Repliken

Zu M. A. Nauer: «Das Gendersternchen ist übergriffig» (à jour! 1/2022) und den Leserbriefen dazu in à jour! 2/2022

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 9 (17) 2023 16–20

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2023-1-16

Die Debatte rund um das Thema «Gendern», die in den beiden Ausgaben des letzten Jahres geführt wurde, hat drei weitere Reaktionen ausgelöst, die wir nachstehend mit Einwilligung der Schreibenden publizieren. Die Redaktion bedankt sich erneut für die Zuschriften und freut sich – ganz im Sinne des Rubriktitels – über regen Austausch.

Ein Ja zu gerechterer Sprache

In den beiden letzten Ausgaben des à jour! äussern sich drei Autor*innen gegen das Gendern und die Verwendung des Gendersternchens. Um dem Eindruck entgegenzuwirken, dies sei die verbreitete Meinung der Leser*innen, melde ich mich zu Wort. Denn die Beiträge von Frau Nauer und Herrn Tschuschke machen deutlich, wie wichtig die Suche nach einer gerechteren Sprache ist.

Herr Tschuschke (à jour! 2/2022) spricht über die Menschen, die sich der Genderbewegung zugehörig fühlen, pauschalisierend als «Verwirrte» und fährt wenige Zeilen später pathologisierend fort, indem er die Thematik undifferenziert mit psychischen Störungen in Verbindung bringt. Solche Sprache nenne ich polemisch. Sie wertet Menschen ab.

Frau Nauer hat die Diskussion im à jour! 1/2022 ins Rollen gebracht. Ihre Argumentationsweisen halte ich für problematisch:

Sie behauptet, dass sie «latent beschuldigt und immanent kriminalisiert» werde, wenn sie ihre eigene Sprache (die auf das Gendern verzichtet) spreche. Mir fällt auf, dass sie das selbst in umgekehrter Richtung tut, da sie die Vertreter*innen einer gendergerechten Sprache des (Gesinnungs-)Terrors bezichtigt und damit sprachlich in den Bereich der Strafbarkeit rückt.

Sie bezieht sich auf ein «korrektes Sprachempfinden» und unterstellt den Benutzer*innen der Genderformen fehlende Kenntnis des Lateins. Ich darf Frau Nauer mitteilen, dass ich als ehemaliger Lateinschüler durchaus zwischen genus und sexus bzw. Grammatik und Biologie unterscheiden kann. Der Unterschied zwischen ihr und mir liegt auf anderen Ebenen. Auf der Ebene der Wertung gewichte ich die Suche nach einer (gender-)gerechten Sprache höher als die Wahrung einer historisch reinen Grammatik. Und die sachliche Basis für das ethische Urteil, was sprachlich richtig ist, reduziere ich nicht auf eine grammatische Frage, sondern beziehe auch kommunikations- und sozialpsychologische Aspekte der Wirkung von Sprache mit ein. Auch wage ich zu bezweifeln, dass die sprachliche Ausdrucksform des antiken römischen Reichs und seine sozialen Über- und Unterordnungen uns unkritisch in unseren heutigen Fragen der (auch sprachlichen) Gerechtigkeit leiten sollten. Und: Wer definiert eigentlich «korrektes Sprachempfinden»? Ist Sprache nicht immer im Fluss? Wie viele Frauen möchten heute als «Weib» bezeichnet werden, wie es im Althochdeutschen gängig war? Oder als «Fräulein», wie vor wenigen Jahrzehnten? Die Unterstellung fehlender Lateinkenntnisse kommt mir zudem als subtile Abwertung im Sinne von «weniger gebildet» entgegen.

Das Problem von Frau Nauer, beim Lesen des Gendersternchens nachdenken zu müssen, halte ich für zumutbar und wünschenswert. Es ist gut, dass wir darüber nachdenken, dass es verschiedene Menschen gibt. Wer sich für dieses Nachdenken öffnet, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit mit der Zeit auch das Gendersternchen flüssig lesen können, ohne vom weiteren Inhalt eines Textes abgelenkt zu werden. Wenn Frau Nauer vorrechnet, dass «80 % der Deutschen» die Gendersprache ablehnen würden (eine Quellenangabe fehlt), und schreibt, dass «niemand» diese Genderisierung will, deutet das darauf hin, dass die restlichen 20 % in ihrer Sicht niemand sind.

