Was PsychiaterInnen von PsychologInnen lernen können

Ursula Davatz

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 10 (20) 2024 17–18

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2024-2-17

Die psychiatrische Versorgung wird langsam vollständig von den Psychologinnen und Psychologen übernommen. Die medizinische Ausbildung bringt längst nicht mehr genügend Psychiater und Psychiaterinnen hervor. Das Fachgebiet Psychiatrie scheint seine Attraktivität innerhalb des Medizinstudiums verloren zu haben. Als systemisch ausgebildete Psychiaterin bin ich darüber nicht sonderlich unglücklich, im Gegenteil, vielleicht bietet das sogar eine Chance für die Psychiatrie – aber nur unter bestimmten Bedingungen, nämlich der Voraussetzung, dass Psychologinnen und Psychologen nicht einfach blind dem medizinischen Modell folgen bzw. dieses ohne zu hinterfragen kopieren: Das wäre ein grosser Nachteil für die psychiatrische Versorgung.

Das medizinische Modell

Die Ausbildung im Medizinstudium besteht an erster Stelle darin, Krankheitssymptome zu erkennen, aus der Checkliste der Symptome eine Diagnose zu erstellen und die entsprechenden Psychopharmaka auszuwählen, welche die Symptome bekämpfen. Bei einer Infektionskrankheit oder einem Diabetes, einem Herzversagen oder einer Nierenkrankheit ist dieses Handlungsschema absolut sinnvoll. Bei einem psychischen Leiden greift dieses medizinische Modell des Vorgehens jedoch viel zu kurz. So hilfreich Psychopharmaka in einer akuten psychischen Krise auch sein können, sie lösen die dahinterliegenden, tiefschürfenden Probleme nie.

Das Gehirn ist kein gewöhnliches Körperorgan und kann deshalb auch nicht wie die übrigen Körperorgane therapiert werden. Das Gehirn ist ein soziales Organ, das für die Anpassung des Individuums innerhalb seines sozialen Umfelds zuständig ist. In dieser Funktion pendelt es hin und her zwischen den Polen, sich innerhalb seines psychosozialen Kontextes durchzusetzen oder sich an die psychosozialen Bedingungen anzupassen. Über das medizinische Modell, d. h. die Therapie mit Psychopharmaka, wird an erster Stelle die Anpassung an die Anforderungen der Gesellschaft gefördert, die Durchsetzung für sich selbst steht wenig bis gar nicht im Fokus. Auch die Verhaltenstherapie ist an erster Stelle auf die verhaltensmässige Eingliederung in die bestehende Gesellschaft ausgerichtet. Die Förderung der individuellen, ganz persönlichen Entwicklung eines Menschen innerhalb seines bestehenden psychosozialen Kontextes ist nicht im Fokus der Therapie nach dem medizinischen Modell.

Psychologinnen und Psychologen haben den Vorteil, dass sie keine Psychopharmaka verschreiben können, da sie nicht im medizinischen Modell aufgewachsen bzw. ausgebildet sind. Diagnosen nach medizinischem Modell können sie heutzutage ausstellen, doch sie helfen für eine individuelle Entwicklungsförderung nicht weiter, denn sie sind noch immer im medizinischen Modell verhaftet. Was also ist der Vorteil der Psychologinnen und Psychologen? Was könnte ihre Rolle in der psychiatrischen Gesundheitsversorgung von heute sein? Sie könnten den psychisch leidenden Menschen in seinem psychosozialen Kontext, d. h. vor allem innerhalb seines Familiensystems, besser wahrnehmen und unterstützend begleiten.

