Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Stigmatisierung
Hannes Rudolph & Marc Inderbinen
à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 9 (17) 2023 12–15
https://doi.org/10.30820/2504-5199-2023-1-12
Die psychotherapeutische Begleitung von trans Personen ist oft eine äusserst dankbare Aufgabe: Menschen begleiten, die gegen erhebliche Widerstände den Mut erlangen, zu sich selbst zu stehen und ihren individuellen Weg zu finden. Gleichzeitig ist diese Arbeit in besonderer Weise herausfordernd.
Nach einer Ära der Psychopathologisierung von trans Personen sind kürzlich im Swiss Medical Forum zwei Artikel [1, 2] erschienen, die den Paradigmenwechsel beschreiben, der sich seit etwa einem Jahrzehnt vollzieht. Die zentralen Aspekte sind:
Auch für Psychotherapeut:innen steht gute Grundlagenliteratur [6, 7] zur Verfügung, in der folgende Punkte als wesentlich für die psychotherapeutische Arbeit mit trans Personen genannt werden:
Gleichzeitig berichten Psychotherapeut:innen immer wieder von eigener Verunsicherung, wenn sie trans Personen in der Selbstfindung oder auch in ihrem Wunsch nach sozialer, juristischer oder medizinischer Transition unterstützen.
Normative Annahmen über Geschlecht
Unser Zusammenleben ist geprägt von normativen Annahmen, auch in Bezug auf Geschlecht. Dabei gehen wir ganz allgemein (weil wir das als Selbstverständlichkeit gelernt haben) von einer genital determinierten, binären Geschlechterordnung aus. In dieser gibt es drei Annahmen: (1) Das Geschlecht einer Person wird durch die äusseren Genitalien definitiv festgelegt, die Geschlechtsidentität (das subjektive Wissen um das eigene Geschlecht) spielt keine Rolle. (2) Geschlecht ist eine binäre Kategorie, in der Personen entweder männlich oder weiblich sind. (3) Das Geschlecht einer Person evoziert zahlreiche Erwartungen über ihre Charaktereigenschaften, Vorlieben und Fähigkeiten [7, 8].
Diese Annahmen von Geschlecht sind sehr wirkmächtig: So ist für die meisten Menschen die Frage, welches Geschlecht (gemeint ist: Genital) ein Fötus oder ein Neugeborenes hat, von grosser emotionaler Bedeutung. Personen, deren Geschlechtsausdruck nicht eindeutig als männlich oder weiblich «lesbar» ist, rufen im öffentlichen Raum Irritation, Heiterkeit oder gar Aggression hervor. Da sich das Geschlecht (von trans Personen) nicht aus den Genitalien herleiten lässt, ist bereits die Existenz von trans Personen mit dieser zuvor genannten normativen Geschlechterordnung nicht vereinbar.
Um das Geschlecht von trans Personen respektieren zu können, ist es wichtig zu verstehen, dass die Geschlechtsidentität ein valider Bezugspunkt für das Geschlecht einer Person ist. Dieses Wissen ist aber gesellschaftlich noch kaum verankert. Die normativen und trans-ausschliessenden Geschlechterbilder sind hingegen omnipräsent. Auch Fachpersonen, die sich vertieft mit dem Thema Geschlecht auseinandersetzen, sowie trans Personen selbst haben diese internalisiert. Sie sind nicht einfach zu «entlernen», aber sie zu reflektieren, ist bereits ein wichtiger Schritt. Für Klient:innen ist es zudem eine grosse Entlastung, den gesellschaftlichen Druck zu verstehen und thematisieren zu können: Häufig interpretieren trans Personen ihre Scham, ihre Angst und die Unfähigkeit, ihr Trans-Sein zu akzeptieren, als rein individuelles Versagen.
Gesellschaftspolitischer und medialer Diskurs
Zudem sind Trans-Themen seit einigen Jahren Mittelpunkt einer politisch und medial heftig geführten Debatte. Die Existenz von trans und non-binären Personen wird im Extremfall bestritten. Aufklärung über Trans und Geschlechtervielfalt wird folglich als «Ideologie» diffamiert und wissenschaftliche Erkenntnisse werden ignoriert. Behandler:innen wird in dieser Rhetorik vorgeworfen, unprofessionell zu arbeiten.
