Interview mit ASP-Mitglied Nicole Thommen

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 10 (19) 2024 18–19

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2024-1-18

Was waren Ihre Beweggründe, den Beruf der Psychotherapeutin zu wählen?

Zunächst eine persönliche Krise, sodann ein aufrüttelnder Traum, was dazu führte, die öffentlichen Vorlesungen am C. G. Jung-Institut Küsnacht zu besuchen. Ausschlaggebend war schlussendlich die Vorlesung über Alchemie, die mich so begeisterte, dass ich mich entschied, dort zu studieren.

Welchen beruflichen Werdegang haben Sie?

Ich studierte zunächst Betriebswirtschaft an der Universität St. Gallen, jedoch nicht, weil ich das gern studieren wollte, viel lieber hätte ich Medizin studiert. Dies hätte jedoch bedeutet, weiterhin bei meinen Eltern zu wohnen, was ich mir nicht vorstellen konnte. In St. Gallen war ich unabhängig und führte mein eigenes Leben. Das betriebswirtschaftliche Studium gab mir die Möglichkeit, meine rationale Seite zu entwickeln. Als eher musisch begabte Person war dies für mich ein sehr wichtiger psychologischer Prozess. Schlussendlich auch für die Praxisführung!

Arbeiten Sie als selbstständige Psychotherapeutin in freier Praxis?

Ja, in selbständiger Praxis.

Üben Sie neben der Psychotherapie einen weiteren Beruf oder eine weitere Beschäftigung aus?

Ja, aufgrund meines betriebswirtschaftlichen Studiums habe ich seit ca. 15 Jahren die Möglichkeit, an einer Fachhochschule Module zu dozieren, in denen ich Psychologie mit betriebswirtschaftlicher Führung verbinden konnte. Führung und vor allem Selbst-Führung hat sehr viel mit Psychologie zu tun: Wie schön, dass ich da die innere Vereinigung meiner eigenen Gegensätze, das Betriebswirtschaftliche und die Psychologie, in Form einer Dozentin in einer betriebswirtschaftlichen Fachhochschule weitergeben kann! Auch nach 15-jähriger Tätigkeit begeistert mich diese Arbeit nach wie vor und ich kann – ähnlich wie in der Psychotherapie – die psychische Weiterentwicklung der Studierenden über drei Semester verfolgen. Daneben arbeite ich noch als Coachin/Unternehmensberaterin, was mir den Zugang zu einem Zielpublikum erlaubt, das der Psychologie insgesamt eher kritisch gegenübersteht, sowie als Meditationslehrerin.

Welche Spezialisierung haben Sie?

Die «Spezialisierung» erfolgte zunächst aufgrund der mir von Hausärzten zugewiesenen Patienten. Diese waren vor allem Menschen, die unter Ängsten, Phobien, Depressionen und leichten Zwängen litten. Seit Kurzem werde ich vermehrt mit Menschen aus dem Asperger- und Autismus-Spektrum konfrontiert, womit ich mich in Zukunft vermehrt auseinandersetzen möchte.

Sind Sie mit Ihrer beruflichen Situation zufrieden?

Jein! Ich finde, wir haben über viele Jahre – dank des vereinten Einsatzes aller psychologischen Verbände – einen grossen Fortschritt für den Berufszweig der PsychotherapeutInnen errungen, aber ehrlich gesagt stört es mich, dass ich als selbstständig arbeitende Psychotherapeutin – mit über 25 Jahren Erfahrung und einer exzellenten Zusammenarbeit mit HausärztInnen, PsychiaterInnen und NaturheilpraktikerInnen – nach 30 Stunden einen Bericht verfassen darf, der zudem noch von einem/r PsychiaterIn «abgesegnet» werden muss. Auch wenn ich die Zusammenarbeit mit «meiner» Psychiaterin ausserordentlich schätze! Wir würden auch ohne die Auflage des Anordnungsmodells zusammenarbeiten. Gerade zu Beginn einer Psychotherapie ist es oft hilfreich, die Sichtweise eines Psychiaters einzuholen. Vier Augen sehen mehr als nur zwei! Das Wichtigste ist aber der Austausch mit ihr. Es ist ein gegenseitiges Lernen und Sich-weiterentwickeln.