Die systemische Therapie

Wollen sich Psychologinnen und Psychologen einen einflussreichen Platz schaffen in der psychiatrischen Gesundheitswelt, sollten sie das soziale Umfeld ihrer Patienten und Patientinnen in die Behandlung einbeziehen und sich nicht nach dem medizinischen Modell nur auf die Symptombekämpfung beschränken. Die individuelle Biografie, die sich im emotionalen Gedächtnis des limbischen Systems, dem Hypocampus, niederschlägt, spielt stets eine ausschlaggebende Rolle bei der Entwicklung von psychischen Krankheitsbildern laut unserer langjährigen systemtherapeutischen Erfahrung nach Murray Bowen. Um die seelischen Verletzungen, die einer Person im Laufe ihres Lebens widerfahren sind, verarbeiten zu können, braucht es menschliche Lebensbegleiter und nicht Symptombekämpfer. Psychologinnen und Psychologen könnten diese Rolle übernehmen. Die Krankheitssymptome innerhalb ihres sozialen Kontextes, in dem sie ursprünglich aufgetreten sind, zu interpretieren, ist aufschlussreich und hilft, Zusammenhänge zu verstehen. Es gibt verschiedene Schulen innerhalb der Systemtherapie und jede hat ihre Berechtigung sowie Vor- und Nachteile. In der Systemtherapie nach Murray Bowen wird stets ein Genogramm erstellt über drei Generationen. Dabei erkennt man schnell die Rolle und den Platz einer Person innerhalb ihres Familiensystems und kann entsprechend Schlüsse für das therapeutische Vorgehen daraus ziehen.

Was uns heutzutage aber besonders am Herzen liegen sollte in der psychischen Gesundheitsversorgung unseres Nachwuchses, unserer Kinder und Jugendlichen: Es erscheinen immer mehr Informationen in den Medien darüber, wie unglücklich, ja leidend unsere Jugend ist. Kinder und Jugendliche sollten niemals nur als isolierte Individuen behandelt werden, denn sie sind emotional noch stark von ihrem psychosozialen Umfeld abhängig, in dem sie sich befinden. Aus diesem Grund sollte bei ihrer Behandlung das soziale Umfeld, d. h. Eltern und professionelle ErzieherInnen wie LehrerInnen und KindergärtnerInnen, in den therapeutischen Prozess miteinbezogen werden. Sind die wichtigsten Personen darin angeleitet und unterstützt, etwas in ihrer Interaktion mit dem Kind oder Jugendlichen zu ändern, profitiert das vom System abhängige, schutzbedürftige Kind. Dies ist ein systemisches Gesetz, das für alle lebendigen Systeme, deren Mitglieder ja miteinander in Beziehung stehen, zutrifft.

Um die Versorgungsnot für Kinder und Jugendliche mit psychischen Leiden in der heutigen Situationslage zu verbessern, wäre eine frühe psychologische systemische Unterstützung des Erziehungsnetzes von grossem Vorteil. Es würde viele spätere Reparationskosten sparen, die für die Kinder eingesetzt werden müssen, wenn sie psychisch krank werden. In diesem Sinne kann ich Psychologinnen und Psychologen nur dazu auffordern, sich eine systemische Betrachtungsweise in der Behandlung von psychischen Krankheiten anzueignen und nicht nur das kranke Individuum und seine Symptome isoliert zu behandeln, sondern stets den psychosozialen Kontext einzubeziehen, direkt oder auch nur mental in Gedanken.

Virginia Satir war eine der ersten Systemtherapeuten, eine Sozialarbeiterin, die vor allem Networking betrieb. Ich habe sie sogar noch persönlich erlebt während meiner Zeit in den USA, da ich meine systemische Ausbildung als Postgraduate drei Jahre lang bei Murray Bowen absolviert habe. Neue Bewegungen in der Psychiatrie gehen ebenfalls wieder in die Richtung, dass Angehörige von psychiatrischen Patientinnen und Patienten vermehrt in die Behandlung einbezogen werden sollten. Dabei könnten Psychologinnen und Psychologen ebenfalls eine wichtige Rolle spielen als Personen im Gesundheitswesen, die nicht auf das medizinische Modell der Symptombekämpfung beschränkt sind, sondern die grösseren, ganzheitlichen Zusammenhänge erkennen.

Dr. med. Ursula Davatz ist Psychiaterin FMH, System- und Familientherapeutin, ADHS-Expertin und praktiziert in Zürich.
Kontakt: https://www.ganglion.ch