AD(H)S und Autismus

Ursula Davatz

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 10 (20) 2024 24–25

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2024-2-24

AD(H)S und Autismus sind heutzutage ein Hype in allen Medien, in fachlichen wie auch Laienmedien aller Art. Offensichtlich trifft dieses Erscheinungsbild die Vorstellung der Neurodiversität innerhalb unserer genetischen festgelegten Veranlagung, den Zeitgeist, die emotionalen Bedürfnisse von Laien wie auch von Fachpersonen. Doch um was handelt es sich überhaupt bei den Begriffen von AD(H)S und Autismus? Aus unserer Sicht und Erfahrung sind ADHS und ADS – wir nehmen die beiden Erscheinungsbilder nun auseinander – ein genetisch vererbter Neurotyp, der innerhalb von Familiensystemen über Generationen hinweg weitergegeben wird. ADHS ist der extravertierte Persönlichkeitstyp, der alle seine impulsiven, emotionalen Stürme noch in sein Umfeld hineinagiert, beim ADS-Persönlichkeitstyp hingegen geht die ganze Hyperaktivität nach innen in Form von hyperaktivem Nachdenken, Überlegen und innerlich Argumentieren. Fügt man die menschlichen Stressreflexe dazu, verwenden ADHS-Persönlichkeitstypen an erster Stelle den Kampfreflex und ADS-Persönlichkeitstypen den Fluchtreflex nach innen in eine Traum- und Fantasiewelt.

Analysieren wir nun den heutigen Zeitgeist in der Wirtschaft, der Forschung, der Unterhaltungsindustrie, ganz allgemein in der Kommunikation und in der Politik, so zählt an erster Stelle die Geschwindigkeit und die Sensation. Der heutige Zeitgeist favorisiert in diesem Sinne den extravertierten, aggressiv erfolgreichen ADHS-Persönlichkeitstyp im erwachsenen Leben. In der Schulzeit liebt man diese Knaben noch nicht, sie stellen das systemerhaltende Schulsystem allzu sehr infrage. Doch im erwachsenen Alter bewundert man sie.

Was passiert nun mit den ADS-Persönlichkeitstypen, die unter Stress eine Flucht nach innen antreten? Sie ziehen sich zurück, verweigern sich der Gesellschaft, dem sozialen Leben, gänzlich, versinken in ihrer eigenen inneren Welt. Handelt es sich um Intellektuelle, Wissenschaftler, Erfinderinnen oder Künstler, können sie aus ihrem reichen Innenleben Neues schöpfen, das die äussere Welt wieder zu begeistern mag. Aber nicht alle haben das Talent von Mozart, Einstein oder Elon Musk … sind also nicht in der Lage, Einmaliges zu kreieren aus ihrer inneren Welt. Sie werden überfahren von unserem «Helferwahn», einer psychiatrisch-psychologischen Gesundheitsversorgung mit Diagnosen, Spezialtherapien und Medikamenten. Eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) wird heute weit mehr diagnostiziert als noch vor kurzer Zeit – und die Frage stellt sich, warum? Hat unser hyperaktiver Lebensstil etwas damit zu tun, treiben wir sensible ADS-Persönlichkeiten vermehrt in die innere und schliesslich auch äussere Isolation?

Der Begriff Autismus wurde zuerst für Schizophreniepatienten gebraucht, die sich in die Wortlosigkeit zurückziehen. Später wurde er auf Kinder übertragen, die Mühe haben im Spracherwerb, also unter einer leichten neurologischen Diversität leiden, ihr Hirnteil, der für die Sprache zuständig ist. Heute wird der Begriff für sämtliche Menschen, ob Kind oder Erwachsene, verwendet, die ein etwas zurückgezogenes, kommunikationsverweigerndes Leben führen. Dabei stellt sich wieder die Frage: Was hat ihr soziales Umfeld damit zu tun? Und wie sollten wir als Professionelle im Gesundheitswesen innerhalb der psychiatrischen Gesundheitsversorgung darauf reagieren?

Wir Ärztinnen und Psychiater sind an erster Stelle Symptombekämpfer. Bei autistischen Patienten gibt es aber nichts zu bekämpfen, ausser Negativsymptome und Verweigerungshaltung. Solches Verhalten lässt sich allerdings nicht bekämpfen, es geht vielmehr um ein «therapeutisches Hervorholen» dieser Patienten und Patientinnen aus der inneren Isolation, und dies funktioniert nur mit Geduld und innerer Präsenz ohne äusserliche Aktivität. Es braucht ein «Dabeisein», ein «Mitsein» ohne etwas zu wollen, ganz ohne therapeutischen Ehrgeiz und irgendeine Zielgerichtetheit, die Druck auf autistische Patienten und Patientinnen ausübt und sie noch mehr in ihre innere Isolation verschwinden lässt. Können wir das? Sind wir imstande, uns von der geschäftigen äusseren Welt nicht auf Effizienz und Effektivität drängen zu lassen? Können wir es nicht, müssen wir es mit unseren Patienten und Patientinnen zusammen lernen. Es ist niemals zu spät.

Menschen, die eine autistische, eine ASS-Neurodiversität aufweisen, brauchen von therapeutischer Seite her eine sehr differenzierte Wahrnehmung. Sie nehmen Dinge, Geschehnisse, Interaktionen, Reize etc. zum Teil anders wahr, als wir es von unserem Alltag im Umgang mit Normotypen her gewohnt sind. Wir müssen unsere Wahrnehmung, unsere Beobachtungsgabe aus diesem Grund verfeinern, um diese Menschen verstehen zu lernen und mit ihnen besser umgehen zu können. Wir dürfen nicht gleich mit vorgefassten Krankheitskonzepten auf sie zugehen und sie zur Norm und zum Normverhalten umpolen wollen. Wir müssen sie in ihrem Anderssein zuerst validieren und akzeptieren, bevor wir ihnen behilflich sein können, sich in unsere Normgesellschaft etwas besser zu integrieren.

Ihre Andersartigkeit wird zwar immer bestehen bleiben, sie können mit unserer Hilfe jedoch lernen, etwas besser mit ihrer Andersartigkeit umzugehen, nach dem Spruch «Anders, aber nicht falsch» (so lautet ein Buchtitel von Maria Zimmermann). Worauf wir als Therapiepersonen unbedingt im Umgang mit Autismus und ADS achten müssen, ist, dass wir weder auf sie als Patientinnen und Patienten noch auf uns selbst Druck ansetzen dürfen, weil wir schnell zum Erfolg kommen möchten. Druck erzeugt nur Resistenz und einen weiteren Rückzug in die autistische Innenwelt mit totaler Kommunikationsverweigerung.

Es lässt sich hier zum Abschluss das Zitat aus Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry anfügen im Umgang mit den scheuen Füchslein: «Il faut aprivoiser!» Die eigene therapeutische Ungeduld muss gezähmt werden, um das Vertrauen des Gegenübers zu erlangen. Eine Vertrauensbeziehung herzustellen, ist alles.

Dr. med. Ursula Davatz ist Psychiaterin FMH, System- und Familientherapeutin, ADHS-Expertin. Sie praktiziert in Zürich.
Kontakt: https://www.ganglion.ch