Daniel Hell (2022): Das Selbst in der Krise – Krise des Selbst

Schwabe, 184 Seiten, ISBN: 978-3-7965-4442-2, 23.00 EUR, 23.00 CHF

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 9 (18) 2023 36–36

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2023-2-36

Daniel Hell ist uns bekannt als sehr erfahrender Zürcher Psychiater und Psychotherapeut, der viel publiziert hat. In Das Selbst in der Krise – Krise des Selbst geht er dem Wandel des Begriffs des «Selbst» vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen nach und zeigt auf, welche Bedeutung dies für die Psychotherapie und die modernen Störungsbilder hat. Er zeichnet verschiedene Selbstkrisen unserer PatientInnen nach und beschreibt die Krise des «Selbst» als Begriff.

Zu Beginn widmet er sich der Frage, wie sich in der Psychologie der Begriff der «Seele» zunehmend verändert hat und durch den Begriff des «Selbst» ersetzt wurde. «Seele» wird mit tendenziell emotionalen und leiblichen Wortassoziationen verbunden, während «Selbst» kognitive und geistige Assoziationen weckt. Während «Seele» ein Symbol für (Er-)leben ist, stellt das «Selbst» eher ein Konstrukt oder funktionelles Modell dar. Für das «Selbst» ist der Mensch mitverantwortlich, wird es doch als Selbstverhältnis verstanden, das er sich im Leben in Abhängigkeit von Erfahrungen und eigenen Entscheidungen entwickelt. Die «Seele» hingegen gilt als angelegt, nicht als Schöpfung des Menschen. In einem Kapitel gibt der Autor einen Überblick über das «Selbst» in Philosophie und Psychologie. Das «Selbst» bringt die Beziehung eines Menschen zu sich selbst zum Ausdruck. In verschiedenen historischen Phasen der Philosophie wird das «Selbst» unterschiedlich definiert und verstanden, ähnlich in der Psychologie, wo die Umschreibungen eher schulenabhängig sind. Das Aufkommen des «Selbst» wird auf einen gesellschaftlichen Kulturwandel zurückgeführt, der die Betonung des «Selbst» nötig macht, was dazu führen kann, dass sich immer mehr Menschen in depressiver Weise als «erschöpftes Selbst» fühlen. Der Begriff der «Seele» hat sich in der modernen, kognitiv orientierten Psychologie praktisch verabschiedet.

Der Autor unterscheidet ein «präreflexives Selbst» von einem «reflexiven Selbst«. Ersteres entwickelt sich schon in den ersten Lebensmonaten und stellt die Basis für ein reflexives Selbst dar. Ist das präreflexive Selbst instabil ausgebildet, ist auch das reflexive Selbst leicht erschütterbar, was in Selbstwertkrisen deutlich wird. «Die aktuelle gesellschaftliche und kulturelle Situation zeichnet sich in den entwickelten Ländern des Abendlandes durch einen ausgeprägten Individualismus und einen sozioökonomischen Neoliberalismus aus» (S. 88). Entsprechend ringen heute die Menschen vor allem mit der Herausforderung eines möglichen Scheiterns ihrer Selbstansprüche und ihres Autonomiebestrebens. Scheitern hinterlässt eine Kränkung, die eine besondere Haltung der TherapeutInnen erfordert. Scheitern kann auch mit Beschämung einhergehen, sodass sich in klinischen Bildern Gefühle des Zorns und der Auflehnung zeigen (Reaktion auf Kränkung), vermischt mit Gefühlen der Scham als Reaktion auf Beschämung. In einem eigenen Kapitel widmet sich der Autor dem Scheitern an sich selbst. Er zeigt, wie das Scheitern an überhöhten modernen Idealen und überfordernden Selbstansprüchen nicht nur mit Depression, sondern auch mit verschiedenen anderen psychiatrischen Störungsbildern im Zusammenhang steht, und illustriert dies durch Fallbeispiele aus seiner reichhaltigen Praxis.

Gegen Buchende schlägt Daniel Hell eine Verbindung vom «Selbst» zur «Ich-Identität». Identität wird als Bewusstsein einer Kontinuität über die ganze Lebensspanne definiert. Ich-Identität ist relational, wird in Beziehungen zur Umwelt entwickelt, genauso wie auch das «Selbst». Der Autor spricht von «Selbstständigkeit in der Bezogenheit«. Selbstvertrauen wächst im zwischenmenschlichen Vertrauen. Auch hier bildet sich erst ein präreflexives Vertrauen aus, worauf es zur Bildung eines reflexiven Vertrauens kommt. Ein letztes Kapitel gilt der Funktion von Scham. Diese wir als Türhüterin des «Selbst» verstanden.

Ich habe dieses Buch mit Gewinn gelesen. Es zeichnet in leicht verständlicher Sprache Wesentliches zum gesellschaftlichen und kulturellen Wandel und den damit verbundenen Auswirkungen auf das Psychische dar und beschreibt die besonderen Herausforderungen für Psychiatrie und Psychotherapie im Umgang damit.

Peter Schulthess