Gerechtigkeit durch Gendern?

Volker Tschuschke

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 9 (18) 2023 17–19

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2023-2-17

Man kommt nicht darum herum, die aktuell weiterhin die Gemüter in Wallung bringende Genderdebatte als ideologisch kontaminiert zu bezeichnen, und zwar sowohl von der einen wie von der anderen Seite aus betrachtet.

Der Erziehungswissenschaftler Markus D. Meier von der Fakultät für Rechtsmedizin der Universität Bogota sieht «Unüberbrückbarkeiten und Vorwürfe eines historisch hoch belasteten, politisch apologistischen, epistemologisch naiven Biologismus einerseits und einer empirieresistente, scheinwissenschaftliche Gender-Religion andererseits» am Werke [1]. Der Philosoph Christoph Türcke verortet die Urgründe der Gender-Bewegung im Wesentlichen beim französischen poststrukturalistischen Philosophen, Psychologen und Soziologen Michel Foucault [2, 3], den er als «Wegbereiter des radikalen Feminismus» bezeichnet [4]. Der Begriff «gender» selbst wird auf den neuseeländischen Psychologen und Soziologen John Money zurückgeführt, der sich mit intersexuellen Phänomenen befasste und den Begriff der «gender identity» für «Geschlechtsidentität» einführte [5, 6]. Die Kultur- und Sozialanthropologin von der Universität Wien Ingrid Thurner dagegen sieht in der «Sprachgerechtigkeit» lediglich ein Ablenkungsmanöver [5]. Ausserdem wird das generische Maskulinum als spezifisches Maskulinum missgedeutet [7]. Der Bedeutungsverlagerung des Wortes Gender auf das Geschlecht von Personen (sexus) liege die fundamentale Verwechslung von genus und sexus zugrunde, wie die Sprachwissenschaftler Ulrich und Bär konstatieren [7]. «Genus ist ein sprachliches Faktum, eine grammatische Eigenschaft von Substantiven, und zwar gleichgültig, ob sie Lebewesen oder Unbelebtes bezeichnen. Sexus ist eine biologische Eigenschaft von bestimmten Lebewesen», stellt Miorita Ulrich fest. Und sie fährt fort: «Genus und Sexus müssen streng auseinandergehalten werden.» Der Linguist Jochen Bär argumentiert in dieselbe Richtung: «Dass das Maskulinum ursprünglich nichts mit dem männlichen Sexus zu tun hatte», erkenne man daran, «dass dort, wo der Aspekt des Geschlechts eine Rolle spielt, generische Maskulina, nicht generische Femina verwendet werden: Der einzige Verwandte, den er noch hat, ist eine Schwester ist richtig, trotz der fehlenden Kongruenz.» Seine Schlussfolgerung: «Genus und Sexus haben ursprünglich […] nichts miteinander zu tun.»

Logische Denkfehler

Aus feministischer Sicht entwickelte sich die Überzeugung, dass das Geschlecht über den durch Männer festgelegten Geschlechtsdiskurs bestimmt werde, was sich insbesondere im generischen Maskulinum («Phallogozentrismus») widerspiegele und die Unterdrückung der Frau als Motiv habe. Dass die Genderisierung von Sprache wissenschaftlich absurd und völlig falsch ist, ficht weder der Feminismus, noch die Politik an. Bereits vor mehr als 30 Jahren haben die UN-Weltfrauenkonferenz, dann die Europäische Union im Jahr 2000 und schliesslich die Deutsche Bundesregierung im § 2 der Gemeinsamen Geschäftsordnung unter dem Sammelbegriff gender mainstreaming zum Ziel erklärt, die unterschiedlichen Auswirkungen von Sprache auf Männer und Frauen (sic! von mehr als zwei Geschlechtern ist dort nicht die Rede) zu berücksichtigen, weshalb das sogenannte Gendersternchen (Asterisk), ein grosses Binnen-I, ein Doppelpunkt (selbst dabei ist man sich nicht einig) oder sonst etwas in einer gendersensiblen Deutschschreibung zu berücksichtigen sei, um neben männlichen und weiblichen auch sogenannte nichtbinäre, diversgeschlechtliche Personen (da sind’s dann doch plötzlich mehr als zwei) typografisch sichtbar zu machen und einzubeziehen seien. Die politisch motivierte Schlingerei geht weiter. Ganz aktuell hat der von Deutschland, Österreich, der Schweiz, Südtirol, Liechtenstein und der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens betraute Rat für die deutsche Rechtschreibung seine Entscheidung von 2021 bekräftigt, keine sogenannten Binnenzeichen beim Gendern in die Rechtschreibregeln aufzunehmen [8].

