Zwischen Stuhl und Bank?

Nathalie Jung

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 10 (19) 2024 14–15

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2024-1-14

Einige Psychotherapeut:innen erleben die Abrechnungssituation seit dem Anordnungsmodell wohl (stets noch) nicht als ideal. Besser sei beim Delegationsmodell gewesen, dass man auch über die Zusatzversicherung abrechnen konnte. Heute sei es ein Entweder-oder. Psychotherapeut:innen müssten sich entscheiden, ob sie Zusatzversicherte und Selbstzahler:innen als Klientel oder über die Grundversicherung abrechnen wollen.

Kurative oder präventive Psychotherapie?

Damit kommt auch die Frage nach der Identität der Psychotherapie auf. Ist Psychotherapie nur noch kurativ? Die augenscheinliche Annahme, dass die Psychotherapie mit dem Anordnungsmodell ans medizinische Metamodell angebunden ist, könnte zu diesem Schluss führen. Psychotherapie wird nach dem medizinischen Metamodell als Wirkstoff verstanden, der in einem Krankheitsfall eine Veränderung herbeiführen kann. Im Anordnungsmodell scheint dies augenscheinlich auch so umgesetzt zu werden. Im Bedarfsfall ordnet das zuständige medizinische Personal die entsprechende Behandlung «Psychotherapie» an.

«Statt ein gesondertes Defizit vorauszusetzen, welches durch eine bestimmte Komponente geheilt wird, erklärt das Kontextuelle Metamodell, dass die spezifischen Bestandteile aller Therapien den Patienten veranlassen, etwas allgemein Heilsames zu tun» – Wampold, Imel und Flückiger (2018, S. 94)1 stellen sich mit diesem kontextuellen Modell dem medizinischen Metamodell entgegen. Und was ist aus der präventiven Psychotherapie geworden? Ist Persönlichkeitsentwicklung im Rahmen von Psychotherapie nicht mehr vorgesehen? Was ist, wenn man einfach einen sicheren Gesprächsraum zur Exploration von eigenen Themen möchte, ganz ohne Krankheitsdruck und Symptomatik? Geht das nur noch unter dem Deckmantel der psychologischen Beratung? Oder gehört das nicht auch immer noch zur Psychotherapie?

Tatsächlich ist es so, dass selbst bei der Abrechnung über die Grundversicherung erst ab der 30. Sitzung im Rahmen des Antrags zur Fortsetzung der psychologischen Psychotherapie eine klinische Diagnose verschriftlich werden muss. Obschon eine Diagnose in den ersten 3 Sitzungen in den eigenen Unterlagen erfasst werden soll und gewisse Versicherungen bereits ab der 15. Sitzung einen Bericht möchten. Weiter ist es so, dass es auch verschiedene Zusatzversicherungen gibt, die Psychotherapie decken. Selbstzahler:innen sind dabei ja jeweils immer als Klientel möglich für Psychotherapeut:innen. Augenscheinlich wird Psychotherapie verstärkt kurativ verstanden mit dem neuen Anordnungsmodell. Aber ganz so scharf sind die Abgrenzungen wohl doch nicht, wie nach der Implementierung des Anordnungsmodell zuerst befürchtet wurde.

Abrechnungsnummern

Durch die Neuerungen mit dem Anordnungsmodell hat sich vieles verändert. Und diese Veränderung fordern manche Psychotherapeut:innen heraus, denn eine wertekonforme Anpassung ans neue System ist nicht für alle augenscheinlich möglich. Obschon die Mehrheit der im PsyReg verzeichneten Psychotherapeut:innen mit kantonaler Berufsausübungsbewilligung eine eigene ZSR-Nummer beantragt haben, ist das nicht für alle der Fall. Schätzungsweise 17 % der Psychotherapeut:innen mit kantonaler Praxisbewilligung haben sich gegen eine eigene ZSR-Nummer entschieden oder haben diese zurückgegeben. Diese Zahlen basieren auf Schätzungen Stefan Kruckers (2023)2 anhand der Zahlen aus dem PsyReg und der Sasis.

Warum haben praktizierende Psychotherapeut:innen keine eigene ZSR-Nummer? Was können Gründe dafür sein? Nun es ist so, dass wenn ein:e Psychotherapeut:in eine eigene ZSR-Nummer hat, keine Abrechnung über die Zusatzversicherung möglich ist. Aber die Abrechnung über die Grundversicherung ist möglich, wenn man keine eigene ZSR-Nummer hat. Wie? Ziemlich einfach über eine juristische Person. Die Sasis sieht die Abgabe von sogenannten K-Nummern an Firmen in der rechtlichen Form einer GmbH oder AG (beides sind juristische Personen) vor. Theoretisch wäre es also für eine:n Psychotherapeut:in möglich, eine Einzelfirma zu haben und über diese die Zusatzversicherten Klienten abzurechnen und gleichzeitig bei einer juristischen Person angestellt zu sein und über deren K-Nummer abzurechnen (vgl. Informationen auf sasis.ch). Verständlicherweise ist das nicht augenscheinlich für viele Psychotherapeut:innen, die sich nicht auch noch für ein Studium der Rechtswissenschaften eingeschrieben hatten.

Um die Komplexität der Thematik zu den ZSR-Nummern noch abzurunden, gibt es seit Oktober 2023 nun auch ZSR-VVG-Nummern, die von einzelnen Versicherungen jetzt für die Abrechnung über die Zusatzversicherung gefordert werden. Es könnte in Zukunft denkbar sein, dass dieses Vorgehen auch von anderen Versicherungen übernommen wird, denn bezüglich Zusatzversicherungen ist noch keine Einheitlichkeit bei der Handhabung entstanden. Es gibt weiter auch noch Zusatzversicherungen, die interne Listen mit anerkannten Behandler:innen führen (z. B. CSS).

Übrigens: Zum IV-Vertrag dürfen Psychotherapeut:innen ebenfalls unabhängig von der ZSR-Nummer beitreten. Psychotherapien sind als medizinische Wiedereingliederungsmassnahme zu Lasten der Invalidenversicherung vorgesehen. Die Kriterien für die Behandler:innen sind (1) die eidgenössische Anerkennung als Psychotherapeut:in und (2) eine kantonale Praxisbewilligung.

Fazit

Auf den ersten Blick wurden Psychotherapeut:innen gezwungen, sich zu entscheiden, ob sie ihr Klientel über die Zusatz- oder die Grundversicherung abrechnen möchten. Faktisch gibt es jedoch rechtlichen Spielraum, sich die eigene Arbeitssituation konform den eigenen Werten und der Berufsidentität einzurichten (auch wenn es zu Beginn administrativ aufwendig sein kann).

Nathalie Jung ist Vizepräsidentin der ASP und Vorsitzende der Charta-Konferenz.

1 Wampold, B. E., Imel, Z. E. & Flückiger, C. (2018). Die Psychotherapie-Debatte. Was Psychotherapie wirksam macht. Hogrefe.

2 Krucker, S. (2023). Wie viele psychologische Psychotherapeut:innen im Anordnungmodell arbeiten. www.psychotext.ch/studien/anordnungsmodell