à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 10 (20) 2024 19–21
https://doi.org/10.30820/2504-5199-2024-2-19
Was waren Ihre Beweggründe, den Beruf des Psychotherapeuten zu wählen?
Als ich 1985 mit dem Psychologiestudium begann, wusste ich noch nicht, was ich nachher weiter tun würde. Ich war interessiert an Mensch und Tier – insbesondere daran, warum und wie Lebewesen denken, fühlen und sich verhalten. Ich wollte lernen, wie Menschen in Schwierigkeiten und Not unterstützt und begleitet werden können, um sich zu entfalten und zu entwickeln. Und ich interessierte mich früh für alles, was «anders» war, aus dem Rahmen fiel, randständig erschien oder mit Leiden für Individuen und Gruppen verbunden war. In meiner persönlichen Sichtweise funktioniert eine Gesellschaft als Ganzes nur, wenn sie mit Vielfalt und Andersartigkeit umzugehen versteht.
Ich erlaubte mir damals, offen und neugierig zu studieren und verschiedene psychologische, klinische, pädagogische und sonderpädagogische Themenbereiche zu vertiefen. Bereits an der Universität war dabei für mich immer von Bedeutung, was Forschung, Erkenntnis und Wissen für die praktische Arbeit bedeuten könnten.
Was ist Ihr beruflicher Hintergrund/Werdegang?
Ich studierte Psychologie, Pädagogik und Sonderpädagogik an der Universität Zürich. Im Hinblick auf praktische Qualifizierung unterbrach ich das Studium für ein Praktikum mit verhaltensauffälligen Kindern in einer Tagesklinik. Während des Studiums arbeitete ich in der Betreuung von Erwachsenen mit geistiger Beeinträchtigung. Nach dem universitären Abschluss sammelte ich Berufserfahrungen in den Bereichen Prävention, Elternbildung, Projektarbeit mit Vätern und Stationäre Suchtbehandlung, wo ich ein erstes Mal genuin psychotherapeutisch arbeitete.
2006 gründete ich meine eigene GmbH und begann damit, mich im Sinn von psychosozialer Begleitung als Coach und Familienbegleiter um Jugendliche und junge Erwachsene in Kindesschutz- und Jugendstrafrechtsmassnahmen zu kümmern. Berufsbegleitend erarbeitete ich mir über die Jahre einen CAS in Psychopathologie und absolvierte eine Ausbildung zum Körperpsychotherapeuten in der Schweizerischen Gesellschaft für Bioenergetische Analyse und Therapie, sodass ich über meine GmbH heute auch Psychotherapie in der Grundversicherung abrechnen kann.
Arbeiten Sie als selbstständiger Psychotherapeut in freier Praxis und/oder sind Sie (allenfalls zusätzlich) als delegierter Psychotherapeut tätig?
Ich arbeitete einige Jahre in einem kleinen Pensum als delegierter Psychotherapeut. Inzwischen bin ich selbstständiger Psychotherapeut in freier Praxis mit einem Teilzeitpensum.
Gibt es noch einen weiteren Beruf, eine weitere Beschäftigung, den/die Sie zusätzlich zur Psychotherapie ausüben?
Ich will mich gerade in der Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht in einem psychotherapeutischen Elfenbeinturm einrichten. Deshalb biete ich weiterhin psychosoziale Begleitung (Coaching) und sozialpädagogische Familienbegleitung für Jugendliche und junge Erwachsene sowie deren Familien an. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Settings im Kindesschutz und im Jugendstrafrecht besteht dabei in der aufsuchenden Arbeit und der Interdisziplinarität der Aufträge, die mich unmittelbar in den Alltag der Jugendlichen und ihrer Familien eintauchen und an deren Themen teilhaben lassen. Damit bin ich gefordert, meine Rolle und Aufträge immer wieder zu reflektieren und zu gestalten, was mich wachsam, selbstkritisch und bescheiden bleiben lässt.
Was ist Ihre Spezialisierung?
Ich arbeite mit Jugendlichen ab etwa 14 Jahren und jungen Erwachsenen bis etwa 25 Jahren. Zugute kommt mir eine grosse Bandbreite an beruflichen und persönlichen Erfahrungen, die es mir ermöglicht, integrativ zu arbeiten und Aufträge individuell zu interpretieren und zu begleiten.
Fühlen Sie sich mit Ihrer beruflichen Situation zufrieden?
Ich mache meine Arbeit jederzeit grundsätzlich gern. Es findet immer ein gemeinsames Stück Weg und Entwicklung statt, das bereichert und prägt. Allerdings habe ich den Eindruck, dass die zu leistenden Aufgaben anspruchsvoller werden. Einer zunehmenden Gruppe junger Menschen geht es nicht gut – fehlende Perspektiven, gesellschaftlicher Druck, hohe Ansprüche, Einfluss von Internet und Social Media, Beschleunigung gesellschaftlicher Entwicklungen und/oder geopolitische und ökologische Spannungen belasten einzelne Familien und deren Kinder stark. Dies wiederum macht die Ausganglage der psychotherapeutischen und sozialpädagogischen Arbeit komplexer. Und auch die Ansprüche an Psychotherapie nehmen stetig zu – sie hat schneller, effizienter und lösungsorientierter zu erfolgen. Es findet eine «Psychiatrisierung» der Psychotherapie statt, und gerade im Kinder- und Jugendbereich besteht die Gefahr der Pathologisierung mit hohem Druck auf Diagnosestellung. Darüber hinaus und dazu passend sind die administrativen Anforderungen und Auflagen in allen meinen Tätigkeitsfeldern in den vergangenen Jahren in Quantensprüngen gestiegen und werden zunehmend zur Belastung.
