausbildung an der Universität positioniert die Frauen in der Gesellschaft neu. Sie müssen nicht mehr früh dem Druck einer Geburt nachgeben. Sie können den Zeitpunkt wählen. Damit machen sie einen Schritt hinaus aus dem Patriarchat und dem ethnischen Denken. Mit genügend individuellem Selbstvertrauen kommt für unsere Studierenden nach Abschluss des Studiums auch eine Liebesheirat infrage. Fast alle nutzen diese Chance. Sie wählen oft gebildete Männer und emanzipierte Frauen.

Doch ist ein beeindruckender Bildungsweg natürlich kein Garant für glückende zwischenmenschliche Beziehungen, wie das Beispiel von William zeigt. Als ehemaliger Strassenjunge wurde er durch UECD Elektroingenieur. Die Familie seiner Frau akzeptierte ihn aufgrund seiner Vorgeschichte nicht, weshalb er sich von ihr trennte. Unsere Aufgabe war es dann, ihn zu überzeugen, dass seine kleine Tochter trotzdem einen Vater braucht und er auch finanziell für das Kind aufkommen muss. Er trifft sie heute regelmässig und bezahlt für ihren Unterhalt, nicht jedoch für alle Geschwister seiner Frau und ihre Eltern.

Kapazität für Selbstfürsorge fehlt

Alle Stipendienanträge, die an unsere Organisation gestellt werden, haben eine biografische Gemeinsamkeit: Die jungen Menschen mussten seit ihrer Kindheit eine Krisensituation nach der andern bewältigen. Offen schreiben sie über die Wege, wie sie in Schulen aufgenommen wurden. Kinder ohne Eltern mussten den Verwandten, die das Schulgeld bezahlten, den Haushalt führen. Andere verdienten sich das Geld an der Grenze zu Kenia durch nächtlich transportierte Schmuggelware, verfolgt von der Grenzpolizei, wieder andere putzten am Abend das Schulhaus und pflegten den Garten des Direktors oder mussten nach der Schule im Laden ihrer Unterstützer*innen bis spät in die Nacht mitarbeiten. Sie waren der Willkür unterworfen und lebten in grosser Unsicherheit. Das machte sie existenziell sehr präsent: Es ging ums Überleben.

Unter diesen Umständen hatte die körperliche und seelische Gesundheit nie Priorität. Dementsprechend hoch ist die Leidensfähigkeit vieler Studierender: Victoria schleppte sich ein halbes Jahr depressiv, konzentrations- und energielos herum, bis ich sie zu einem Arztbesuch drängte. Diagnose: Tuberkulose. Marian hatte 2017 einen Unfall auf einem Taxitöff, musste operiert werden und lag zweieinhalb Monate im Koma. Sie studierte danach ohne Semesterverlust weiter. Als ich sie antraf, bewegte sie sich steif. Ich legte ihr eine Physiotherapie nahe. Nach drei Sitzungen hörte sie damit auf: Sie funktionierte ja im Studium. 2021 war sie nochmals Opfer eines Unfalls, bei dem der Bus umstürzte. Die Verletzungen waren minimal und sie schloss kurz darauf ihren Bachelor in Jurisprudenz ab. Der zweite Unfall triggerte den ersten Unfall und löste eine posttraumatische Stressreaktion aus. Ich forderte sie auf, eine Traumatherapie zu machen und auch die Physio wieder aufzunehmen. Schon nach vier Stunden Traumaarbeit konnte sie sich frei und emotional dazu äussern, was bei ihr alles passiert, mit welchen Ängsten sie sich auseinandersetzen muss. Sie begann zu begreifen, was ihr eigentlich geschah und geschieht.

Unsere Studierenden sind generell nicht gesundheitsbewusst. Sie haben Angst vor Impfungen, vor dem Arzt, kennen psychotherapeutische Arbeit nicht und Prävention ist ein Fremdwort. Oft fehlt auch schlicht das Geld für Behandlungen. Krankenversichert ist erst die Mittelschicht. Nur langsam beginnen die Studierenden, ihren Körper präventiv bewusst gesund zu halten mit Krafttraining, Jogging und Yoga. Sie beginnen zu spüren, wann sie medizinische Hilfe brauchen, wie beispielsweise Fary: Sie ging mit Symptomen frühzeitig zum Arzt, wo Typhus diagnostiziert und mit entsprechend starken Medikamenten behandelt werden konnte. Für jemanden mit ihrer Geschichte ist das ein grosser Schritt. Zuerst kommen hier die Grundbedürfnisse wie Essen, Wohnen, Studium und Arbeit, dann die sozialen Bedürfnisse wie Freundschaft und Liebe. Erst dann wächst die Motivation für die körperlich-psychische Gesundheit und die Leute beginnen mit Sport oder lassen sich behandeln.

Wie in allen Ländern spiegelt sich die persönliche Entwicklung im Bildungsstand, der wiederum mit der wirtschaftlichen Situation in engem Zusammenhang steht. Menschen, die im ländlichen Umfeld aufgewachsen sind, denken traditionell-ethnisch, die urbane Gesellschaft denkt progressiv. Genau so lässt es sich auch in westlichen Ländern beobachten. Kulturelle Unterschiede sind also nicht nur historisch zwischen verschiedenen Weltregionen zu sehen, sondern eben auch innerhalb unserer Kulturen, abhängig vom Bildungsstand der Gesellschaft und der Familien.

Eva Winizki, M. Sc., ist eidg. anerkannte Psychotherapeutin ASP, Psychologin und Organisationsberaterin. Sie wuchs inmitten einer afrikanischen Kunstsammlung auf, roch Afrika bereits als siebenjährige in der Stube, wenn die afrikanischen Händler ihre Objekte auspackten. Kenntnis über die afrikanische Kultur und Denkweise eignete sie sich in ethnologischen Untersuchungen bei den Ashantis in Ghana an, als sie über sechs Jahre Heiler*innen in ihren therapeutischen Methoden beobachtete und Interviews mit ihnen machte. Danach arbeitete sie mit fact, einem Büro für interkulturelle Beratung in Stuttgart für die deutsche Entwicklungshilfe, führte mit Kolleg*innen zusammen Konfliktmanagement-Seminare in Ost- und Westafrika durch und erwarb sich mehr Kenntnisse hinsichtlich interkultureller Konflikte.

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