Krieg

Fragen an Daniela Gossweiler, AOZ

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 9 (17) 2023 25–29

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2023-1-25

Daniela Gossweiler ist eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin und Fachleiterin der Psychologischen Beratung und Begleitung des PsychoSozialen Diensts der Asylorganisation Zürich (AOZ). Die AOZ erbringt fachliche Dienstleistungen im Auftrag von Bund, Kantonen, Gemeinden und Stellen der öffentlichen Hand. Sie erfüllt Aufgaben der Sozialhilfe und Integrationsförderung für Asylsuchende, Geflüchtete sowie andere Zugewanderte.

Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 hat die grösste Anzahl Geflüchtete auf unserem Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg verursacht. Millionen von Menschen wurden in die Flucht getrieben und suchten zunächst Schutz in den Nachbarländern, über 70.000 gelangten schliesslich in die Schweiz. Als Organisation, die sich seit Jahrzehnten mit dem Thema Flucht und Asyl beschäftigt, wurde die AOZ mit der Unterbringung und Betreuung ukrainischer Geflüchtete betraut. Zum PsychoSozialen Dienst der AOZ gehören Angebote wie das Familiencoaching, die Zürcher Anlaufstelle Rassismus (ZüRas) und psychotherapeutischen Angebote für erwachsene Geflüchtete und unbegleitete minderjährige Asylsuchende.

An wen richtet sich das Angebot Psychologische Beratung und Begleitung?

Das Angebot steht primär Erwachsenen mit Fluchterfahrung zur Verfügung, die in der Stadt Zürich wohnhaft sind und Sozial- und Wirtschaftshilfe durch die AOZ-Sozialberatung beziehen. Sie werden von Sozialberater*innen auf deren Eigeninitiative oder Empfehlung bei uns angemeldet. Wir sind ein internes Angebot der AOZ und können lediglich auf Kostengutsprache von Gemeinden Beratungen ausführen. Wir bieten ausserdem für Fachpersonen Fallbesprechungen an, die helfen können, ein besseres Verständnis für Klient*innen zu erhalten und Empfehlungen für weitere Schritte zu geben.

Welche Zielsetzungen verfolgen Sie mit Ihrem Angebot?

Durch die Fluchtmigration sieht sich das Individuum u. a. mit dem Verlust des vertrauten Deutungs- und Referenzrahmens, des sozialen und familiären Umfelds und der Sprache konfrontiert. Gemeinsam mit den potenziell traumatischen Erfahrungen im Heimatland, auf der Flucht oder im Aufnahmeland kann dies zum Verlust von gewissen psychischen Funktionen, also zu einer psychischen Destabilisierung oder gar Dekompensation, führen. Dieser Fragmentierung kann durch die Erzählung in der Therapie entgegengewirkt und in Richtung eines Zusammenfügens der einzelnen Teile und Abschnitte zu einer ganzheitlicheren Erzählung hingearbeitet werden.

Sie selbst sind ausgebildete Psychotherapeutin. Was ist die besondere Herausforderung bei der Arbeit mit Geflüchteten? Gibt es einen Unterschied zu Personen von hier?

Für unsere Arbeit ausschlaggebend ist sicherlich das geringe sozioökonomische Niveau unserer Patient*innen. De facto fehlt es ihnen teils an einem sozialen Netzwerk und finanziellen Ressourcen, um einem Hobby nachzugehen oder an einem Wochenende aus dem Alltag Abstand zu nehmen. Wir haben es mit Menschen zu tun, die stark marginalisiert sind, im Prekariat leben, was wiederum das Vorankommen therapeutischer Arbeit verlangsamt.

Ein anderer Aspekt betrifft die starken Gegenübertragungsgefühle wie starke Ohnmacht, Hilflosigkeit, Lähmung oder starke Anteilnahme. Dies kann in zwei unterschiedliche Pole führen, dass man einerseits diese unangenehmen Gefühle abführen möchte, indem man in einen Aktionismus verfällt und Rettungsfantasien für Patient*innen hegt. Oder dass man andererseits mit der Zeit einfach nicht mehr kann oder auch Mitgefühlserschöpfung verspürt. Hier hilft Supervision und Intervision, um die unangenehmen Gefühle zu reflektieren und erneut handlungsfähig zu werden.

