Hilfe für Pädophile zum Schutz von Kindern

Interview mit Frau Monika Egli-Alge

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 8 (15) 2022 36–38

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2022-1-36

In Erfüllung der Postulate «Kein Täter werden» von Nationalrätin Nathalie Rickli und Ständerat Daniel Jositsch hat der Bundesrat im September 2020 den Bericht «Präventionsangebote für Personen mit sexuellem Interesse an Kindern»1 verfasst. Infolge dieses Berichts hat uns das Bundesamt für Gesundheit (BAG) um eine Stellungnahme zur Frage gebeten, welche präventiven Massnahmen wir als zielführend betrachten und selbst anwenden würden. Auf der Suche nach Präventionsangeboten in der Schweiz sind wir unter anderem auf die Fachstelle Forio gestossen und möchten mit diesem Interview einen Beitrag zur Sensibilisierung leisten.

Frau Egli-Alge, Sie sind Geschäftsleiterin der Fachstelle Forio AG und führen auf Ihrer Website den Slogan «Missbrauch verhindern – Veränderung fördern». In der Schweiz fehlt ein umfassendes Angebot, wie zum Beispiel in Deutschland mit «Kein Täter werden». Wie kamen Sie auf dieses Thema?

Das Forio gibt es schon seit 2004. Ich habe mich jedoch schon vorher mit Straftätern befasst, im Rahmen von Forensik, vor allem mit Sexualstraftätern von Jugendlichen. 2005 hörte ich vom Projekt «Kein Täter werden» in Deutschland. Ich dachte, das sei eine sehr gute Idee, um den Personen, die noch nie Delikte begangen haben, ebenfalls ein Angebot zu machen, also Prävention. Ich habe dann Kontakt aufgenommen mit Professor Klaus M. Beier von der Charité in Berlin. Mir hat die Idee gefallen, den Betroffenen mit dieser Präferenzbesonderheit eine Unterstützung zu bieten, bevor sie Delikte begehen. Was wir im Forio nach wie vor machen, ist mit Personen zu arbeiten, die bereits Delikte begangen haben, um dort Missbrauch zu verhindern und Veränderung zu fördern.

Was würden Sie der Prävention für einen Stellenwert einräumen?

Einen sehr hohen. Weil Personen, die einen sexuellen Übergriff begehen, ein hohes Rückfallrisiko haben. Deshalb ist es wichtig, ihnen etwas anzubieten, bevor sie ein Delikt begehen.

Wie erreichen Sie diese Personen? Das ist wahrscheinlich nicht ganz einfach.

Unser quasi Mutterprojekt in Berlin «Kein Täter werden» hat zur Lancierung eine Kampagne durchgeführt in den Medien, mit Videoclips in den Kinos, am Fernsehen, mit einer Plakatkampagne in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Damit wurde sehr, sehr viel erreicht. Wir haben dazu keine Mittel, wir sind ein privates, unabhängiges Institut. Wir hätten zu jenem frühen Zeitpunkt auch nicht die Möglichkeit gehabt, alle abzufangen, die sich bei uns melden würden aufgrund einer Kampagne. Deshalb haben wir entschieden, alle Fragen der Journalist*innen zu beantworten. So haben wir ein Stück Öffentlichkeitsarbeit gemacht für unser Angebot. Die Betroffenen melden sich auf zwei Wegen: Entweder sie haben den Mut anzurufen oder sie benutzen ein Kontaktformular auf der Website, das wir eingerichtet haben. Sie suchen auch im Internet und stossen so auf uns.

Der Bundesrat hat aufgrund von Postulaten den Bericht «Präventionsangebote für Personen mit sexuellem Interesse an Kindern» veröffentlicht. Darin heisst es, dass er bereit wäre, Finanzhilfe zu leisten für ein Präventionsangebot. Haben Sie beim Bundesrat schon einmal Finanzhilfe beantragt?

Ich habe Kenntnis von diesem Bericht, ich war damals in der Expert*innengruppe, die den Schlussbericht verfasst hat. Wir sind auch in Kontakt mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen, um zu besprechen, wie sie uns unterstützen könnten. Wenn ich jetzt von «wir» spreche, dann meine ich den Verein «Kein Täter werden Suisse». Wir haben im Juni 2021 diesen Verein gegründet. Das sind vier Netzwerkstandorte oder Anbieter, nämlich die UPK Basel, PUK Zürich, die Universitäre Klinik Genf und Forio.

