Bucher, 368 Seiten. ISBN: 978-3-99018-666-4, 28.70 EUR, 39.90 CHF
à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 9 (18) 2023 38–38
https://doi.org/10.30820/2504-5199-2023-2-38
Die Psychotherapeutin Lilien Caprez legt mit NachtMeerFahrt ihr belletristisches Erstlingswerk vor. Sie gibt eine autobiografische, eloquent geschriebene Erzählung, wie sie in fortgeschrittenem Alter schwersterkrankt und nahe dem Tod doch zurück ins Leben fand. Die Geschichte beschreibt in bewegender Weise ihre Loslösung aus einem lebens- und liebesfeindlichen Frauenbild ihrer Familie hin zu einer Liebe zu einem Mann, die sich jedoch als Abhängigkeit entpuppte, aus der sie sich erst durch das Erlebnis der Todesnähe befreien und zurück in und hin zu einem selbstbestimmten, freien Leben fand. Das Buch ist im Grunde eine Liebesgeschichte und handelt von der Liebe zum Leben, der Liebe zu Männern und der Liebe zu sich selbst.
Männer waren in der Herkunftsfamilie der Autorin als gewalttätig und despotisch beschrieben, ihre Frauen von deren sozialen Stellung und deren Finanzen abhängig. Die junge Frau wusste, dass sie sich nicht in solcherart instrumentalisierte Beziehung begeben wollte. Es gelang ihr, sich von den Vorstellungen ihrer Verwandten zu lösen und selbstbestimmt aus Liebe einen Mann zu heiraten. Diese Beziehung wurde in ihrem Umfeld als modellhaft geglückte bewundert. Eine verheimlichte Fremdbeziehung des Partners erschütterte diese Welt aber und führte letztlich zur Scheidung, doch blieb stets eine Beziehung der Liebe erhalten. Diese zeigte sich jedoch auch als Abhängigkeit, die sie nicht frei werden liess, eigene Wege zu gehen und neue Lieben einzugehen. Auch sein Tod konnte daran nichts ändern. Erst durch ihre eigene schwere Krankheit gelang ihr die Loslösung, als sie sich auf der Intensivstation damit konfrontiert sah, ihm (in den Tod) zu folgen oder ihn loszulassen und sich für ihr eigenes Leben zu entscheiden. Sie entdeckte, dass die Liebe zu ihm in ihrem Herzen bleiben darf, sie sich aber dennoch frei fühlen konnte, weiterzuleben, und in ihrem Herzen auch Platz für neue Männer war.
Eindrücklich schildert die Autorin die Verhältnisse in ihrer Herkunftsfamilie über zwei Generationen mit dem daraus resultierenden Frauenbild. Eindrücklich auch, wie sie sich daraus zu lösen vermochte und sich ein eigenes anderes Frauenbild zulegen konnte. Die Schilderung ihrer schweren Erkrankung, deren Erscheinen sie manchmal auch als Ausdruck einer Todessehnsucht bezeichnet, zeigt auch Aspekte unserer Gesundheitsversorgung, die zu denken geben. Mit erstaunlicher Gelassenheit erträgt die Patientin auch medizinische und pflegerische Fehler ohne Anklage, verbunden mit der Freude, dass sie letztlich genesen konnte und ein Leben fand, das sie als wunderbar und als Geschenk wahrnehmen konnte. Die Beschreibung ihres Nahtoderlebnisses mit der Begegnung ihres bereits verstorbenen früheren Mannes, der sie am Eingang des Reichs der Toten begrüsst und zu sich einlädt, ihr Kampf, dieser Einladung nicht zu folgen, sondern zurück ins Leben zu gehen und sich damit von ihm zu befreien, berührt.
Ein bewegender Roman einer Jung’schen Kollegin über ihren Weg der Individuation hin zu einem glückvollen und erfüllten Leben. Autobiografisch wird das Thema von «Stirb und Werde» abgehandelt. Die Erzählung beschreibt eine Fahrt in tiefe Nacht, durch stürmisches Meer, die letztlich in die Fülle des Lebens führt. «Stirb und Werde» ist ein generelles Thema, das die Publikation einer persönlichen «Reise» rechtfertigt. Manch Eigenes klingt beim Lesen an und lädt zum Nachdenken über das eigene Leben und die eigenen Beziehungsgestaltungen ein.
(Angesichts der stark unterschiedlichen Preise in Euro und Franken sei einmal mehr die Verwunderung über die Preisgestaltung im Schweizer Buchhandel ausgedrückt, ist der Schweizer Franken doch seit geraumer Zeit gar mehr wert als der Euro.)
Peter Schulthess