Zu erleben, dass die eigene Arbeit ohne Berücksichtigung von Evidenz und existierenden Leitlinien im öffentlichen Diskurs angegriffen wird und dass trans-ausschliessende Positionen für viele Menschen anschlussfähig sind, wirkt selbst auf erfahrene Psychotherapeut:innen mit aktuellem Wissensstand verunsichernd.
Wertvolle Ressourcen sind hier nicht nur der Austausch mit anderen Fachpersonen, sondern auch die Auseinandersetzung mit Literatur und kulturellen Beiträgen der Trans-Community. Im Sinne von self-care empfiehlt es sich zudem, sich trans-feindlichen Publikationen nur dosiert auszusetzen.
Grenzen eigener Vorstellungen von Geschlecht
Im Austausch mit Berufskolleg:innen wird immer wieder deutlich, dass Gefühle von Verunsicherung, Irritation bis hin zu Ablehnung vor allem dann auftauchen, wenn Klient:innen Geschlechtergrenzen überschreiten [8]. Kann ich es als Psychotherapeut:in annehmen, wenn mein Klient eine Mastektomie (Brustentfernung), aber keine Hormontherapie vornehmen möchte? Kann ich es annehmen, wenn meine Klient:in ihren Namen ändern möchte, ohne sich den Styling-Gepflogenheiten anzupassen, die ihrer Geschlechtsidentität entsprechen? Oder mache ich Vorschläge, die eine Person besser in ein traditionelles Geschlechterbild passen lassen, um sie zu schützen, aber auch um das Spannungsverhältnis zu meinen eigenen Vorstellungen von Geschlecht zu reduzieren [6]?
Natürlich erleben auch trans Klient:innen diese Spannung. In der Identitätsfindung gibt es häufig Phasen, die geprägt sind von Scham, Ablehnung und Skepsis gegenüber der eigenen Geschlechtsidentität [6]. Auch hier spielen die erlernten Vorstellungen von Geschlecht eine zentrale Rolle. Die Annahme, Geschlecht sei untrennbar vom Körper, macht es für trans Personen schwierig, die eigene Geschlechtsidentität wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Dies birgt Risiken für die psychische Gesundheit [12]. Stigma, Scham, internalisierte Transfeindlichkeit und das Wissen um die Bedeutsamkeit von geschlechtlicher Eindeutigkeit verzögern in der Regel nicht nur das Erkennen der eigenen Identität, sondern auch die Inanspruchnahme professioneller Unterstützung.
Affirmativer Ansatz
Psychotherapie bietet die Chance, einen Raum zu schaffen, in dem die genital determinierte, binäre Geschlechterordnung weniger wirkmächtig ist. Wenn Klient:innen in ihrer Identität akzeptiert und wertgeschätzt werden, lindert das Geschlechtsdysphorie und führt zu besseren Transitionsentscheidungen [1, 3, 13]. Affirmativ bedeutet, Klient:innen bei Bedarf darin zu unterstützen, herauszufinden, auf welchen Wegen sie ihre Geschlechtsidentität leben möchten. Wenn dies vertrauensvoll und ergebnisoffen erfolgt, können Vor- und Nachteile von sozialen, juristischen und medizinischen Schritten besprochen werden. Die Entscheidungsverantwortung liegt aber bei der trans Person.
Häufig erleben wir, dass Psychotherapeut:innen die Sorge haben, allein durch Informationen über Transitionsmöglichkeiten Personen in Richtung einer Transition zu drängen. Auf der anderen Seite berichten Klient:innen, dass Psychotherapeut:innen ihnen von gewissen Massnahmen abraten oder die damit verbundenen Risiken stärker thematisieren als die Benefits. Äusserungen von Psychotherapeut:innen, die uns Klient:innen berichtet haben, sind z. B. «Ein Coming-out als non-binär würde nur Unruhe auslösen» oder «Paarbeziehungen überstehen Transitionen selten».