Worin könnte bloss die Logik bestehen, wenn im Deutschen der Genus «der» Mond, im Französischen aber «la» lune, im Deutschen «die» Sonne, im Französischen aber «le» soleil, im Deutschen «der» Tisch, im Französischen aber «la» table sind? Wieso sind – nach der Logik der Gender-Befürworter – der Teppich und der Rock männlich, die Hose, die Decke und die Lampe aber weiblich? Selbst falls im generischen Maskulinum immer noch eine sexualisierte Bedeutung gesehen werden sollte, wie könnte man sich dann die Tatsache erklären, dass es nicht «geschlechtergerecht» zugeht, wenn dem männlichen Geschlecht gar keine eigene Pluralform eingeräumt wird, sondern der bestimmte weibliche Artikel «die» durchgängig auf Maskulinum und Neutrum übergreift [9]?

Die Hälfte aller Sprachen auf dem Globus hat überhaupt keine Möglichkeit zum Gendern: «Im finnisch-ugrischen Sprachkreis, in den Turksprachen, im Chinesischen und Japanischen, im Armenischen und Persischen etwa fehlt den Substantiven jegliches grammatische Geschlecht. Jedes Substantiv für Menschen oder Tiere umfasst hier stets alle Geschlechter und vollzieht so gewissermassen automatisch deren grammatische Gleichstellung, ohne dass sich jemand für sie eigens ins Zeug legen müsste. Hat sich das in der sozialen Gleichstellung signifikant niedergeschlagen? Die rechtlich-soziale Stellung der Frauen in der Türkei, in Ungarn, im Iran oder in China lässt nicht erkennen, dass die grammatische Gleichstellung den Weg zur sozialen bahnt» [9].

Narzissmus als treibende Kraft

Ganz abgesehen von den wissenschaftlich unhaltbaren Sprachverrenkungen wären abstruseste sprachliche Deformationen die Folge, die mit absoluter Sicherheit dazu beitragen würden, dass noch weniger gelesen und Spracherwerb (und damit Denken) noch weiter behindert werden würden. Es geht um das narzisstische Motiv «Ich muss gesehen werden», wie dies der (die, x?) sich als divers einordnende Professor (in? x?) Lann Hornscheidt – sich selbst auch schon mal als Antje Lann bezeichnend – deutlich macht [10].

«Es geht ja darum, ob ich vorkomme in der Sprache. Wenn nicht, ist das Diskriminierung», sagt Hornscheidt. Früher hat sich Hornscheidt bei Nomen und Pronomen ein geschlechterneutrales X gewünscht. Eine E-Mail an Hornscheidt hätte so begonnen: «Sehr geehrtex Professx Hornscheidt». Das X hat Hornscheidt aber verworfen und plädiert nun für die Endung «ens». Das geht so: «Sehr geehrtens Professens Hornscheidt». Einmal begonnen greift die Sprachreform immer tiefer. Hornscheidt verändert alle Pronomen. Ein Gespräch über Fahrräder verliefe so: «Wens gehört das Rad? – Es ist ens Rad. – Haben alle solche Räder? Ja, alle aktivens Radfahrens aus ens WG haben so ein Rad. Einens an der Mitbewohnens hat sogar zwei Räder.»

