Ladislav Valach & Annette Reissfelder (2021):
Fallbuch Suizid und Suizidprävention.
Zwölf Suizidversuche handlungstheoretisch analysiert

Unter Mitarbeit von Kornelia Helfmann & Jaromira Kirstein
Berlin: Springer, ISBN: 978-3-662-63867-5,
352 Seiten, 44.50 CHF, 36.20 EUR

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 8 (15) 2022 39–41

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2022-1-39b

In diesem Fallbuch über Suizid und dessen Prävention werden Geschichten von suizidalen Patient*innen von einer Schriftstellerin und systemischen Therapeutin sowie von zwei Psychologinnen, die therapeutisch erfahren sind, erzählerisch aufbereitet. Ein psychotherapeutischer Forscher analysiert diese Erzählungen, indem er die Handlungsprozesse in ihre Bestandteile zerlegt.

Die Patient*innen, die freiwillig bei dem Projekt mitgemacht haben, erzählten ihre Geschichten im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einer Schweizer Universitätsklinik. Ihre Erzählungen waren ursprünglich Bestandteil eines Projekts mit dem Titel «Suizid als zielgerichtetes Handeln», das vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt wurde. Die Erzählungen der Patient*innen wurden dabei von einer internationalen Gruppe von medizinischen und psychologischen Expert*innen für Suizidprävention diskutiert. Daraus wurde ein Suizidpräventionsprogramm entwickelt. Eine daran anschliessende zweijährige Untersuchung von Suizidprävention-Interventionen mit einer Kontrollgruppe zeigte hervorragende Resultate.

Das Buch gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil werden die Konzepte, die hinter dem Ansatz des Buches stehen, vorgestellt, danach folgen zwölf Fallbeispiele, an denen der handlungstheoretische Ansatz vorgeführt wird, und im dritten und letzten Teil wird noch auf Prävention eingegangen, indem das universitäre Projekt ASSIP kurz vorgestellt wird, das aus dem Nationalfonds-Projekt entstanden ist. Jedes Kapitel enthält am Schluss eine prägnante Zusammenfassung, die übersichtlich die wichtigsten Punkte auflistet.

Der Theorieteil beginnt mit epidemiologischen Fakten zu Suizid und Suizidversuchen, stellt dann Suizid als zielgerichtete Handlung vor sowie eine Analyse der Handlungstheorien, die die Patient*innen bewusst oder unbewusst haben und die bei dem Suizidversuch eine Rolle gespielt haben. Dabei sprechen sie von einer Handlungsenergetisierung, womit die Aufladung der Handlung durch Aufmerksamkeit und Emotionen gemeint ist. Die Autor*innen gehen davon aus, dass der Suizidversuch Teil eines grösseren Suizidprojekts ist, weshalb in die Erzählung und ihre Analyse auch das, was dem Suizidversuch vorausgegangen ist und nach der Auffassung der Patient*innen eine Rolle gespielt hat, einfliessen sollte. Zudem verstehen die Autor*innen Suizid als soziales Geschehen, bei dem andere eine Rolle spielen. Sie gehen davon aus, dass Suizidversuche geplant oder spontan sein können, aber immer eine beschädigte oder fehlerhafte Handlung darstellen, bei der deren Organisation, Steuerung, Energetisierung und deren Monitoring untersucht werden müssen. Durch die Auseinandersetzung mit der Suiziderzählung soll das innere Erleben der Patient*innen sichtbar gemacht werden. Danach kann zusammen mit den Psychotherapeut*innen Suizidprävention als gemeinsames Projekt angegangen werden.