Das Postulat von Frau Nauer «Sprache hat neutral zu bleiben» steht in einer bemerkenswerten Spannung zu ihrem Text. Ich kann in diesem kaum neutrale Sprache finden, sondern ich finde Dramatisierungen, fragwürdige Verallgemeinerungen, absolutsetzende Aussagen, Abwertungen und Verurteilungen. Solche Sprache übt Macht aus. Sie tendiert dazu, Andersdenkenden das Gefühl zu geben, falsch, minderwertig oder bedeutungslos zu sein – und sie damit zu beschämen und klein zu machen. Zu diesen problematischen Wirkungsweisen kann ich das lesenswerte Buch Scham. Die tabuisierte Emotion (2007) von Stephan Marks empfehlen.

Ich kann anerkennen, dass die Suche nach einer (gender-)gerechten Sprache manchmal anstrengend ist und Unmut erzeugen kann. Diesen bringt Herr Spengler (à jour! 2/2022) zum Ausdruck. Er deutet nahezu satirisch darauf hin, dass jede Entwicklung ihre Kehrseiten hat. Es gibt aber auch Tools, mit denen wir es uns beim gendergerechter Schreiben leichter machen können, z. B. www.genderator.app.

Auch kann ich es respektieren, wenn jemensch für sich persönlich auf eine (gender-)gerechte Sprache verzichten will. Ferner vermute ich, dass das Gendersternchen ein Übergangsphänomen ist und wir mit der Zeit bessere Formen gerechterer Sprache entwickeln werden. Ebenso wissen wir noch herzlich wenig über die Entwicklung der individuellen Geschlechtsidentität. Vielleicht werden wir in 30 Jahren darüber staunen, wie unwissend wir heute darüber sprechen.

Gerade deshalb halte ich eine offene, respektvolle Auseinandersetzung mit den Fragen der Gendergerechtigkeit für wichtig. Dazu gehört auch das Experimentieren mit Sprache; und dass wir – gerade als psychotherapeutische Fachpersonen – die tieferen Anliegen und Ängste der Menschen, die sich für das Gendern einsetzen, wie auch jener, die sich dagegen wehren, zu verstehen lernen.

Sprache ist in meinen Augen dann korrekt, wenn sie den Menschen und ihrer Mitwelt gerecht wird. Da sie das nie ganz wird, ist es ein endloser Prozess, mit Engagement und Gelassenheit danach zu suchen.

Emanuel Weber, Psychotherapeut ASP


Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir Psychotherapeut*innen arbeiten mit Sprache, sei sie verbal, averbal oder nonverbal. Manchmal schwingt ein poetischer Hauch mit, manchmal ist das Ganze sehr sachlich und kurz angebunden, immer voller Metaphern. Wir arbeiten zumeist mit gesprochener Sprache, hin und wieder auch mit verschriftlichter. Diese ist recht anders, oder? Wunderbar vielfältig und wandelbar ist die Sprache sowieso. Aber auch einengend erlebt, manchmal gewalttätig erfahren; Sprache ist individuell, veränderlich und kulturell beeinflusst. Wir gestalten Sprache ständig neu. Wir ringen um Wörter, um Verstehen, um Verstandenwerden.

Und dann kommt da in unserer Zeitschrift so ein Artikel daher, der mich anfänglich sprachlos machte. Ich fühlte mich nicht angesprochen, neuropsychologisch bin ich mittlerweile anders gepolt, mein Gehirn ist nicht mehr für das Männlichkeitsorientierte bei der Sprachnutzung eingestellt. Damals schon im Studium vor Jahrzehnten knackten wir mit diesen Knackfröschen, wenn ein Professor die Frauen nur mitmeinte. Das war etwas gewaltsam und laut, ja.

Dann ist das Schriftliche im Artikel für mich so altbacken – sorry – und so überaus eng im Sprachverständnis. Lese ich da etwas Kulturpessimistisches? Hui, was ist denn da übergriffig? Starkes Wort. Verletzung der Persönlichkeitsrechte? Puh.

Die erste zustimmende Leserbriefreaktion dann verwirrend weit ausholend und gleich raumübergreifend alles inkludierend: die schlimme Welt – Terror! Demokratieunterhöhlung! –, das Joch der Gender- und Wokebewegung. Politikerbashing. Gejammer.

Immerhin gibt es neben dem erneuten Terrorhinweis noch den Humor im nächsten Leserbrief: Der kann uns vielleicht nicht inhaltlich einen, aber versöhnen. Danke!

Manchmal nutze ich Sternchen, manchmal nicht. Manchmal ist ein Sprachleitfaden ganz nett, manchmal allein der Gedanke an einen solchen horrible.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst uns vor allem an unsere Patient*innen denken, diese sind die Sprechenden, wir vielleicht oft nur die Zuhörenden, was auch immer da in unser Ohr und in unsere (Sprach-)Welt kommt. Sprachethik in unserem Job? Oje. Korrekte Sprache? Welche? Unsere? Meine Latein- und Griechischkenntnisse helfen mir selten weiter. Mehr ein Gespräch mit einem Schweizerdeutsch radebrechenden Asylbewerber.