Die Gender-Bewegung lässt sich nicht auf sprachliche Regelungen allein eingrenzen. Feminismus und Schwulenbewegung sind zwei der zentralen Stützpfeiler der Identitären Linken. Zum Hintergrund des Themenkomplexes zählt dort die Forderung nach Aufhebung des hergebrachten Verständnisses der zwei Geschlechter, nämlich der Binarität bzw. des Dualismus zugunsten der geschlechtlichen Diversitätsidee, was noch wesentlich weitere gesellschaftliche als bloss sprachliche Implikationen hat [11]. Logisch konsequent umgesetzt zeigt sich dieses Denken in einem sprachlichen Beispiel der Fachschaftsinitiative Gender Studies der Humboldt Universität Berlin im Jahre 2015: «Als weiße Trans*-Person verlangte R. von der WoC spezifische Auskünfte über die race- und gender-Positionierungen innerhalb der Interventions-Gruppe. Denn schließlich sei der weiße Raum, in dem interveniert wurde, ein Schutzraum für Trans*-Personen. Somit müsse, als Legitimation, ein_e Trans*-Inter*GnC (Gender non Conforming) PoC oder Schwarze_r in die Intervention involviert sein.

Wenn ein_e solche_r nicht gefragt werden könne, müsse letztlich eine weiße Trans*Inter*GnC-Person die Erlaubnis erteilen, in einem ‹weißen Trans*Schutzraum› zu intervenieren» [12].

Brave new world. Man will ja niemanden übersehen oder verletzen. Endlich wird alles besser werden.

Referenzen

[1] Meier, M. D. (2018). Hypergamie – Brücke zwischen sex und gender. In C. Schwender, S. Schwarz, B. P. Lange & A. Huckauf (Hg.), Geschlecht und Verhalten aus evolutionärer Perspektive. Pabst, S. 53.

[2] Foucault, M. (1973). Wahnsinn und Gesellschaft. 24. Aufl. Suhrkamp.

[3] Foucault, M. (2020). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 24. Aufl. Suhrkamp.

[4] Türcke, C. (2021). Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns. C. H. Beck, S. 122f.

[5] Wikipedia: Generisches Maskulinum. https://de.wikipedia.org/wiki/Generisches_Maskulinum

[6] Kutschera, U. (2018). Geschlecht aus evolutionsbiologischer Sicht. In C. Schwender, S. Schwarz, B. P. Lange & A. Huckauf (Hg.), Geschlecht und Verhalten aus evolutionärer Perspektive. Pabst, S. 21f.

[7] Kubelik, T. (2015). Genug gegendert! Eine Kritik der feministischen Sprache. Format, S. 53.

[8] o.A. (14.07.2023). Rechtschreibrat bleibt dabei: Keine Gendersterne. Süddeutsche Zeitung. https://www.sueddeutsche.de/thema/Genderdebatte

[9] Türcke, C. (2021). Quote, Rasse, Gender(n). Demokratisierung auf Abwegen. Zu Klampen, S. 95.

[10] Bender, J. & Eppelsheim, P. (07.02.2021). Krieg der Stern*innen. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, S. 4.

[11] Tschuschke, V. (2023). Zerbricht die Demokratie am Egoismus? Missverstandene Freiheit und die Folgen. Königshausen & Neumann.

[12] Fachschaftsinitiative Gender Studies Humboldt Universität Berlin (13.09.2015). Statement zum Ausschluss von R. https://genderini.wordpress.com/2015/09/13/statement-zum-ausschluss-von-r

Volker Tschuschke, Univ.-Prof. Dr. rer. biol. hum. Dipl.-Psych., ist emeritierter Lehrstuhlinhaber, Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker. Von 2006 bis 2012 ko-leitete er gemeinsam mit dem Departement für Angewandte Psychologie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) die schweizweite PAPS-Studie der Schweizer Charta für Psychotherapie.