Gibt es etwas, das Sie sich anders wünschen?
Wir konstatieren eine Unterversorgung in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Begleitung von Kindern und Jugendlichen. Aktuell können wir uns vor Anfragen kaum retten. Es besteht aus meiner Sicht weiterhin dringender Handlungsbedarf, was personelle und finanzielle Ressourcen anbelangt.
Für Ärger sorgt bei mir die vermeintliche Qualitätskontrolle von Behörden, Kantonen, Gemeinden, Berufsverbänden oder Kassen, die mit organisatorischen und strukturellen Vorgaben suggerieren, sie würden die Qualität der geleisteten Arbeit sichern. Prozesse, Ergebnisse und Entfaltung in der Beziehungsarbeit finde ich aber als Qualitätsmarker weiterhin wesentlich wichtiger und es wird mein Ziel bleiben, junge Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung und in ihrem Alltag zu unterstützen und zielführend zu begleiten.
Gibt es etwas, das Sie sich von Ihrem Verband ASP wünschen?
Ich gehe davon aus, dass aktuell viel Zeit und Energie der ASP durch die Aushandlung von Tarifstrukturen mit den Behörden und Kassen gebunden wird. Dieser berufspolitische Einsatz für die Psychotherapie ist wichtig und zurzeit ressourcenbindend. Ich wünsche mir, dass die ASP die Verhandlungen durchhält und zu einem für uns praktizierende Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten brauchbaren Abschluss bringen kann. Aus Sicht der Praxis plädiere ich immer für möglichst einfache, gut nachvollziehbare und im Alltag umsetzbare Lösungen.
Fühlen Sie sich in Ihrem Berufsverband ASP vertreten und gewürdigt?
Die ASP vertritt genuin psychotherapeutische Anliegen und ist aus meiner Sicht als Berufsverband wichtig, wenn es darum geht, das Zusammenwirken und die Zusammenarbeit von Psychiatrie und Psychotherapie im Kontext der berufspolitischen, strukturellen, finanziellen und fachlichen Entwicklungen zu gestalten und zu prägen. Auch in unserem Berufsumfeld beschleunigen sich Entwicklungen markant und es muss bei allen durchaus nachvollziehbaren Prozessen darauf geachtet werden, wichtige und tragfähige Errungenschaften der Psychotherapie zu erhalten.
Was wäre Ihr Fokus, wenn Sie im Vorstand der ASP wären?
Zunächst müssen die Verhandlungen mit den Krankenkassen und Behörden über die Abrechnung von Psychotherapie zu einem Abschluss gebracht werden. Grundsätzlich geht es um die Gewichtung und Wertschätzung psychotherapeutischer Arbeit.
In der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wird es dann auch um eine Justierung der Abrechnungsitems gehen. Grundsätzlich muss berücksichtigt werden, dass in diesem Bereich die Arbeit mit dem Umfeld, insbesondere den primären Bezugspersonen, wichtig ist und mehr Abrechnungszeit braucht.
Darüber hinaus würde ich mich dafür einsetzen, die Vielfalt des Psychotherapiemarkts zu erhalten, weil nur dies den unterschiedlichen Bedürfnissen der einzelnen Menschen gerecht werden kann. Ich sehe die zunehmende Einschränkung der Möglichkeiten, als berufliche*r Quereinsteiger*in eine psychotherapeutische Ausbildung zu absolvieren, als Verlust für die praktischen Angebote.
Ferner brauchen Kleinbetriebe und Selbstständigerwerbende eine Lobby, die ihnen nur der Berufsverband zu geben vermag. Die Tendenz geht in Ausbildung und Praxis dahin, dass nur grosse Anbieter und Netzwerke administrative und strukturelle Auflagen zu erfüllen vermögen und kleinere Nischenanbieter «aufgefressen» werden.
Gibt es ein Amt in der ASP, das Sie gern bekleiden würden?
Ich bin zu 100 % ausgelastet und kann mir gar nicht überlegen, ein Amt in der ASP zu bekleiden.
Wie sähe Ihre Wunschsituation im gegebenen politischen Umfeld für Psychotherapeut*innen aus?
Vielfalt, Qualität, Kooperation und gegenseitige Wertschätzung! Ferner plädiere ich für interdisziplinäre Zusammenarbeit. Gesetzliche, administrative und strukturelle Vorgaben sind so gestaltet, dass die Psychotherapie sich weiterentwickeln und -entfalten kann.
Was ist Ihre Vision in Ihrem beruflichen Alltag?
Psychotherapie leistet einen anerkannten und wertgeschätzten Beitrag zu Lebensqualität, Autonomie und Gesundheit. Als Gesellschaft sind wir bereit, der sich immer mehr beschleunigenden Wachstumsideologie entgegenzutreten, mit Ressourcen sorgfältiger umzugehen und das wertzuschätzen, was wir haben.
Persönlich tue ich das, was ich kann, so gut, wie ich es kann. Und ich weiss auch, was ich nicht so gut kann. Deshalb bleibe ich offen für Neues und bin im konstruktiven Austausch mit meinem beruflichen Umfeld. Nur gemeinsam gelingt Lebensqualität.
Das Interview wurde schriftlich von Peter Schulthess durchgeführt.
Konrad Lieske, lic. phil., Psychologe, ist eidgenössisch anerkannter Psychotherapeut und arbeitet bei megaherz GmbH in Winterthur. Seine Tätigkeiten sind Jugendcoaching, Familienbegleitung und Psychotherapie. Er ist Mitglied in der ASP seit 2021.
Kontakt: https://www.megaherz.ch