Verena Kast (2023): Leben ist Beziehung. Vom Selbst zur Welt

Ausgew. u. hrsg. v. Christiane Neuen
Patmos, ISBN: 978-3-8436-1461-0, 192 Seiten, 26.70 CHF, 22.– EUR

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 9 (17) 2023 31–31

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2023-1-31

Zum 80. Geburtstag von Verena Kast ist ein Buch erschienen, das ausgewählte Schriften aus dem reichhaltigen Werk der Autorin enthält. Ausgewählt und herausgegeben wurden diese Beiträge von Christiane Neuen. Sie geben Einblick in die Themen, die Kast wichtig sind. Das Buch liest sich zugleich als gut verständliche Einführung in die Jung’sche Psychologie, zu deren Verbreitung Kast viel beigetragen hat im Laufe ihres Wirkens als Dozentin und Autorin wie auch als Forscherin.

Ein Merkmal von Kasts Publikationen ist die gut verständliche Sprache. Ihre Texte sind auch lesbar für Menschen, die nicht AkadamikerInnen und ForscherInnen sind. Wie der Titel es nahelegt, liegt der Schwerpunkt der ausgewählten Publikationen auf dem Aspekt der Beziehung, der Bezogenheit. Menschen leben nicht für sich allein, sie sind eingebettet in soziale Beziehungen, in eine Gesellschaft und Kultur, die dazu beitragen, der oder die zu sein, die man ist. Das Buch enthält acht Texte, die diese Beziehungsorientierung beleuchten.

Der erste Text mit dem Titel «Bezogen auf ein Du» liest sich fast wie ein Text aus der humanistischen Psychologie mit seinem starken Bezug zu Martin Buber. Die Autorin referiert über Resonanz, die zwischen Menschen in Beziehung entsteht und zur Bildung eines Beziehungsselbst beiträgt.

Der zweite Text trägt den Titel «Was die Liebe prägt: Beziehungsphantasien». Er handelt von Idealisierungen in der Verliebtheit, der Sehnsucht nach Ganzheit und der Schwierigkeit, sich nach dem Tod eines Partners neu zurechtzufinden, weil die Beziehung Teil des Selbstseins war. Anhand eines Traums eines Analysanden erläutert Kast diese Aspekte und führt weiter zur Bedeutung und Kraft von Mythen.

Ein zentraler Text für das Denken der Autorin ist «Identität entsteht in Beziehungen». Sie beleuchtet darin die Wechselwirkung zwischen Umwelt und Individuum und wie über die Zeit eine Konstanz der Identität entstehen kann. Ein prägender Satz lautet: «Identität entwickelt sich im Dazwischen […] in Beziehungen, zwischen Ich und Du, zwischen mir und der Welt».

Der Beitrag «Komplexe sind Beziehungsmuster» führt in einen wichtigen Begriff der Jung’schen Theorie ein und zeigt, wie sich festgefahrene Verhaltensmuster aufgrund zurückgehaltener Emotionen aus Lebensereignissen behindernd auswirken können.

Der Text «Individuation: Selbstwerdung in Beziehung» führt das Thema der Beziehungseinbettung des Menschen weiter und erläutert zugleich anhand von Fallbeispielen, was in der Jung’schen Psychologie mit dem Individuationsprozess gemeint ist.

Der sechste Text fokussiert auf die therapeutische Beziehung und führt anhand weiterer Fallbeispiele die Thematik des Individuationsprozesses als therapeutisch induziertes Geschehen zu einem schöpferischen Wachstumsprozess weiter.

Es folgt ein Text zum Jung’schen Begriff des Schattens: «Der Schatten im Zusammenleben». Der Schatten ist das, was man nicht sieht und man an sich lieber nicht wahrhaben möchte. In der Therapie geht es aber darum, sich seiner Schattenseiten bewusst zu werden und sie anzunehmen, statt auf andere zu projizieren. Kast erläutert, wie es auch kollektive Schatten gibt und wie nicht integrierte Schatten zu Angst vor dem Fremden führen, was wiederum zu Angst und Hass wie auch zu Gewalt führen kann.

Der letzte Beitrag «Wege aus Angst und Hass» reflektiert Verschwörungsnarrative, Fanatismus und Fundamentalismus, die auf Angst begründet sind. Ich halte diesen Beitrag für gesellschaftspolitisch hochaktuell und relevant. Einen Ausweg sieht die Autorin darin, dass Angst als normales Gefühl zugelassen werden kann und Empathie mit anderen Gruppen gefördert wird.

Das Buch beleuchtet wichtige Themen des Menschseins und vermag in der Tat Verena Kasts Wirken mit einem deutlichen Fokus auf das soziale Eingebettetsein und die Bedeutung von Beziehungen wiederzugeben.

Herzliche Gratulation zum 80. Geburtstag!

Peter Schulthess