Verhinderung von Armut und sozialer Exklusion

Welchen Beitrag kann die psychiatrische Rehabilitation leisten?1

Dirk Richter

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 9 (18) 2023 31–33

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2023-2-31

Menschen mit psychischen Problemen sind seit jeher überwiegend verarmt und sozial exkludiert. Der Zusammenhang von Armut und psychischen Problemen gehört zu den gesichertsten Befunden der psychiatrischen Epidemiologie seit Mitte des 20. Jahrhunderts (Hollingshead & Redlich, 1958). Ein anderer – und teils noch brutalerer – Aspekt der sozialen Exklusion war die Tatsache, dass viele Betroffene in Institutionen wie psychiatrischen Anstalten und Heimen lebten und damit segregiert von der Allgemeinbevölkerung (Scull, 2015). Dies geschah überwiegend gegen ihren Willen und die Aufenthalte dauerten Jahre bis Jahrzehnte. In dieser Phase der psychiatrischen Versorgung gab es so gut wie keine Anstrengungen zur Überwindung der Exklusion und der damit einhergehenden Rechtlosigkeit der betroffenen Menschen.

Von der Exklusion zur Integration

Im Rahmen der Psychiatrie-Reformen ab den 1970ern änderte sich dies (Forster, 1997). Die psychiatrischen Kliniken wurden verkleinert und teils aufgelöst. Menschen mit psychischen Problemen sollten «in der Gemeinde» leben und sich sozial integrieren. Wie im Rest der Medizin sollte dies in der psychiatrischen Rehabilitation über ein Stufenleiter-Modell geschehen (Ciompi, 1988). Im Arbeitsbereich sollten Fertigkeiten erlernt und Belastungen zunehmen erprobt werden, indem über eine Werkstatt oder eine Sozialfirma ein Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt gefunden werden sollte. Im Wohnbereich existierte ein analoges Modell vom Wohnheim über eine betreute Wohngemeinschaft bis zur eigenen Wohnung.

Die empirische Forschung zeigte jedoch, dass es nur ein kleiner Teil der betroffenen Menschen über die Stufenleiter schafften, ihre Ziele zu erreichen. Nur ca. 10–15 Prozent der Personen konnten auf diese Weise den Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt und in die eigene Wohnung finden. Daher verwundert es nicht, wenn heute ein grosser Teil von Menschen mit schweren psychischen Problemen nach wie vor von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen lebt. Armut sowie soziale Isolation und Einsamkeit kennzeichnen die Lebensrealität vieler Menschen mit psychischen Problemen (Richter & Hoffmann, 2019b).

Von der Integration zur Inklusion

Neuere Ansätze, die auf Inklusion statt Integration setzen (Richter et al., 2016), sind aktuell unzureichend in der westlichen Welt etabliert. Dies gilt auch für die Schweiz, wo nach wie vor zu wenig auf Inklusion gesetzt wird. Es mangelt bspw. an Programmen zur unterstützten Beschäftigung (Supported Employment; SE), die darauf abzielen, Menschen mit psychischen Problemen unter Umgehung der Stufenleiter direkt im allgemeinen Arbeitsmarkt zu platzieren. SE-Programme sind deutlich erfolgreicher als konventionelle Arbeitsrehabilitation und schaffen es, dass etwas mehr als 40 Prozent der Programmteilnehmenden langfristig im Arbeitsmarkt verbleiben (Richter & Hoffmann, 2019a; Suijkerbuijk et al., 2017).

Ein ähnlich hoher Prozentsatz ist auch in der Lage, in der eigenen Wohnung zu leben; die sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen des Lebens in der eigenen Wohnung sind nicht schlechter als das Wohnen in mehr betreuten Settings (Adamus et al., 2022). Entscheidend ist zudem, dass sowohl die eigene Wohnung wie auch der Job im ersten Arbeitsmarkt klar zu den Präferenzen der betroffenen Menschen zählen (Richter & Hoffmann, 2017b).

Allerdings kommt nur ein kleiner Teil der infrage kommenden Person in den Genuss solcher Programme. Diese Situation wird nicht nur von Betroffenen als problematisch angesehen, sie widerspricht auch den Zielen der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UN-BRK), welche die Schweiz unterzeichnet hat (Richter et al., 2023). Der Evaluationsbericht zur Umsetzung der UN-BRK aus dem Jahr 2022 hat eine mehr oder minder vernichtende Bilanz gezogen (Committee on the Rights of Persons with Disabilities, 2022). Die konventionellen Rehabilitationsinstitutionen im Heimsektor und im Bereich der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen zeigen eine bemerkenswerte Zurückhaltung und ein Beharrungsvermögen bei der Umsetzung der UN-BRK im Land.