Ein Problem scheint ja zu sein, dass die vorhandenen Angebote primär bei der Straftäterbehandlung angesiedelt sind. Das heisst, es geht immer in Richtung Strafrecht anstelle von Prävention.

Ja, das kann wirklich ein Problem sein. Wenn sich Betroffene, die nie ein Delikt begangen haben, in einer Forensik melden müssten, dann würden sie dies tendenziell nicht tun. Rein aus Sicht von einer therapeutischen Annäherung kann man jedoch sehr viel aus der Straftäterbehandlung nutzen, nämlich die Verhaltenskontrolle. Das ist bei jenen, die ein Delikt begangen haben, eigentlich genau gleich.

Würde es einen anderen Weg geben, als die Prävention über die Straftäterbehandlung zu positionieren?

Natürlich. Bei uns im Forio ist der Hauptbereich die Straftäterbehandlung. Die Prävention mit «Kein Täter werden» ist bei uns einfach ein eigener Bereich unter dem gleichen Dach. Die Betroffenen schätzen sehr, dass wir Forio heissen. Mit diesem Label haben wir den Vorteil, dass es privat ist, unabhängig und man weiss nicht so recht, was dieses Forio ist. Es ist für Betroffene besonders wichtig, dass sie durch den Gang ins Gebäude nicht bereits stigmatisiert sind. Der Standort des Angebots spielt eine grosse Rolle und das Label, das es hat. Die Kolleg*innen der UPK Basel haben sehr viele Anstrengungen unternommen, um zu schauen, wo das Projekt platziert wird – sicher nicht in der forensischen Klinik, sondern in der Stadt Basel an einem diskreten Ort.

Wir sind ja der Berufsverband der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Es gibt eine Befragung unter Fachpersonen, die zeigt, dass grosse Berührungsängste mit diesem Thema bestehen, dass es auch zu wenig Angebote gibt auf therapeutischer Seite. Was ist der Grund dafür?

Das ist eine gute Frage, die auch schwierig zu beantworten ist. Ich bin selbst auch Psychotherapeutin und habe am Anfang meiner beruflichen Tätigkeit in einem Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst gearbeitet. Da hätte ich mir fast nicht vorstellen können, mit Personen zu arbeiten, die Grenzen verletzen, oder mit Personen, die diese Präferenzbesonderheit haben, vielleicht aus dem Motiv heraus, ich mache Psychotherapie, um die Leute zu schützen. Wenn man plötzlich mit Menschen zu tun hat, die möglicherweise Grenzen verletzen, ist es von der eigenen Haltung her sehr anspruchsvoll. Ich kann Kolleg*innen gut verstehen in niedergelassenen Praxen, die sagen: «Das ist, glaube ich, nichts für mich.» Es gibt auch einen fachlichen Aspekt. Die Betroffenen brauchen eine spezialisierte Fachstelle. Sie getrauen sich auch nicht so richtig, bei Therapeut*innen geradeheraus auf das Thema zu kommen. Wenn Betroffene bei uns anrufen, trauen sie sich zu sagen, dass sie einen Termin zu diesem Angebot brauchen, weil sie wissen, dass wir es anbieten. Das senkt die Schwelle und sie trauen sich eher.

Soviel ich weiss, ist Prävention von Pädophilie in der Aus-, Weiter- und Fortbildung kein Thema, müsste jedoch eines sein. Wenn man die Zahlen betrachtet, gibt es ja zu wenig Angebote. Gibt es in der Schweiz überhaupt Lehrpersonen, die in der Lage wären, das Thema zu unterrichten?

Das Thema gehört unbedingt in die Aus- und Weiterbildung von Psycholog*innen, Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen. Aus meiner Sicht – und da kann ich auch für «Kein Täter werden Suisse» sprechen – auf zwei Ebenen: erstens in die Grundausbildung, einfach damit Kolleg*innen wissen, es gibt dieses Thema, damit sie wissen, wie mache ich Diagnostik bei Menschen, die sich bei mir melden, wie erhebe ich eine Sexualanamnese und wie traue ich mich, dieses Thema vielleicht auch anzusprechen, um nachfragen zu können, um zu erkennen, dass jemand vielleicht Unterstützung braucht. Das ist der Grundlevel. Das nächste Level ist die Ausbildung in der Diagnostik und Therapie zu dieser Präferenzbesonderheit, wo man sich als Psychotherapeut*in spezialisieren kann und selbst auch ein Behandlungsangebot machen kann. Das ist in einer niedergelassenen psychotherapeutischen Praxis sehr anspruchsvoll und vielleicht auch nicht der richtige Ort. Wir hören immer wieder, dass Betroffene sich lieber an einem Ort melden, wo dies bereits im Angebot steht.

