Martin Rufer
à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 8 (16) 2022 17–18
https://doi.org/10.30820/2504-5199-2022-2-17
Mit dieser Maxime haben die Psy-verbände in der Schweiz für sich und die Patient:innen Hürden im Versorgungssystem psychischer Krankheiten abgebaut und nach vielen, anstrengenden Jahren mit dieser Wanderkarte einen begehbaren Weg gefunden. Seit dem 1. Juli gilt das Anordnungsmodell nun auch als Eintrittskarte für die eine eigenständige Durchführung psychologischer Psychotherapien im Rahmen der Grundversicherung (OKP). Soweit so gut, aber wie schon Gregory Bateson, einer der Väter systemischen Denkens und Handelns, geschrieben hat: «The map is not the territory». Dies gilt nicht nur für die Navigation in der eigenen Praxis, sondern genauso für diejenige im Gesundheitssystem. Dabei sind es weniger die noch offenen administrativen Fragen, die noch auf Kartografierung warten, sondern das, was auf dem eingeschlagenen Weg als Preis für die zunehmende Medizinalisierung psychischer Belastungen bezahlt werden muss. Darüber allerdings wird unter dem Einfluss eines zäh errungenen Erfolgs nur ungern diskutiert. Bedenken werden mit Verweis auf die Vorteile für die Patient:innen weggeredet, Ambivalenzen, Dissonanzen, Zweifel – eigentlich Markenzeichen wissenschaftlichen Denkens – ausgeblendet.
In Anlehnung an die russische Schriftstellerin Lena Gorelik («Was es heisst, in Russland eine Frau zu sein», Das Magazin, Nr. 38, 3.9.22) könnte man bezogen auf unseren Berufsstand sagen: «Die Geschichte der Emanzipation wird gern als linear erzählt, als eine Bewegung des Fortschritts: Eroberung nach Eroberung auf dem Weg zu Gleichberechtigung, zur Selbstbestimmung.» In diesem Sinne ist nun auch gesetzlich klar geregelt, dass es in der Tat nur eine Psychotherapie gibt, die ärztliche bzw. die ärztlich angeordnete im Rahmen der OKP: «Nicht als Psychotherapie gelten Beratungen bei Problemen, welche als mehr oder weniger belastend oder auch als persönliche Krisen erlebt werden, die jedoch keinen Krankheitswert im Sinne einer psychischen Störung aufweisen (FSP)». Für die Indikation beruft man sich auf die schon bisher verbindlichen Verordnungen (KGV, OKP) sowie die geltende und aktualisierte Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-11/DSM-V). Die Tatsache aber, dass damit psychisch belastete Menschen de jure pathologisiert werden, ist mehr als ein nur formales, der Kasse geschuldetes Etikett. Dass wir das Rad nun nicht zurückdrehen und die Tür sozusagen regelfrei für jedes und jeden öffnen sollen, ist selbstredend. Kaum ein Wort aber wird darüber verloren, dass in der Realität die lineare Entweder-oder-Abgrenzung (z. B. gesund–krank) keine einfache ist, dass die Wirkfaktoren von Psychotherapie in Forschung und Wissenschaft höchst kontrovers diskutiert werden und nicht zuletzt die Tatsache, dass in der Psychotherapie nicht in erster Linie eine Krankheit, sondern eine Person in ihrem Kontext behandelt wird.
Gesundheitspolitisch brisant ist zudem, dass über kurz oder lang das bisherige alternative Gefäss (Psychotherapie in der Zusatzversicherung) wohl aufgehoben wird und, wenn überhaupt, nur noch für «Beratungen» (Erziehungsberatung, Paartherapie, Prävention …) auf den Markt kommt. Dadurch allerdings wird nicht nur die OKP weiter belastet, sondern auch die Stimmen werden lauter, die sich für eine Kontingentierung psychotherapeutischer Leistungen starkmachen. Der für 2023 beschlossene Prämienanstieg (7 %) priorisiert zudem die Wahl für eine hohe Franchise, sodass im Bedarfsfall auch psychotherapeutische Leistungen vorerst aus der eigenen Tasche bezahlt werden müssten. Dass damit aber Psychotherapien auf der Strecke bleiben, die bis anhin im Rahmen einer Zusatzversicherung unter Kostenbeteiligung von Patient:innen/Klient:innen (nicht nur für die Reichen unter ihnen!) «wirtschaftlich, zweckmässig und wirksam» (WZW-Kriterien) durchgeführt werden konnten, ist mehr als eine Kröte, die halt einfach geschluckt werden muss. Es bedeutet Verlust an Diversität, an Qualität und Qualitätssicherung, und durch die fortschreitende Anbindung von Psychotherapie an das medizinische System auch ein Verlust an Identität der psychologischen Psychotherapeut:innen. Zusammen mit dem Physiker und Philosophen Eduard Kaeser (NZZ, 29.9.22) liesse sich sagen: «Ich bin weder dafür noch dagegen – im Gegenteil!»
Der Trend aber ist klar. Als Psychotherapie gilt nur noch das, was auch als «krankheitswertig» diagnostiziert wird – was auch immer darunter verstanden, behandelt und über die OKP abgerechnet wird … In letzter Konsequenz aber gilt dann das, was auch von Psychotherapeut:innen (!) ausserhalb der OKP angeboten wird, de jure nicht (mehr) als Psychotherapie. Damit aber öffnet sich das Feld für die Behandlung psychischer Belastungen jenseits des gesetzlichen «Heilauftrags» weiter, und mit diesem der Markt für Anbieter:innen, die sich zur Behandlung psychischer Belastungen und Krisen nicht zwingend an Richtlinien psychologischer und psychotherapeutischer Fachverbände orientieren müssen.
Vor 50 Jahren hat der Arzt und Psychiater Berthold Rothschild (*1937) an der Universität Bern unter dem Titel: «Die W(w)a(h)re Psychotherapie» einen legendären Vortrag gehalten. Was Rothschild heute sagen würde, weiss ich nicht. Klar aber ist, dass der Markt die laufenden Prozesse neu strukturiert. Die Karten am Futternapf sind zwar neu verteilt, wohl aber weiterhin hart umkämpft und mit Sicherheit nicht kostenlos zu haben. Man darf daher gespannt sein, wie der Systemwechsel dereinst von den Anbieter:innen, den Patient:innen, den Kassen und nicht zuletzt in der Politik und in der Öffentlichkeit kommentiert, bilanziert und ggf. neu reguliert und reglementiert wird.
Martin Rufer, MSc Psychologie ist eidg. anerkannter Psychotherapeut.