Sie arbeiten mit Dolmetscher*innen zusammen. Wie muss man sich das vorstellen? Gelingt es Ihnen, damit eine psychotherapeutische Beziehung herzustellen?

Es ist sicher so, dass sowohl der Informationsfluss als auch der Aufbau einer therapeutischen Beziehung deutlich mehr Zeit braucht, als wenn man im direkten Dialog arbeitet. Es hängt gemäss meiner Erfahrung stark von der Beziehungsfähigkeit der Klient*innen ab. Menschen die infolge eines von Menschen ausgeführten Übergriffs Traumata erlebt haben, zeigen erfahrungsgemäss als Folge starkes Misstrauen in zwischenmenschlichen Beziehungen. Ein weiterer wichtiger Faktor betrifft die Professionalität der Dolmetscher*innen und deren Fähigkeit, die therapeutische Arbeit mitzutragen und die Inhalte der Therapie auszuhalten. Es ist uns ganz wichtig, dass diese in der Lage sind, eine gute Beziehung aufzubauen, damit sie aber auch eine gewisse Vorstellung davon haben, was psychotherapeutische Arbeit überhaupt heisst. Wichtig ist, dass die interkulturellen Dolmetscher*innen sich ausreichend distanzieren, dass sie Sprachvermittelnde sind und nicht die Gesprächsführung übernehmen. Wir arbeiten in der konstanten Triade, um Kontinuität zu sichern.

Teils benötigt es meinerseits etwas Kreativität, um an traumabezogene Inhalte, die oft mit starken Scham- und Schuldgefühlen in Verbindung stehen, zu gelangen. Ich arbeitete beispielsweise einmal mit einer Patientin, die eine Gruppenvergewaltigung erlebt hatte. Wir entschieden, dass sie das Erlebte in ihrer Muttersprache niederschreibt und nicht in Anwesenheit der bisherigen Dolmetscherin wiedergibt. Wir liessen dann die anonymisierten Notizen von einer Dolmetscherin übersetzen. Dieses Material verwendete ich in einem psychologischen Bericht, der ausschlaggebend für den positiven Asylentscheid war. Erst nach Erhalt des Aufenthaltsstatus konnten wir in der Therapie über diese Erfahrung in der Triade sprechen.

Das Kriegserlebnis und die plötzliche Flucht und Sorgen um die verbliebenen Angehörigen rufen für Körper und Psyche Stress, Angst, aber auch Schuldgefühle hervor. Wie gehen Menschen damit um, wenn sie z. B. ihre Eltern oder andere Verwandte zurücklassen mussten?

Hier wird die sogenannte Verarbeitung ganz schwierig, wenn die traumatische Erfahrung noch gar nicht abgeschlossen ist, sondern der traumatische Prozess weitergeht, weil man sich zwar nicht mehr in der traumatischen Situation befindet, aber die Angehörigen sehr wohl. Ich denke an einen Patienten, der gefoltert wurde und nun immer wieder an seine Mitstreiter*innen im Gefängnis denkt und von starken Schuldgefühlen verfolgt ist. Darf es ihm überhaupt gut gehen oder muss er aus Loyalität weiterleiden? Als Psychotherapeut*innen muss uns bewusst sein, dass dann oftmals ein vertieftes Besprechen über den traumatischen Inhalt oder auch eine Traumaexposition im klassischen Sinn mit Geflüchteten, deren Familienmitglieder weiterhin in der traumatischen Situation sind, gar nicht möglich ist, weil die Geschichte nicht abgeschlossen ist und nicht ausreichend psychische Stabilität gegeben ist. Oft ist die psychische Stabilisierung der Fokus; es geht darum, die Abwehr zu stärken, das Funktionsniveau der Alltagsbewältigung zu erreichen.