Immerhin streiten wir in unserem Berufsstand noch. Das ist selbstbestimmt und macht frei, idealerweise.

Thomas Lempert, Zürich


Sehr geehrte Frau Nauer,

als Befürworterin gendergerechter Sprache vertrete ich die Meinung, dass Wandel auch (aber selbstverständlich nicht nur) über Sprache funktioniert. Das können zahlreiche Wissenschaftler:innen besser belegen als ich und Sie werden zahlreiche Wissenschaftler (!) anführen können, die das Gegenteil bezeugen. Nehmen wir diesen grundsätzlichen Unterschied in unseren Überzeugungen also einfach hin, hier werden wir sowieso nicht übereinkommen, und schauen uns stattdessen die von Ihnen angeführten «Übergriffe» an:

ad Sprache: Ist es von Ihnen nicht auch übergriffig zu behaupten, die Vertreter:innen der Genderformen seien ungebildet? Denn darauf kann man den vorgeworfenen Mangel an Latein- und Grammatikkenntnissen doch herunterbrechen. Mit Generika scheinen Sie sich auszukennen, vielleicht möchten Sie sich ja auch aus sprach- und sozialwissenschaftlicher Sicht mit dem Phänomen der Stereotypenbildung vertraut machen? Hier könnte die eine oder andere Erklärung verborgen sein, warum es Menschen gibt, die an der generischen Wirkung der Generika zweifeln …

ad Neuropsychologie: Sie fühlen sich in der Konzentration gestört und müssen darüber nachdenken, wer mit einer Bezeichnung gemeint sein könnte? Na prima! Das ist es doch, was erreicht werden soll! Beim Aussprechen leiste ich auch gern Hilfe zur Selbsthilfe: Sie können doch sicher solche Formen wie «usw.», «bzw.» oder – als gebildete Lateinerin – «et al.» auflösen und aussprechen. Wenden Sie dieses Prinzip doch auch mal bei einer gegenderten Personenbezeichnung an, es könnte funktionieren!

ad Moral: Wer hat Ihnen denn eigentlich verboten, Ihre Sprache zu sprechen? Und falls Sie tatsächlich mal jemand auf Ihre Art zu formulieren angesprochen haben sollte: Wie fühlten Sie sich dabei? Als Sie einfach anders sprechen und schreiben sollten, als es Ihrem Innersten entspricht? Fühlten Sie sich da vielleicht – nicht wahrgenommen? Nicht sichtbar? In der Sprache nicht korrekt abgebildet? Na sowas.

ad Sprachzwang: Was genau ist denn eigentlich die grosse böse Gender-Maschinerie, die Bildungsinstitutionen, Verwaltung und Medien unterjocht und zur Benutzung gendergerechter Sprache zwingt? Ich wurde jedenfalls bisher noch zu keinem Geheimtreffen eingeladen, bei dem Gender-Befürworter:innen einen perfiden Plan zur Übernahme der Rechtschreibregelwerke ausarbeiten. Ehrlich gesagt klingt mir Ihr ganzer Text so, als wollten Sie etwas erzwingen oder verbieten – und das als Leiterin der Ethikkommission! Müssen wir uns Sorgen machen?

ad Sexualität: Sie denken darüber nach, wie die genannten Personen Sex haben, wenn Sie ein Gendersternchen lesen? Wirklich?! Na dann viel Spass hierbei: Polizist*innen! Gärtner*innen! Eisbär*innen! … Eigentlich wissen wir doch alle, dass zur geschlechtlichen Identität mehr gehört als nur die Art, wie jemand seine Sexualität auslebt, oder nicht?

Sprache soll neutral bleiben? Sprache war noch nie neutral! Sprache lebt von kleinsten Nuancen, sie wandelt sich permanent, sie verändert sich von sprechender zu empfangender Person, von einer Ortschaft zur nächsten, von einem Jahrzehnt zum folgenden. Sprache bietet fantastische Möglichkeiten, bisher Ungesagtes auszudrücken, neue Formen zu bilden und – ja, auch das – zu polarisieren.

Sie heben die höchstmögliche individuelle Freiheit hervor. Sehr schön! Die Freiheit des einen Menschen endet dort, wo die des nächsten beginnt. So lassen Sie doch das Gendern einfach bleiben. Aber lassen Sie bitte auch Menschen wie mir die Freiheit, zu gendern, so viel wir wollen.

Freundliche Grüsse Dörte Wacker, eine Germanistin mit Latinum