Von der Inklusion zur Verhinderung von Exklusion

Doch selbst mit der nur in Ansätzen angestrebten Inklusion vergibt sich das Gesundheits- und Sozialwesen ein erhebliches Potenzial. Psychische Probleme entstehen in aller Regel nicht über Nacht, sondern haben zumeist eine relativ lange Entwicklung. Bekanntermassen haben Jugendliche und junge Erwachsene ein sehr grosses Risiko, erstmalig unter solchen Problemen zu leiden (McGrath et al., 2023). Dahinter stecken nicht nur biologische Veränderungen, sondern auch Sozialisationsschwierigkeiten wie Ablöseprobleme von den Eltern. Im sozialen Bereich zeigen sich diese Schwierigkeiten unter anderem durch den Zusammenhang von Schulabsenzen und Ausbildungsabbrüchen mit psychischen Problemen (Gubbels et al., 2019).

Bis heute existiert jedoch keine flächendeckende und wirksame Schulsozialarbeit, die sich effektiv um psychische Probleme von Jugendlichen kümmert. Noch weniger Unterstützung ist in Lehrbetrieben vorhanden. Viele Lehrpersonen und Ausbildungsverantwortliche tun sich zudem sehr schwer im Erkennen und im Ansprechen von psychischen Problemen. Dabei stehen mittlerweile vergleichbare Programme wie für Erwachsene zur Verfügung, die sich auf Schul- und Ausbildungsprobleme (Supported Education) fokussieren (Bond et al., 2023).

Eine ähnliche Situation existiert im Umgang mit psychischen Belastungen im Arbeitsleben Erwachsener. Wirksame präventive Massnahmen und Angebote werden eher selten in Anspruch genommen, wenn sie überhaupt vorhanden sind. Frühzeitige Interventionen und Unterstützung sind jedoch in der Lage, eine grosse Zahl Betroffener im Job zu halten. Solche Interventionen sind schlussendlich wesentlich effektiver als die Wiedereingliederung nach erfolgtem Jobverlust (Zürcher et al., 2023). Sie tragen nicht nur zur Reduktion psychischer Probleme bei, sondern helfen auch den Systemen der sozialen Sicherung durch Einsparungen und leisten einen Beitrag gegen den Arbeitskräftemangel.

Unterstützung bei Alltagsproblemen durch Wohnbegleitung im Wohnumfeld ist sicherlich stabilisierend für die Situation der von psychischen Problemen betroffenen Menschen. Gleichzeitig helfen derartige Programme jedoch auch, die Wohnstabilität zu sichern und den Wohnungsverlust und drohende Obdachlosigkeit zu vermeiden (Richter & Hoffmann, 2017a). Allerdings wird auch im Wohnsektor nach wie vor zu stark auf Wohnsettings gesetzt, die nicht hinreichend inklusiv sind und Autonomie für die betroffenen Menschen nicht sicherstellen.

Schlussfolgerungen

Der Paradigmenwechsel von der Integration zur Inklusion könnte deutlich mehr Menschen mit psychischen Problemen vor Armut und sozialer Exklusion bewahren. Noch besser und wirksamer wäre es jedoch, wenn es gelänge, Prävention und Rehabilitation zu kombinieren. Die genannten Beispiele sollten deutlich gemacht haben, dass ein grosses Potenzial besteht, gegen die soziale Marginalisierung von Menschen mit psychischen Problemen anzugehen. Dies würde nicht nur die Kranken- und die Rentenversicherungen entlasten, sondern dem Willen und den Präferenzen der meisten Betroffenen entsprechen – und dies ist die menschenrechtliche Intention der UN-BRK.

Literatur

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Suijkerbuijk, Y. B., Schaafsma, F. G., van Mechelen, J. C., Ojajarvi, A., Corbiere, M. & Anema, J. R. (2017). Interventions for obtaining and maintaining employment in adults with severe mental illness, a network meta-analysis. Cochrane Database Syst Rev, 9, CD011867. https://doi.org/10.1002/14651858.CD011867.pub2

Zürcher, S. J., Zürcher, M., Burkhalter, M. & Richter, D. (2023). Job Retention and Reintegration in People with Mental Health Problems: A Descriptive Evaluation of Supported Employment Routine Programs. Adm Policy Ment Health, 50(1), 128–136. https://doi.org/10.1007/s10488-022-01227-w

Prof. Dr. Dirk Richter arbeitet an der Berner Fachhochschule, Departement Gesundheit, und bei den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern, Zentrum Psychiatrische Rehabilitation. Er widmet sich der Rehabilitationsforschung.