Was den Stress im Körper betrifft, ist meine Aufgabe, den teils stark abgespaltenen Affekten, z. B. Scham und Schuld, Raum für eine Versprachlichung zu geben. Dort beobachten wir, dass sich die psychosomatischen Reaktionen im Laufe des Prozesses verringern lassen, die Menschen immer weniger Medikamente zu sich nehmen müssen oder die Notfallstation weniger aufgesucht werden muss. Oftmals berichten mir Patient*innen, dass sie endlich ein Gegenüber haben, dem sie die traumatischen Erfahrungen erzählen können, ohne dass das Gegenüber zusammenbricht.

Das Thema Geflüchtete ist in der Schweiz ja stark stigmatisiert. Ist dies in Ihrer Arbeit spürbar und beeinflusst es die psychotherapeutische Beziehung?

Ja, sehr, dem kann ich nur zustimmen. Einerseits merken wir das stark in der Zusammenarbeit mit der psychotherapeutisch-psychiatrischen Grundversorgung. Wir sind kein ärztlich geleitetes Angebot, wir sind nicht Teil des Gesundheitswesens. Sobald es um eine Fürsorgerische Unterbringung oder einen geplanten stationären Eintritt, aber auch das Ansetzen von Medikamenten geht, sind wir auf die Grundversorgung angewiesen. Dort stossen wir immer wieder auf Hindernisse.

Das andere ist, dass ich oftmals erlebe, auch im Austausch mit anderen Fachpersonen, dass Geflüchteten manchmal die Fähigkeit zu einer Psychotherapie abgesprochen, ihre Reflexionsfähigkeit dafür bezweifelt wird. Da haben wir ganz andere Erfahrungen gemacht. Der Gedanke, dass lediglich Menschen aus dem globalen Norden diese Fähigkeit vorbehalten ist, basiert auf einem Gedanken einer Vormachtstellung und kann als eine rassistische Annahme verstanden werden.

Sie arbeiten mit Erwachsenen. Unter den Geflüchteten befinden sich jedoch auch viele Kinder. Spielt dies bei Ihrer Arbeit eine Rolle?

Es ist uns ein Anliegen, dass man bei stark psychisch belasteten Eltern schaut, wie ihre Kinder davon betroffen sind. Sehr oft beobachte ich, dass diese schon früh elterliche Funktionen übernehmen und dass unterschätzt wird, wie schwierig es ist, wenn man Kinder bspw. als Dolmetscher*innen in der Arztpraxis oder Schule einsetzt, da sie emotional wirklich stark überfordert sind. Wir setzen uns ein, dass man Kinder nicht dazu benutzt.

Besonders belastend für mich ist, wenn Klient*innen ihre Kinder zurücklassen mussten und nun unglaublich starke Schuldgefühle haben. Dann ist es für mich sehr traurig zu sehen, wie gross diese Belastung für die Eltern ist, da ich weiss, wie durch die Wiedervereinigung mit ihren Kindern diese gelindert werden könnte. Aber ich habe es mit Behörden zu tun, die einen anderen Standpunkt vertreten.

Wie reagieren Sie als Psychotherapeutin auf das Fremde?

Unsere Mitarbeitenden bringen viel Erfahrung mit Menschen aus anderen Ländern mit. Ich habe z. B. zwei Jahre in der Türkei gelebt und hatte kürzere wie längere Aufenthalte in Ländern des Nahen Ostens. Und auch hier hilft wieder Intervision und Supervision. Man muss sich auch so etwas wie einen Methodenkoffer, Wissen über unterschiedliche Rituale, Werte, Verhaltensweisen aneignen. Trotzdem ist es mir sehr wichtig, dass ich es immer wieder schaffe, in die Position von Neugier, von Offenheit zu kommen, dass ich auch darauf achte, nicht von einer Schablone F auszugehen. Es ist mir ein Anliegen nicht in die Kulturalisierung zu rutschen, mit der man den Blick für Besonderheiten und individuelle Lebensgeschichten verliert und stattdessen Menschen ein und desselben Landes als gleich betrachtet.

