COVID-19-Pandemie und das psychische Befinden unserer Kinder und Jugendlichen

Marianne Roth

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 8 (16) 2022 25–27

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2022-2-25

Bereits in seiner Studie1 im Jahr 2016 konstatierte das Büro BASS, dass in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Gesundheitsversorgung von psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen eine deutliche Fehl- und Unterversorgung herrsche. Kinder und Jugendliche müssten im Vergleich zu Erwachsenen nicht nur häufiger, sondern durchschnittlich auch länger auf einen Therapieplatz, eine Abklärung oder eine Behandlung warten. Es ist deshalb alarmierend, dass sich laut Obsan-Bericht (Obsan-Bulletin 02/2022) die psychische Belastung bei den Jungen mit erhöhter psychischer Belastung zwischen 2017 und 2020/21 mehr als verdoppelt hat. Seit 2012 nähmen die psychiatrischen Hospitalisierungen von Kindern und Jugendlichen kontinuierlich zu. Es herrschte also bereits vor der COVID-19-Pandemie eine Art Notstand.

Wie stark der Wechsel vom Delegations- ins Anordnungsmodell, bei dem psychotherapeutische Behandlungen über die Grundversicherung abgerechnet werden können, eine Entlastung dieser Situation bringen kann, wird sich weisen müssen. Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie hat sich die Lage nochmals zugespitzt. Vor allem seit September 2020 zeigte sich eine Zunahme von Depressionen, die insbesondere Mädchen und junge Frauen stärker betrifft als die anderen Kinder und Jugendlichen.

UNICEF-Studie liefert Zahlen

Im Auftrag der UNICEF führten Wissenschaftler*innen von Unisanté des Centre universitaire de médecine générale et santé publique in Lausanne zwischen Frühjahr und Sommer 2021 eine Studie2 durch, die die psychische Gesundheit von Jugendlichen in der Schweiz und Liechtenstein untersuchte. Das Ergebnis wurde von den Autor*innen als besorgniserregend eingestuft. Die Befragung von 1 097 Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren ergab, dass davon 37 Prozent von psychischen Problemen betroffen waren. 17 Prozent mit Anzeichen einer Angststörung haben bereits versucht, sich das Leben zu nehmen. Davon haben 48 Prozent mehrere Suizidversuche unternommen. Zudem sagten 29 Prozent der befragten Jugendlichen, dass sie mit niemandem über ihre Probleme sprechen. Von den Teilnehmenden berichteten 69 Prozent, dass sie mindestens eine schlechte Erfahrung in ihrer Kindheit gemacht haben. Bei jungen Erwachsenen mit Anzeichen einer Angststörung oder einer Depression stieg diese Zahl auf 89 Prozent.

Schlussbericht der Studie im Auftrag des BAG

Im Schlussbericht der vom BAG in Auftrag gegebenen Untersuchung über den Einfluss der COVID-19-Pandemie3 kommen die Autor*innen zum Schluss, dass die jüngeren Generationen besonders betroffen sind. Im Vergleich zu den älteren Generationen weisen Kinder und Jugendliche aufgrund der Coronapandemie eine höhere psychische Belastung auf. Jüngere Kinder zeigen Verhaltensauffälligkeiten, während bei älteren Kindern und Jugendlichen Depressivität und Angstsymptome häufiger auftreten. Ihr Zustand hängt zudem stark von der Familiensituation und der Stressresistenz der Eltern ab. Die familiäre Situation ist ein wichtiger Einflussfaktor auf die psychische Gesundheit junger Menschen. Besonders belastet sind Familienverhältnisse, die mit geringen finanziellen Ressourcen auskommen müssen, mit der Arbeitslosigkeit eines Elternteils, aber auch Einelternfamilien. Kann das Elternhaus den Kindern keine Sicherheit und Orientierung geben, sind diese tendenziell stärker von negativen Auswirkungen betroffen. Für die Stressresilienz der Eltern sind das soziale Umfeld, Unterstützung durch die Nachbarschaft oder die Situation am Arbeitsplatz, wie Flexibilität des Arbeitgebers, wichtige Faktoren. Die Notwendigkeit, Zeit im Freien zu verbringen, konnten wir in den überlaufenen Naherholungszonen und in den Wäldern sowie an überfüllten Picknickplätzen persönlich erleben.

Der Lockdown- resp. der Lockerungsverlauf hatte stärkere Auswirkungen auf das Wohlbefinden von jungen Erwachsenen als auf die älteren Generationen. Die Studie z-proso der Universität Zürich, die seit 2004 die lebensgeschichtliche Entwicklung des Sozialverhaltens von 1 400 Jugendlichen erforscht, hält fest, dass das Wohlbefinden zu Beginn des ersten Lockdowns im April 2020 von gut 30 Prozent der Jugendlichen aufgrund der Pandemie als schlechter beschrieben wurde. Nach den Lockerungen, die im Mai erfolgten, waren es noch 15 Prozent. Rund ein Drittel gab an, sich besser zu fühlen.

Der Schlussbericht des BAG weist darauf hin, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aufgrund der aus entwicklungspsychologischer Sicht besonders sensiblen und prägenden Lebensphase speziell vulnerabel sind. Im Jugendalter sind körperliche Aktivitäten, soziale Kontakte, die Schule als Faktor der Sozialisation, der Kontakt zu Freund*innen und Gleichaltrigen besonders wichtig. Die Unsicherheit über die eigene Zukunft, ein belastetes familiäres System oder die Verstärkung innerfamiliärer Konflikte und häusliche Gewalt sind zusätzliche Bealstungen. Es wird befürchtet, dass die fehlende soziale Interaktion auch längerfristige Folgen haben könnte und sich negativ auf das Bindungs- und Bindungsverhalten junger Menschen auswirken kann.

Situation an den Schulen

An Schulen im Kanton Zürich hat die Ciao Corona Studie (Ulyte et al., 2020) mit Fokus auf Infektionen wiederholt Angaben zum Wohlbefinden der Schulkinder erfasst. Demnach ist die mittlere Lebenszufridenheit im Januar 2021 gegnüber dem Sommer 2020 gesunken und das Stressempfinden hat zugenommen. Bei den über 10-jährigen Kindern ist diese Veränderung stärker ausgeprägt als bei den jüngeren Schüler*innen.

Bei rund 400 Gymnasiast*innen in der Nordwestschweiz fand eine Spezialbefragung der Swiss Corona Test Study (de Quervain et al., 2021) statt, die darauf hindeutet, dass die psychische Belastung von Jugendlichen hoch bleibt. Die Corona Test Study wurde bereits im November 2020 durchgeführt und es stellte sich heraus, dass der Anteil der Befragten mit schweren depressiven Symptomen mit 27 Prozent in beiden Befragungen gleich hoch blieb. Die Begründung ist der hohe schulische Druck, der durch verpassten Stoff, Schulschliessungen, Quarantäne usw. durch die Pandemie erzeugt wurde und sich verstärkt hat. Die Stressoren haben sich bei den Jugendlichen insgesamt verändert. Befürchtete man vor der Pandemie, etwas zu verpassen, stand mit dem Lockdown die eigene Gesundheit und der Mangel an sozialen Kontakten im Vordergrund.

Marianne Roth ist Geschäftsführerin der ASP.

1 Versorgungssituation psychisch erkrankter Personen in der Schweiz im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG).

2 Psychische Gesundheit von Jugendlichen – Studie zur Situation in der Schweiz und Liechtenstein (www.unicef.ch).

3 Der Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit der Schweizer Bevölkerung und die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz (Stocker et al., B&A Beratungen und Analysen, Büro Bass, 2021).