Wünschen Sie sich, dass etwas anders ist?

Ja. Eine Reduktion der administrativen Arbeit! Von allen Ämtern, Behörden, Ärzten und Institutionen, mit denen ich zusammenarbeite, wird (manchmal alle zwei Monate) ein Bericht verlangt, was enorm zeitaufwändig ist. Etwas mehr gesunder Menschenverstand und Vertrauen in den psychischen Prozess des Patienten würde hier nicht schaden.

Haben Sie einen Wunsch, den Sie an die ASP richten wollen?

Weiterhin solch gute Arbeit leisten wie bisher!

Fühlen Sie sich in Ihrem Berufsverband ASP vertreten und gewürdigt?

Ja! Aus der bisherigen Verfolgung des politischen Einsatzes der ASP zusammen mit den anderen psychologischen Verbänden kann ich dies nur bestätigen und möchte hiermit auch die Gelegenheit ergreifen, allen Beteiligten, die sich aktiv dafür engagiert haben, zu danken!

Was wäre Ihr Fokus, wenn Sie im Vorstand der ASP wären?

Als neues Mitglied kann ich diese Frage im Moment nur folgendermassen beantworten: Damit ich feststellen kann, welcher Fokus zukünftig sinnvoll ist, müsste ich zunächst eine Ist-Analyse der aktuellen Situation des Verbandes und der Verbände (Marktanalyse) machen. Dann eine SWOT-Analyse (Strength/Weakness/Opportunities) und Trendanalyse. Das tönt jetzt sehr betriebswirtschaftlich – was es auch ist –, aber ohne zu wissen, was in Zukunft gefragt oder gebraucht wird, kann ich mich nicht fokussieren. Da kommt mir die betriebswirtschaftliche Seite der Führung eines Unternehmens sehr zugute!

Gibt es ein Amt in der ASP, das Sie gern bekleiden würden?

Diese Frage kann ich Ihnen im Moment noch nicht beantworten. Ich muss den Verband – aufgrund der Teilnahme an den verschiedensten Aktivitäten, die er organisiert – zunächst noch besser kennenlernen.

Wie sähe Ihre Wunschsituation im gegebenen politischen Umfeld für PsychotherapeutInnen aus?

Keine zeitliche Begrenzung für die Behandlung von psychisch kranken Menschen, minimale Berichterstattung (bspw. zweimal pro Jahr) und vermehrter interdisziplinärer Austausch.

Welche Vision haben Sie für Ihren Berufsalltag?

Vermehrte interdisziplinäre Zusammenarbeit der unterschiedlichsten, auch nicht-psychologischen und «nicht-wissenschaftlichen» Fachbereiche, um daraus ganzheitliche Erkenntnisse für die Behandlung von psychisch kranken Menschen zu gewinnen! Wie oft sehe ich in Behandlungen, wie sich bspw. alchemistische Symbole im psychischen Prozess zeigen, die – wenn nicht gewusst und verstanden – übersehen werden und damit den Selbstheilungsprozess nicht unterstützen können. Ich wünsche mir daher eine «Versöhnung» von Spiritualität und Wissenschaft (Irratio-Ratio). Oder wie es Einstein formuliert haben soll: «Die Intuition ist ein göttliches Geschenk, der denkende Verstand ein treuer Diener. Es ist paradox, dass wir heutzutage angefangen haben, den Diener zu verehren und die göttliche Gabe zu entweihen.» Diesem Zitat entsprechend, versuche ich dies – als Psychotherapeutin – im Alltag umzusetzen.

Nicole Thommen, Dipl. Analyt. Psych., lic. oec. HSG, ist Psychotherapeutin in eigener Praxis in Zürich, Coachin, Dozentin, Meditationslehrerin und Unternehmensberaterin. Sie ist ASP-Mitglied seit 2024.

Das Interview wurde schriftlich geführt von Peter Schulthess.