Volker Tschuschke (2023): Zerbricht die Demokratie am Egoismus? Missverstandene Freiheit und die Folgen

Königshausen & Neumann, 776 Seiten. ISBN: 978-3-8260-7943-6, 48.00 EUR, 66.90 CHF

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 9 (18) 2023 39–40

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2023-2-39

Volker Tschuschke ist bekannt als Psychotherapieforscher und Autor vieler wissenschaftlicher Publikationen. Diesmal präsentiert er ein Sachbuch. Er ist der Überzeugung, dass Psychotherapeuten sich mit ihrem Fachwissen auch in politische Themen einmischen und sich Gehör verschaffen sollen. Man merkt dem Buch an, dass sich beim Autor viel Frust angesammelt hat über viele Aspekte der gesellschaftlichen Entwicklung und wie die Politik steuert bzw. nicht steuert. Entsprechend kritisch und bissig fällt seine Kritik aus Sicht eines Wissenschaftlers und Psychoanalytikers aus. Die Grundthese spiegelt sich im Titel: Tschuschke sieht die Demokratie westlicher Prägung (und insb. die deutsche) in Gefahr, weil sie einem zu wenig reflektierten Freiheitsbegriff entspringt, der die Freiheit des Individuums auf Selbstverwirklichung dem Gemeinwohl voranstellt.

Das umfassende Buch gliedert sich in verschiedene Teile. Zuerst wird grundsätzlich über die Staatsform der Demokratie nachgedacht unter Bezugnahme auf geschichtliche und philosophische Konzeptionen. Tschuschke zieht in Zweifel, dass die Demokratie die beste Staatsform ist, weil ein grösserer Prozentsatz der Bevölkerung bildungs- und entwicklungsmässig gar nicht in der Lage sei, komplexe politische Entscheidungen zu wichtigen Themen zu fällen. Die Wahlabstinenz ist in allen westlichen Demokratien steigend, was eine Entfremdung zwischen Politik und Bevölkerung aufzeigt.

Am Beispiel Deutschlands erörtert er den Niedergang der Demokratie, zieht in Zweifel, ob es sich noch um einen Rechtsstaat handelt, und kritisiert die föderale Struktur, die rasche politische Entscheidungen in Krisensituationen verunmöglicht und den Staat so führungslos macht. Das Grundgesetz sei entstanden unter dem Druck der Alliierten sowie aufgrund eines Schuldproblems in der Vergangenheitsbewältigung und hätte deshalb die individuelle Freiheit derart überbetont, quasi als Gegenmittel zum Missbrauch staatlicher Gewalt. Es sei höchste Zeit, das Grundgesetz zu überdenken und neu zu verfassen. Auch die Rolle der Parteien sieht er kritisch: Sie würden im deutschen System selbst bestimmen, welche Personen gewählt werden können, das Volk habe gar nicht wirklich eine Wahl. Die Demokratie sei eine Repräsentanzdemokratie, wobei Berufspolitiker nicht das Gemeinwohl im Auge hätten, sondern die eigenen Interessen, die zudem von internationalen Wirtschaftskonzernen beeinflusst seien. Zudem wolle ja jeder wiedergewählt werden.

Demokratie und Freiheit gehören zusammen – doch welche und wessen Freiheit? Wie geht das zusammen? Wo sind die Grenzen der Freiheit? Der Autor reflektiert den Widerspruch zwischen der Sehnsucht nach Freiheit und der Sehnsucht nach Führung. Einen Hauptteil des Buchs widmet er sich der Beschreibung der deformierten westlichen Gesellschaft, die zunehmend Radikalisierungen befördert und Verschwörungstheoretikern Tür und Tor öffnet. Er zeigt dies an Beispielen auf: manipulierte Information durch Medien, im Internet, Bildungszerfall, Erscheinen von identitären Bewegungen und Betroffenheitskultur usw., wobei er sich immer wieder auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse und Beispiele aus verschiedenen Ländern bezieht. Der Politik hält Tschuschke ein völliges Versagen vor in all diesen Bereichen, insb. auch im Umgang mit der nicht zu leugnenden Klimakrise.

Demokratie würde reife Menschen voraussetzen, doch die gäbe es nicht allzu häufig, so der Autor. Deswegen seien die meisten manipulierbar, gesteuert und abhängig. Wer sich mit Anthropologie beschäftigt hätte, wisse, dass der Mensch nicht von Grund auf gut sei sowie vernünftig und rational handle, vielmehr sei der heute vorherrschende Egoismus evolutionsgeschichtlich bedingt. Der Mensch sei auch böse und destruktiv, zu allen Gräueltaten fähig, wie jüngste Beispiele zeigen würden. Dies würde in demokratischen Verfassungen zu wenig berücksichtigt. Zudem würde das Prinzip der Gleichheit vor dem Recht damit verwechselt, dass alle Menschen gleich seien, was jeglicher Erfahrung der Einzigartigkeit eines jeden widerspräche. Menschen würden in aller Regel eigene Vorteile über die Interessen der Gemeinschaft stellen und es gäbe dafür auch unterschiedlich Begabungen.

Es ist ein düsteres Bild, das Tschuschke von der westlichen Gesellschaft zeichnet: Individualisierung und Entsolidarisierung gingen einher mit einer Lustgesellschaft, die Egoismus, Hedonismus, Konsum und ausufernde Gier fördere. Doch in einem abschliessenden Kapitel sucht er nach Auswegen, um den Niedergang unserer Kultur und der westlichen Demokratie abzuwenden. Er empfiehlt zuallererst eine Verfassungsreform und Reform politischer Strukturen. Solidarität solle vor Egoismus kommen, soziale Sicherheit müsse wieder garantiert werden, mehr Gerechtigkeit, Börsenkontrolle, betriebliche Mitbestimmung, Rückbau unverantwortlicher Privatisierungen, Reparatur des Bildungssystems, Kontrolle des Internets und weitere Ziele. Wie dies am besten zu erreichen sei, kann er allerdings auch nicht sagen.

Die bissige Analyse unserer heutigen Gesellschaft hinterfragt vieles und regt zum eigenen Nachdenken an. Ja, Psychotherapeuten sollen sich auch um die Verhältnisse im Staat kümmern, sich dazu auch äussern und sich nicht lediglich auf das Heilen individuellen Leidens am Staat beschränken. Darin bin ich einig mit Volker Tschuschke.

Peter Schulthess