Zwischen Hype und Realität
Samuel Siegfried
à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 10 (20) 2024 22–23
https://doi.org/10.30820/2504-5199-2024-2-22
Nach dem rasanten Aufstieg von ChatGPT, veröffentlicht im November 2022, ist Künstliche Intelligenz allgegenwärtig, aber keineswegs neu. Neu ist jedoch die generative KI, die Inhalte wie Texte und Bilder erzeugt, die den von Menschen erstellten Inhalten ähneln. KI wird durch Machine Learning bereits in vielen Alltagsanwendungen genutzt, oft unbemerkt: Sie schützt Kreditkarten vor Betrug, filtert Spam und erkennt Gesichter. Ben Evans, ein Technologie-Analyst, bringt die Diskussion auf den Punkt, wenn er sagt: «Wir sprechen von KI, wenn es nicht funktioniert; funktioniert es, nennen wir es einfach Software.» Diese Aussage verdeutlicht die paradoxe Wahrnehmung von Künstlicher Intelligenz in der Gesellschaft: Solange eine Technologie noch nicht ausgereift ist, wird sie als KI wahrgenommen, sobald sie verlässlich funktioniert, wird sie als gewöhnliche Software betrachtet.
Drei Elemente sind nötig, damit KI effektiv arbeitet: Rechenleistung, ein neuronales Netz und grosse Datenmengen. Diese hängen eng mit der Rechenleistung von Computern und dem Moore’s Law zusammen, das seit 60 Jahren exponentielles Wachstum von Computerleistung ermöglicht – ohne dieses Wachstum wären Technologien wie PCs, Smartphones oder Netflix undenkbar. Welche neuen Möglichkeiten KI bieten wird, ist ungewiss; sicher ist jedoch der exponentielle Fortschritt.
Künstliche Intelligenz spielt daher auch eine zunehmend wichtige Rolle in der Psychotherapie. In Grossbritannien zum Beispiel hilft das System Limbic Access bei der Erstdiagnose und vermittelt Therapieplätze, was bei 130.000 Betroffenen zu einer Steigerung der Selbsteinweisungen um 15 % führte. Darüber hinaus erzielt KI erste Erfolge im Erkennen von Emotionen, was in der Zukunft die Diagnostik unterstützen könnte. Studien, wie die der Universität Basel, zeigen, dass KI menschliche Fähigkeiten im Erkennen von Gesichtsausdrücken sogar übertreffen kann, indem sie Mikroexpressionen erfasst. Diese Fähigkeit könnte in der Psychotherapie genutzt werden, um unbewusste Emotionen der Patient:innen aufzudecken.
Ein weiteres Anwendungsfeld für KI sind Chatbots. Trotz ihrer über 60-jährigen Geschichte und der Tatsache, dass viele von ihnen inzwischen den Turing-Test bestehen – einen Test, der überprüft, ob sie von Menschen nicht mehr unterschieden werden können –, hat ihre rasante Weiterentwicklung zu erheblichen Unterschieden in ihren Funktionen und Einschränkungen geführt. Diese Unterschiede sind für Nutzer:innen nicht immer sofort ersichtlich.
Wysa ist der einzige als Medizinprodukt zertifizierte Chatbot. Er wurde von der FDA (U. S. Food and Drug Administration) zur Behandlung von Depressionen und Angstzuständen durch kognitive Verhaltenstherapie zugelassen und findet in verschiedenen Grossunternehmen Anwendung. Obwohl solche Tools in Europa (noch) keine medizinische Zulassung besitzen und Feingefühl gefragt ist, sieht Kinder- und Jugendtherapeutin Makia Matheis Potenzial in Chatbots: Sie könnten helfen, die Hemmschwelle für den Einstieg in ein professionelles Gespräch zu überwinden. Allerdings betont sie, dass Chatbots keine ernsthaften psychischen Störungen behandeln können.
Obwohl der empirische Beweis im Praxisalltag noch aussteht, deutet vieles darauf hin, dass KI-Tools in der Psychotherapie zunehmend an Bedeutung gewinnen könnten. Diese Tools könnten bspw. die Lücken zwischen den Therapiesitzungen füllen und Patient:innen im Alltag unterstützen. Ein Beispiel für diesen Blended-Care-Ansatz ist der Schweizer Anbieter YLAH. Digitale Interventionen und Gesundheitsmonitoring haben ihre Wirksamkeit bereits in zahlreichen Studien nachgewiesen.
PlaynVoice: KI für die therapeutische Dokumentation
Neben den umstrittenen Fortschritten in Diagnose und Therapie zeigt KI in der Dokumentation ihr Potenzial, vor allem bei Human-in-the-Loop-Aufgaben. Hier übernimmt die KI den Grossteil der Schreibarbeit, während der Mensch abschliessend überprüft und verfeinert. Bekannte Beispiele sind Notizsysteme wie der Microsoft Copilot oder der AI Companion von Zoom, die als Notiznehmer während Videocalls fungieren.
Zur Entlastung von Therapeut:innen bietet Playn Voice eine Software, die Patientengespräche transkribiert und daraus automatisch strukturierte Dokumente wie Verlaufseinträge und Berichte erstellt. Die benutzerfreundliche App läuft auf jedem internetfähigen Gerät, sodass Notizen bequem auf dem Smartphone erstellt und später auf dem Laptop abgerufen werden können. Inspiriert von ähnlichen Systemen aus den USA, wie Mentalyc, hat sich PlaynVoice auf die spezifischen Anforderungen in der Schweiz spezialisiert. Die Software unterstützt alle Landessprachen, einschliesslich Schweizerdeutsch, und erfüllt sämtliche nationalen gesetzlichen Vorgaben. Sämtliche Daten werden verschlüsselt, anonymisiert und in der Schweiz gespeichert.
Erste Tests zeigen, dass PlaynVoice Therapeut:innen und Psychiatern:innen hilft, wertvolle Zeit zu sparen – oft mehrere Stunden pro Woche. Diese Zeit kann für intensivere Patientenbetreuung oder zur besseren Work-Life-Balance genutzt werden. Testnutzer berichten zudem von hoher Akzeptanz der Patient:innen, die von der gesteigerten Aufmerksamkeit und der verbesserten Betreuung profitieren. So sagt Sibylle Wasserfallen, eine Psychotherapeutin aus Zürich: «Ich spare eine Stunde pro Tag, die ich in vertieftere Therapie- und Massnahmenplanungen investieren kann.»
Besonders in Bereichen, wo umfangreiche Dokumentationen nötig sind, etwa bei Erstgesprächen oder diagnostischen Abklärungen, findet das System grossen Anklang. Allerdings ist die KI noch nicht perfekt: Wer sehr knapp dokumentiert oder einen fixen Stil hat, wird (noch) keinen grossen Nutzen erkennen. PlaynVoice bietet Interessierten die Möglichkeit, das System unverbindlich zu testen.
In den kommenden Monaten plant PlaynVoice die Funktionalitäten weiter auszubauen, insbesondere im Berichtswesen (Anamnese, Eintritt, Austritt, Verlängerung, Versicherung), wo mehr als 20 Gespräche in einem Dokument zusammengefasst werden sollen.
Samuel Siegfried ist einer von drei Mitgründern von PlaynVoice. Davor hat er zehn Jahre lang Softwarefirmen mit aufgebaut, zuerst Frontify in St. Gallen, dann Pleo in Kopenhagen.