Im zweiten und praktisch orientierten Teil des Buchs folgen die zwölf Fallbeispiele. Dabei wird zunächst die Geschichte des Suizidversuchs erzählt, wobei auch die von den Patient*innen als wichtig empfundene Vorgeschichte genauso wie andere Handlungsstränge, die zeitlich deutlich vor dem Suizidversuch gelegen haben können, mit einfliessen. Im Gespräch mit einer*einem Psychiater*in werden neben der kurzfristigen Handlung auch mittel- und langfristige Anliegen der Patient*innen durch offener Fragen ermittelt. Für die später erfolgende Analyse findet eine Hierarchisierung der langfristigen Anliegen, zum Beispiel nicht verlassen werden zu wollen, über mittelfristige, beispielsweise dem Schmerz der Trennung zu entgehen, statt. Die langfristigen Anliegen enthalten grundsätzliche Werte und Glaubensüberzeugungen der Betroffenen, die sowohl für den Suizidversuch als auch für dessen Prävention eine Rolle spielen. Danach wird die suizidale Handlung textanalytisch in Einzelteile zerlegt, wobei es viel um gemeinsames Handeln geht, wodurch deutlich wird, dass Suizid keine isolierte einsame Handlung ist. Im Anschluss daran werden die Probleme bei der Handlungsorganisation herausgearbeitet, was zum Beispiel bedeuten kann, dass die Angst vor dem Verlassenwerden über das eigene Leben gestellt wird. Wichtig ist dabei die Handlungsenergetisierung, also die Emotionen, die bei dem Suizidversuch eine Rolle gespielt haben, und wie spontan oder geplant er war. Danach wird das Gespräch mit der*dem Psychiater*in, das auf Video aufgezeichnet wurde, von Psychotherapeut*innen mit den Patient*innen zusammen langsam in jeweils zwei- bis dreiminütigen Sequenzen angeschaut, wobei die Betroffenen ihre Gefühle und Gedanken dazu äussern sollen. Dieses sogenannte Selbstkonfrontations-Interview hilft, das Gespräch selbst nochmals zu reflektieren, aber auch die eigenen Gefühle zu präzisieren.

Im dritten Teil wird auf die Suizidprävention eingegangen, die vor allem im zweiten Teil nicht weiter vorkommt, da sie in dem vorgestellten Forschungsprojekt nicht enthalten war. In diesem Kontext wird das Präventionsprogramm ASSIP vorgestellt, das ebenfalls die Elemente der Erzählung des Suizidversuchs und das Selbstkonfrontations-Interviews enthält. Auch hier ist das Narrative sehr zentral. Die Patient*innen dürfen frei erzählen, werden gehört und mit ihren Anliegen gesehen, was früher aufgrund der Stigmatisierung von Suizid zu wenig stattgefunden hat, weshalb vielfach moralische Vorhaltungen im Umgang mit suizidalen Patient*innen im Vordergrund gestanden hatten. Bei ASSIP wird das Video-Interview zusätzlich dazu verwendet, um anhand dessen lebensrettende Massnahmen zu entwickeln, also alternative Handlungsmöglichkeiten zum Suizidversuch. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit Psychotherapeut*innen und wird als gemeinsames Projekt zur Lebenssicherung verstanden. Die Patient*innen bleiben noch über einen längeren Zeitraum mit den Psychotherapeut*innen in Verbindung. Das kann telefonisch, brieflich oder virtuell sein, um so eine konstante Unterstützung im veränderten Umgang mit suizidalen Krisen anzubieten.

Dieses Fallbuch ist sehr übersichtlich gestaltet, vor allem die kurzen Zusammenfassungen am Ende der Kapitel sind sehr hilfreich. Der theoretische Teil bleibt dennoch sehr dicht und teils etwas komplex mit dem sehr eigenen handlungstheoretischen Ansatz. Die Fallbespiele lesen sich sehr gut, aber die Handlungsanalysen wirken etwas eng, teils anstrengend und zumindest für mich nicht so zugänglich. Man merkt, dass es sich um ein Forschungsprojekt gehandelt hat. Es erstaunt etwas, dass die Prävention im praktischen Teil kaum vorkommt, sondern erst am Schluss in der Zusammenfassung, in der dann ASSIP vorgestellt wird, das einen weiteren Schritt enthält, den das Projekt, das dem Buch zugrunde liegt, nicht hat, nämlich Handlungsalternativen zum Suizid zu erarbeiten und einzuüben.

In jedem Fall ist das Buch eine Bereicherung, was das Thema Suizid betrifft, da ich den Ansatz von Suizid als zielgerichteter Handlung sehr erhellend und spannend finde. Auch wenn die Handlungsanalyse in einer ambulanten psychotherapeutischen Praxis mir nicht praktikabel erscheint, kann der Ansatz, der dadurch vermittelt wird, durchaus hilfreich im Umgang mit suizidalen Patient*innen sein.

Veronica Defièbre