Franziska Greber
à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 8 (15) 2022 33–35
https://doi.org/10.30820/2504-5199-2022-1-33
In den letzten 40 Jahren drang – dank der Frauenbewegung und später auch #MeToo – das Thema Ausnützung von Abhängigkeiten in den Fokus der Öffentlichkeit. Wiederholt stehen neben Einzeltäter*innen auch Organisationen wie Schulen, Sportverbände, Kirchen, die Filmindustrie, Universitäten, Spitäler und Kliniken am Pranger, gegen Machtmissbrauch weder präventiv zu wirken, noch aktiv gegen Vorfälle vorzugehen, sondern diese zu verschleiern.
Lange ging man davon aus, dass Integritätsverletzungen eine Abhängigkeitsbeziehung voraussetzen. Erst später wurde deutlich, dass Grenzverletzungen auch in symmetrischen Beziehungen vorkommen. Weiter wurden bei Gewalt unterschiedliche Beziehungskonstellationen, Bindungsverhalten, Gewalt-Dynamiken, das Verhalten des Umfelds, Kontexte, Gefährlichkeits- und Gefährdungseinschätzungen als weitere Faktoren miteinbezogen. Dies erweiterte nicht nur die Sicht, sondern führte auch zu anderen Herangehensweisen, Beratungsangeboten und Rechtsgrundlagen.
Im Wesentlichen können folgende Formen der Gewalt unterschieden werden:
Beziehungskonstellationen und Kontexte
Gewalt findet in verschiedenen Beziehungskonstellationen und Kontexten statt. So kann es sich um die eigene Gewaltausübung gegenüber der Klientel, von Kolleg*innen im gleichen Betrieb, von Fachleuten aus anderen Organisationen oder Personen des sozialen Nahraums handeln.
Weiterhin ist es wesentlich festzustellen, ob die Gewalt in einer oder mehreren Beziehungskonstellationen stattfindet, zum Beispiel als Gewalt unter Erwachsenen, von Erwachsenen gegen Kinder, von Jugendlichen gegen ihre Eltern, unter Gleichaltrigen als Peergewalt, gegen Geschwister oder in partnerschaftlichen Jugendbeziehungen.
Die Beziehungskonstellationen (z. B. vom Vater und gleichzeitig Bruder) sind ebenso zu betrachten wie die Differenzierung, inwiefern die Opfer nur Opfer oder auch Täter*innen sind und ob die Täter*innen nur Gewaltausübende oder auch Opfer sind.
Zu beachten ist ebenfalls, dass die Ausübung von Gewalt in einer oder mehreren Beziehungskonstellationen (multikonstellationelle Gewalt) oder auch in verschiedenen Kontexten gleichzeitig (multikontextuelle Gewalt) stattfinden kann, gemeint sind Gewalt im sozialen Nahraum, in der Organisation/in professionellen Beziehungen, strukturelle Gewalt, organisierte Gewalt (z. B. Gangs).
Will man Schutz und Sicherheit herstellen, müssen alle Möglichkeiten geprüft und ins Handeln einbezogen werden.
Macht und Abhängigkeit in der Psychotherapie
Fachleute verfügen über Handlungskompetenz und können berufliche, wirtschaftliche, seelische, geistige und gesundheitliche Zusammenhänge von ratsuchenden Menschen definieren und gewichten. Auch das hohe gesellschaftliche Ansehen, die Sozialkompetenz und ihre Glaubwürdigkeit stützen ihre Macht und Privilegien. Darum stehen sie sowohl in der Verantwortung als auch in der Pflicht, sich an den beruflichen Standards zu orientieren, die ihr professionelles Vorgehen bestimmen. Mit ihren Fähigkeiten und Machtquellen schaffen sie eine fördernde Kultur der Abhängigkeit.