Aber es braucht ja auch dort Fachleute. Es ist also wichtig, dass es diese Weiterbildung gibt, damit ein grösseres Angebot vorhanden wäre.

Es gibt zurzeit ein Ausbildungsangebot für Psychotherapeut*innen, die konkret mit Betroffenen arbeiten wollen, angeboten von «Kein Täter werden» aus Deutschland. Das ist meines Erachtens das beste Ausbildungsangebot, das es gibt. Das kann man gegenwärtig online absolvieren, und im Angebot «Kein Täter werden Suisse» ist diese Ausbildung eine Grundanforderung. Wir sind in engstem Kontakt mit Deutschland; ich bin in den wissenschaftlichen Beiräten und wir haben vorläufig entschieden, dass wir in der Schweiz nichts Spezifisches anbieten, sondern dieses Angebot nutzen. Was wir in der Schweiz am Aufbauen sind, ist ein Supervisionsangebot für Psychotherapeut*innen, die bereits mit Präferenzbetroffenen arbeiten. Für Interessierte werden wir in der Schweiz sicher auch Fachveranstaltungen organisieren.

Das Thema Pädophilie ist höchst stigmatisiert in der Gesellschaft. Auch hier braucht es ja Aufklärung. Ich verstehe, dass es eine Gratwanderung ist, damit Täter*innen nicht zu Opfern gemacht werden oder umgekehrt. Gibt es Anstrengungen, um auch in der Gesellschaft eine Sensibilisierung zu erreichen?

Die braucht es. Das sagt auch der Bundesrat in seinem Bericht, dass dies ein wichtiges Thema ist. Der Bund stellt auch Gelder zur Verfügung für Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung. Das ist ein ganz wichtiges Thema. Professor Beier hat als Erster in Europa angefangen, öffentlich über dieses Thema zu diskutieren, und zwar unaufgeregt und nicht stigmatisierend, sondern auf einem wissenschaftlichen Niveau, indem er einfach sagt, es gibt diese Präferenzbesonderheit und diese kann jede*n treffen. Man sucht sich dies nicht aus. Täter*innen, die sexuelle Übergriffe auf Kinder begehen, sind aber nicht alle pädophil. Das ist ein wissenschaftlicher Fakt.

Können Sie dies noch etwas ausführen?

In den Köpfen der Leute sind Pädophile «Kinderschänder*innen». Wenn man die Täterschaft wissenschaftlich betrachtet, stellt man fest, dass etwa 50 % derjenigen, die Delikte an Kindern begehen, pädophil sind. Die anderen gut 50 % – das divergiert etwas je nach Studie – sind nicht pädophil, also haben nicht diese Präferenzbesonderheit.

Was haben denn diese für ein Motiv?

Wir sagen «Ersatzmotiv». Ersatzmotive sind ganz vielfältig. Das kann Machtausübung sein durch das Medium Sexualität, Verfügbarkeit auszunutzen, Rachemotive der Mutter des Kindes gegenüber usw.

Das wäre nochmals ein Thema für sich. Was wäre zum Schluss Ihre Botschaft an unsere Leser*innen zur Prävention von Pädophilie?

Lesen Sie, informieren Sie sich. Psychotherapeut*innen sage ich im Alltag: Seien Sie aufmerksam und trauen Sie sich, Fragen zur Sexualität zu stellen. Ich würde Ihren Leser*innen vielleicht auch raten, differenziert zu sein. Für mich persönlich und auch für meine Kolleg*innen im Forio ist eine gute Leitlinie im Umgang mit diesen Personen: Wir verurteilen die Taten, aber nicht den Menschen. Niemand, der eine solche Präferenzbesonderheit hat, hat sich diese ausgesucht. Dies ist vielleicht ebenfalls ein Rat an die Leser*innen, einmal den Blickwinkel der Betroffenen einzunehmen, die sich das nicht ausgesucht haben. Das ist Schicksal.

Frau Egli-Alge, ganz herzlichen Dank für dieses Interview.

Monika Egli-Alge, lic. phil. I, ist Fachpsychologin Psychotherapie FSP, Fachpsychologin Rechtspsychologie FSP und Geschäftsführerin forio AG.

Das Interview wurde am 18. November 2021 geführt von Marianne Roth.

Anmerkungen