Es ist mitunter schwierig zu differenzieren, welche Ängste realistisch sind und wo es sich um internalisierte Transfeindlichkeit handelt. In jedem Fall spielt die Wirkmächtigkeit traditioneller Geschlechterbilder hier aber eine Rolle. Die Omnipräsenz normativer Geschlechterbilder erschwert es sowohl Klient:innen als auch Psychotherapeut:innen, affirmativ und frei mit Geschlechtervielfalt umzugehen.
Behandlungsentscheidungen
Obwohl aktuelle Leitlinien sehr klar betonen, dass trans Klient:innen Expert:innen für ihr Empfinden und ihre Bedürfnisse sind und Eingriffe sehr selten bereut werden, ist die Furcht vor Fehlentscheidungen gross [14]. Unserer Erfahrung nach sind auch bei trans Personen Zweifel und Zögern in Bezug auf medizinische Behandlungen eher häufig, selbst dann, wenn sie sich sehr sicher sind, dass sie eine Behandlung wünschten. Zur Exploration dieser Gefühle können auch professionelle Angebote aus der trans Community, wie trans Beratungsstellen, hilfreich sein [15].
Auch heute müssen trans Personen oft noch Überzeugungsarbeit leisten, um medizinische Behandlungen zu erhalten. Das Vorenthalten einer klar gewünschten Behandlung hat nicht nur negative Effekte auf die psychische Gesundheit von trans Personen, es belastet auch die therapeutische Beziehung. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass auch diese Ängste zum Teil darauf basieren, wie bedeutsam geschlechtliche Eindeutigkeit und wie stigmatisiert Trans-Lebenswege in unserer Gesellschaft sind. Fehlentscheidungen werden in der öffentlichen Wahrnehmung überschätzt und medial überthematisiert. Dies beeinflusst sowohl Klient:innen als auch Fachpersonen.
Fazit und Ausblick
Das Spannungsverhältnis zwischen dem Stand der Wissenschaft und den gesellschaftlich breit vertretenen Annahmen über Geschlecht wirkt sich auf die therapeutische Arbeit mit trans Personen aus. Dies zu erkennen und zu reflektieren ist von grosser Bedeutung für das Gelingen von psychotherapeutischer Arbeit mit trans Personen. Es kann Psychotherapeut:innen dabei helfen, eigene Gefühle und Reaktionen besser einzuordnen. So haben sie die Chance einen Raum zu schaffen, der einen Gegenentwurf zur stigmatisierenden Gesellschaft bietet. In diesem Rahmen können normative Vorstellungen von Geschlecht hinterfragt sowie Ambivalenz und Zweifel besprochen werden. Das Thematisieren gesellschaftlicher Erwartungen an Geschlecht verbessert die therapeutische Beziehung und ermöglicht Klient:innen individuelle, sinnvolle Entscheidungen zu fällen. So besteht die Möglichkeit, Klient:innen auf ihrem Weg der Selbstfindung zu unterstützen und positive Entwicklungen zu begleiten.
Referenzen
[1] Rudolph, H., Burgermeister, N., Schulze, J., Gross, P., Hübscher, E. & Garcia Nuñez, D. (2023). Von der Psychopathologisierung zum affirmativen Umgang mit Geschlechtervielfalt. Swiss Medical Forum, 23(04), 856–860. https://doi.org/10.4414/smf.2023.09300
[2] Garcia Nuñez, D., Rudolph, H., Flütsch, N., Meier, C., Wenz, F., Müller, A., Storck, C. & Mijuskovic, B. (2023). Geschlechtsangleichende Behandlungsmöglichkeiten bei Menschen mit Geschlechtsinkongruenz. Swiss Medical Forum, 23(04), 862–865. https://doi.org/10.4414/smf.2023.09301
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Hannes Rudolph, lic. phil., und Marc Inderbinen, MSc., sind Psychologen und Mitglieder der interdisziplinären Fachgruppe Trans* (www.fachgruppetrans.ch). Hannes Rudolph leitete 2012–2022 die Fachstelle für trans Menschen in Zürich und berät zu Geschlechtsidentität für den Verein HAZ – Queer Zürich. Marc Inderbinen leitet die Trans-Beratung der Aids-Hilfe beider Basel und arbeitet als angehender Psychotherapeut am Zentrum für Psychotherapie der Universität Basel.