Setting definieren
In Leitbildern, ethischen Richtlinien und Standesregeln ist das jeweilige Verständnis professioneller Beziehungen definiert. Es geht um Gestaltung der Beziehung, Verantwortung und Massnahmen bei Integritätsverletzungen. Auch die Betriebs- und Organisationskultur, berufsspezifische Gepflogenheiten und das allgemeine kulturelle und gesellschaftliche Verständnis sind im Umgang mit professionellen Grenzen massgebend. In verschiedenen Kontexten gelten verschiedene berufsspezifische Settings. So fügt eine Zahnärztin einer Patientin beim Bohren möglicherweise Schmerzen zu und die Patientin gibt dazu sogar ihr Einverständnis. Der Kontext der Zahnarztpraxis macht klar, dass man hier für die Behandlung den Mund öffnen und nicht wie im Zug das Ticket zeigen muss. Die Verantwortung für die Gestaltung und Einhaltung des Settings obliegt immer der Fachperson.
In der Psychotherapie entsteht eine aussergewöhnliche Nähe, was ein sorgfältiges Klären, Einhalten, aber auch Kommunizieren des Settings erfordert. Meistens gehen dem Machtmissbrauch und den Grenzverletzungen eine «Grooming-Phase» (vorbereitende Handlungen) voraus. Das Opfer und häufig auch das soziale Umfeld erfahren im Vorfeld eine Vorzugsbehandlungen und bauen zur ausnützenden Person Vertrauen auf. Dies erschwert eine kritische Wahrnehmung. Definierte, transparente und kommunizierte Settings fördern die Selbstkontrolle der Fachperson und die Fremdkontrolle und sind Abgrenzungshilfen, da sie Nähe und Distanz regulieren. Soziale Kontrolle ist eine Möglichkeit, dem Machtmissbrauch vorzubeugen. Setting-Abweichungen können eher wahrgenommen, angesprochen, gestoppt und falls nötig sanktioniert werden.
Täter*innen bei Machtmissbrauch
Verschiedene Ursachen und Dynamiken können unterschieden werden: jene, die sich narzisstisch am Opfer aufwerten, andere, die ihre Opfer bewusst und systematisch ausnützen, ihr Tun und die bestehende Abhängigkeit verleugnen und die Schuld dem Opfer zuschieben. Weiter finden sich bedürftige und defizitäre Fachpersonen, die sich selbst als Opfer sehen, die bestehende Abhängigkeit des eigentlichen Opfers nicht erkennen und sich selbst ausgeliefert und ohnmächtig fühlen. Andere geraten schleichend in diese Beziehungen hinein, die sie dann aus Schuld- oder Schamgefühlen oder aus vermeintlicher Sorge um das Opfer nicht beenden, und begründen dies etwa so: «Suizidale Opfer oder Opfer in wirtschaftlichen Schwierigkeiten verlässt man nicht.» Schliesslich werden manche Fachpersonen als ursprüngliche Täter*innen zu einem späteren Zeitpunkt zum Opfer ihres Opfers und führen die Beziehung aus Angst vor einem möglichen Aufdecken ihrer Verfehlungen oder rechtlichen Konsequenzen fort. Diese «Opfer» und später Täter*innen nutzen das Wissen um die Schuld der «ursprünglichen Täter*innen» aus, zum Beispiel mit einer noch ausstehenden Strafanzeige oder dem Hinweis auf ein drohendes Berufsverbot. So werden diese Fachpersonen unter Druck gesetzt. Oft suchen sie deshalb, auch bei massiver Gewalterfahrung, keine Hilfe oder thematisieren nur die Gewalt, aber die dahinterliegende Problematik ihres eigenen Machtmissbrauchs nicht. Auch psychische Erkrankungen spielen bei Gewaltausübung eine Rolle.
Diese Differenzierungen weisen auf Verhaltensweisen gewaltausübender Personen hin, die für die Einschätzung ihrer Gefährlichkeit, wie für die Entscheidung für Interventionen, Gesprächs-Settings und Massnahmen wichtig sind.
