Prügelknabe Psychotherapie und Gesundheitskosten

Marianne Roth

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 10 (19) 2024 24–25

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2024-1-24

Ausgangspunkt für diesen Beitrag sind Veröffentlichungen der NZZ vom 11. Juni 2023 («Psychotherapien: Kosten explodieren») sowie dem Mediencommuniqué von santésuisse vom 4. Februar 2024, nach denen für das ansteigende Kostenwachstum der Krankenkassenprämien Psychotherapie, Physiotherapie sowie Pflege die Kostentreiber sein sollen. Dies ist eine verkürzte Darstellung und lässt eine volkswirtschaftliche Gesamtsicht vermissen. Ausserdem lässt sie den gesundheitlichen Zustand der Schweizer Bevölkerung ausser Acht, die infolge der Coronapandemie erwiesenermassen Schaden genommen hat und von deren Folgen besonders die Jugend bis heute betroffen ist. Was die Kosten betrifft, teilte der Bundesrat in seinem Schlussbericht vom 21. Juni 2023 über die Auswirkungen der Pandemie mit, dass die direkten Gesundheitskosten in den Jahren 2020 bis 2022 den Bund 5 Milliarden Franken gekostet hätten die Kantone zwischen 2,3 und 2,9 Milliarden. Von alldem ist in den erwähnten Comuniqués von NZZ und santésuisse keine Rede.

Psychotherapie im Wandel

Mit dem Wechsel des Delegations- ins Anordnungsmodell fand eine Kostenverlagerung statt, deren Auswirkungen noch nicht endgültig absehbar sind. Delegiert arbeitende Psychotherapeut*innen waren bis zu diesem Wechsel Angestellte in einer Arztpraxis, was die Abrechnung einer Therapie für Ärztinnen und Ärzte über die Grundversicherung ermöglichte und diesen erlaubte, auch mehrere sog. Delegierte anzustellen. Mit der Aufhebung des Delegationsmodells entschieden sich daher viele bisher delegiert arbeitende Psychotherapeut*innen für die Selbstständigkeit.

Vor dem Modellwechsel selbstständig arbeitende Psychotherapeut*innen konnten ihre Therapien nur über eine Zusatzversicherung abrechnen oder von Selbstzahler*innen vergüten lassen. Die Zusatzversicherung bezahlt nur einen von der entsprechenden Krankenkasse festgelegten Prozentsatz einer Therapie. Die restlichen Kosten trägt die Patientin oder der Patient selbst. Dies hielt viele Personen, die eigentlich eine Psychotherapie benötigt hätten, von einem Praxisbesuch ab, da sie nicht über eine Zusatzversicherung verfügten resp. sich eine solche nicht leisten konnten.

Zusatzversicherungen können nach wie vor abgeschlossen werden. Entscheidet sich jedoch der oder die Selbstständige für die Abrechnung via Grundversicherung, ist der Zugang zur Zusatzversicherung aufgrund von Gesetzesbestimmungen (Art. 44 KVG Tarifschutz) nicht mehr möglich. Das bedeutet, dass die Patientin oder der Patient im Erstgespräch über diesen Sachverhalt informiert werden muss.

Die wahren Kostentreiber

In seinem Communiqué vom 4. Februar 2024 schreibt santésuisse, dass Medikamente rund ein Viertel der gesamten Kosten der Grundversicherung ausmachen. Diese würden mittlerweile rund 9,6 Milliarden Franken betragen und seien um knapp 0,5 Milliarden gestiegen. Allein Krebsmedikamente und Immunsuppressiva würden dabei je 1,3 Milliarden Franken ausmachen. Ein Kostenwachstum für Ärztinnen und Ärzte von 0,5 Milliarden Franken sei hier ebenfalls erwähnt, nicht zu schweigen von den Spitalkosten.

Stellt man die im selben Communiqué erwähnten Kosten für Psychotherapie im Jahr 2023 von 785 Millionen Franken daneben, ist es schlicht vermessen, Psychotherapie als Kostentreiber zu benennen, auch wenn das Kostenwachstum 2023 rund 220 Millionen Franken beträgt, was im Lichte des Modellwechsels betrachtet auch zu erwarten war. Der Bundesrat rechnet längerfristig mit Mehrkosten von 270 Millionen Franken. In seiner Mitteilung vom 8. Dezember 2023 («Förderung der Generika und Senkung der Arzneimittelpreise») schreibt das Bundesamt für Gesundheit, in der Schweiz seien Generika doppelt so hoch wie im Ausland. Zudem ist der Anteil an verschriebenen Generika, ebenfalls im Vergleich mit dem Ausland, besonders tief.

Es scheint indes kein Zufall zu sein, dass santésuisse im erwähnten Communiqué Psychotherapie, Physiotherapie und Pflege als Kostentreiber darstellt, was von einigen Medien unreflektiert übernommen wurde. Es sind nämlich auch diese Bereiche, bei denen die Versicherer hartnäckig versuchen, die Tarife zu drücken, und scheinbar bei der Aushandlung eines Tarifs für Psychotherapie auf Zermürbung der Verhandlungspartner setzen.

Der Mensch muss im Zentrum stehen

Fakt ist, dass das Anordnungsmodell besonders vulnerablen Personengruppen endlich den Zugang zu einer Therapie ermöglicht, mit dem Ergebnis, dass z. B. Chronifizierungen vermieden werden können. Auch wenn es bei den Gesundheitskosten um nackte Zahlen geht, darf der ethische und soziale Aspekt auf keinen Fall vernachlässigt werden, insbesondere, da die Krankenversicherer stets betonen, dass ihnen das Wohl der Patientinnen und Patienten am Herzen liege. Nicht zuletzt wollte der Bundesrat mit dem Modellwechsel einen Versorgungsengpass reduzieren und einen einfacheren und früheren Zugang zur Psychotherapie fördern.

Marianne Roth ist ehemalige Geschäftsleiterin der ASP.