Die AOZ betreut Geflüchtete und Asylsuchende aus der ganzen Welt. Das Thema im Moment ist die Ukraine. Gibt es Unterschiede zu Menschen z. B. aus dem Mittleren Osten, aus Afrika oder aus der Ukraine?

Mir kommt dazu als Erstes in den Sinn, dass wir z. B. bei Somalia oder Afghanistan von Ländern sprechen, wo seit Jahrzehnten immer wieder Bürgerkriege herrschen. Hier sind langfristig kumulierte oder transgenerationale Traumata das Thema. Wir haben es mit Menschen zu tun, die geprägt sind von ihren Herkunftsländern. Das ist in der Ukraine, die vorher ein stabileres Land war, weniger der Fall. Ukrainer*innen waren unter Umständen während einer kürzeren Zeit bis hin zu kaum ins Kriegsgeschehen involviert. Sie hatten vorher einen regulären Alltag und dann merkt man schon einen markanten Unterschied. Auch kommt es darauf an, ob jemand aus einem urbanen Gebiet geflüchtet, bildungsnah oder intellektuell ist, oder aus einem ländlichen Gebiet kommt. Sicherlich ein starker Unterschied betrifft die Fluchtwege: Wo Geflüchtete aus Eritrea die gefährliche Fluchtroute über das Mittelmeer auf sich nehmen müssen, konnten Geflüchtete aus der Ukraine über einen sicheren Fluchtweg in die Schweiz gelangen. Ausserdem unterscheiden sich die asylrechtlichen Umstände markant. Es ist ja toll, dass Bundesrätin Karin Keller-Sutter den Schutzstatus S generiert hat, der wirklich eine Vereinfachung bedeutet. Aber für die rasche psychische Stabilisierung und zeitnahe soziale und berufliche Integration wäre es wünschenswert, diesen Status auf Menschen aus anderen Kriegsgebieten auszudehnen.

Noch eine Frage zu Ihnen persönlich. Welche Spuren hinterlässt die tägliche Auseinandersetzung mit dem Krieg und seinen Folgen bei Ihnen persönlich?

Was die emotionalen und psychischen Spuren betrifft, bin ich mittlerweile sehr an diese Arbeit gewöhnt, etwas abgehärtet und kann sehr viel auch aus diesen Gefässen herausnehmen. Was es hinterlässt, ist das Bewusstsein für die eigenen Privilegien und Möglichkeiten. Ich werde Zeugin eines Teils der Schweizer Bevölkerung. Dabei fällt besonders die Schwere der sogenannten post-migratorischen Belastungen auf, also Belastungen, die im Aufnahmeland angetroffen werden, also hier in der Schweiz. Dazu gehören schlechte Wohnverhältnisse in Kollektivunterkünften, geringe finanzielle Mittel, starke Fremdbestimmung. Es hinterlässt bei mir immer wieder ein starkes Mitgefühl, wenn ich so eine Immobilie anschaue und realisiere: Ja, das ist ein Teil unserer Realität. Der Unterschied ist frappant.

Und eine letzte Frage: Gibt es etwas, das Sie noch gern zu diesem Thema sagen würden?

Ihre Leser*innen sind ja Psychotherapeut*innen. Und da hätte ich einen Wunsch: Dass wir Offenheit gegenüber geflüchteten Menschen zeigen, dass wir z. B. einen unserer vielen Therapieplätze einem geflüchteten Menschen anbieten, dass wir uns darauf einlassen. Die Umstände von Geflüchteten kennenzulernen, ihre Geschichte, erweitert ja auch den gegenseitigen Horizont. Das hat mich ebenfalls motiviert, bei diesem Interview mitzumachen. Es wäre so wünschenswert, wenn wir uns ein Bisschen mehr darauf einlassen würden. Es muss ja nicht der ganze Patient*innenstamm sein, aber vielleicht eine oder zwei Personen.

Das Interview wurde von Marianne Roth in einem Videogespräch geführt.

Daniela Gossweiler ist eidg. anerkannte Psychotherapeutin und Fachleiterin der Psychologischen Beratung und Begleitung im PsychoSozialen Dienst der Asylorganisation Zürich (AOZ).