Fischer, Jeanette (2023). «Was ich begehre ist bei mir mir».
Narziss und Narzissmus

Klostermann/Nexus. ISBN: 978-3-465-04629-5. 152 Seiten, 33.90 CHF, 23.80 EUR

à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung 10 (20) 2024 28–28

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2024-2-28

Die Zürcher Psychoanalytikern Jeannette Fischer publiziert mit dieser Schrift einen lesenswerten Beitrag zum Narzissmus in unserer Zeit. Dabei schliesst sie an Überlegungen in ihren früheren Publikationen an (in dieser Zeitschrift sind auch ihre Bücher Hass, Angst, Psychoanalytikerin trifft Marina Abramovic – Künstlerin trifft Jeannette Fischer besprochen worden). Die Autorin stützt sich auf die Erzählung der Geschichte von Narziss und Echo des antiken römischen Dichters Ovid. Sie bezieht sich aber auch auf die frühere Narziss-Erzählung des griechischen Dichters Parthenios von Nicaea.

Kennzeichnend für Narziss ist die Unerreichbarkeit eines Du, sodass er in sich selbst gefangen bleibt. Fischer sieht Narzissten als Menschen, die in einem Umfeld aufwuchsen, in dem eine Beziehung zwischen einem Ich und einem Du nicht möglich war, eine tragende Bindung nicht aufgebaut werden konnte. Was bleibt einem in sich selbst Gefangenen übrig, als sich selbst zu lieben? So kann aber auch kein Ich aufgebaut werden, denn das Ich entsteht am Du. Narzissten entwickelten die Gabe (als Überlebensstrategie), die Bedürfnisse anderer zu befriedigen (etwa der Mutter), um so eine Rolle zu erhalten, die ihnen Daseinsberechtigung und Bewunderung gab – das Schicksal eines Kindes, das nicht Ich sein darf, sondern die Rolle der Fürsorge gegenüber Eltern übernehmen muss, damit überfordert ist und scheitern muss. Im Kampf, jemand eigenes zu sein, meiden Narzissten jedes Du, und fliehen vor Bindungen, da diese den Tod des Ichs bedeuten aufgrund bisheriger Beziehungserfahrungen.

Das weibliche Pendant zu Narziss ist die Nymphe Echo. Sie ist in der überlieferten Erzählung ihrer Stimme beraubt und kann nur die letzten Worte des Narziss wiederholen. So ist auch sie eine Person ohne Ich, die sich nicht mit eigenen Bedürfnissen in eine Beziehung einbringen kann, sondern versucht, im Anderen aufzugehen und auf diese Weise ihm zu gefallen.

«Narzissten sind die modernen Bösewichte, egoistisch und ohne Empathie in zwischenmenschlichen Beziehungen, jedoch begehrt ausserhalb persönlicher Bindungen und bewundert als fähige politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Führungspersonen oder modische und künstlerische Trendsetter» (S. 10), schreibt Fischer. Ihr geht es nicht darum, im Trend der zunehmenden Narzissmus-Diagnosen mitzuschwimmen. Sie ist vielmehr daran interessiert, die Ursachen des Narzissmus zu verstehen und die Dynamik der narzisstischen Beziehungsdynamik zu erforschen. Hintergrund ist ihre reiche, 30-jährige Praxiserfahrung als Psychoanalytikerin. Sie sieht ihre Reflexionen denn auch als eine Theorie der Praxis. Sie sieht Narzissmus aber auch als Teil eines bzw. einer jeden von uns und empfiehlt, sich damit auseinanderzusetzen in der Frage der eigenen Beziehungsmuster.

Die Autorin sieht Narzissmus nicht bloss als pathologische Entwicklung einzelner Personen, sondern fragt auch nach gesellschaftlichen Ursachen. Wie kommt es, dass unsere Gesellschaft immer mehr narzisstische Menschen hervorbringt und diese auch braucht und bewundert? Sie sieht die zunehmende Entwicklung von Beziehungen, die auf Macht und Ohnmacht abzielen, die Formulierung eigener Bedürfnisse mit Schuld behaften, als Ursache so vieler Leidenszustände. Ein Gegenmodell wäre die Beziehungsform der Intersubjektivität, «die auf der Gleichwertigkeit der Menschen beruht, auf der Anerkennung der Differenz anderer Menschen, auf der Erkenntnis, dass andere Menschen immer ein Nicht-Ich sind» (S. 8). Das aber erfordert die psychische Präsenz eines Du. Die Entwicklung dahin, dass immer mehr Geräte Beziehungen ersetzen, stimmt dabei jedoch nicht gerade ermutigend, denn Geräte sind kein Du.

Ein spannend erzähltes Buch, das ich gern zur Vertiefung in die Thematik des Narzissmus zur Lektüre empfehle.

Peter Schulthess