Ambivalenz, Dilemma, Überlebensbindung
Ambivalenz und Abhängigkeit dienten lange als Erklärung für den Verbleib der Opfer in der Gewaltbeziehung. Ambivalenz ist eine im Menschen selbst begründete innere Zerrissenheit und erzeugt häufig einen Ambivalenzkonflikt. Diese Ambivalenz übertragen Opfer auch auf Fachleute, indem sie ihnen misstrauisch begegnen und ihre Meinung und ihre Vorgehensweisen stetig wechseln.
Nun gibt es aber auch scheinambivalente Opfer. Diese verhalten sich zwar wie ambivalente Opfer, aber aus anderen Gründen. Sie verfügen über genügend Ressourcen, um sich zu trennen, tun es aber nicht, weil sie sich in einem existenziellen Dilemma befinden. Das Verbleiben in der Gewaltbeziehung erfolgt bei ihnen aus purer Angst und ist in diesem Sinne eine Überlebensstrategie.
Überlebensbindungen weisen auf pathologische Täter*innen und eine gefährliche Gewaltdynamik hin. Eine Überlebensbindung zu erkennen und von einer ambivalenten Bindung zu unterscheiden, ist von zentraler Bedeutung für die Sicherheit von Opfern, Drittpersonen und auch der Fachperson. Existenzielle Dilemmata und Überlebensbindungen können also in Beziehungen mit oder ohne Abhängigkeit vorkommen. In keinem Fall tragen Opfer eine Verantwortung.
Umgang mit Machtmissbrauch professionalisieren
Betriebe realisieren oft erst in der akuten Krise die Brisanz von möglichen Fehlern und Unterlassungen in ihrer Vorgehensweise. In Erweiterung der heute an vielen Orten geführten Auseinandersetzung in der therapeutischen Beziehung ist es zwingend, diese Erkenntnisse auch in Organisationen anzuwenden. Die Förderung des Problembewusstseins hat eine hohe präventive Wirkung.
Führungsverantwortliche benennen eine interne Anlaufstelle und eine externe Fachstelle. Die Bedeutung der unabhängigen Fachstelle zeigt sich vor allem auch dann, wenn der Machtmissbrauch von Verantwortlichen selbst begangen wurde. Eigene Involviertheit, Schuldgefühle und Beziehung zur beschuldigten Person erschweren durchdachte Handlungen. Oft werden die Betriebe von den Emotionen des Personals und den Vorgesetzten überrollt; unüberlegte Schritte sind die Folge. Bei Macht- und Grenzverletzungen haben klare Schuldzuweisung und Konsequenzen an die gewaltausübende Person zu folgen. Hinschauen wirkt präventiv. Diese Handlung als Haltung hat für die Opfer eine oft unterschätzte, heilende Wirkung und ist die Basis.
Professionelle in jeder Funktion und Hierarchiestufe setzen sich für die dezidierte Aufdeckung von und Verarbeitung nach Machtmissbrauch und Grenzverletzungen ein. Sie wirken aufklärend im Betrieb, in ihrer Praxis und in der Öffentlichkeit und nehmen auch bei diesen Themen ihre gesellschaftliche Verantwortung wahr. Ein erweitertes Verständnis der Thematik ist eine zentrale Voraussetzung eines wirksamen Vorgehens und der Postvention – einer nachhaltigen Stabilisierung der gewaltfreien Situation.
Das Beiziehen spezialisierter Fachleute und unabhängiger Organisationen ist in diesen komplexen Fällen aber dennoch zentral. Nur so kann der Schutz und die Integrität aller betroffenen und beteiligten Personen sowie die Inverantwortungnahme der Täter*innen erreicht werden. Letztendlich liegt die Verantwortung für Gleichstellung und Diversity auch in der Politik und dem Rechtsstaat.
Franziska Greber ist Psychotherapeutin ASP, Supervisorin & Künstlerin. Sie hat zu den Themen Gewalt, Machtmissbrauch und Grenzverletzungen gelehrt und publiziert. In ihrem künstlerischen Schaffen verbindet sie gesellschaftliche Themen, Menschenrechte und Kunst. 2016 initiierte sie das internationale, partizipative Kunstprojekt WOMEN IN THE DARK.