Zur unhaltbaren Situation der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in der Schweiz

Stellungnahme zu Peter Schulthess’ Artikel: «Deutschland: Neues Psychotherapiegesetz vor Abschluss» (à jour! 1/2019)

Kurt Roth

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2019-2-19

Deutschland macht es uns vor: Endlich kommt eine vernünftige, gerechte und zukunftstaugliche Regelung der Psychotherapie, das Direktstudium wird möglich. Die Psychotherapie soll nicht mehr länger Anhängsel irgendeiner Wissenschaft (im Wesentlichen der Psychologie; der Medizin) sein, sondern wird eine eigenständige, wissenschaftliche Disziplin.

Im Gegensatz dazu sieht die Situation in der Schweiz desaströs aus. Die drei Berufsverbände FSP, ASP und SBAP haben grandios versagt. Zu lange haben die Verbände nur darüber gestritten, welche Wissenschaften der Psychotherapie zugrunde liegen und welches Studium den Zugang zum Weiterbildungstitel «Psychotherapeutin/Psychotherapeut» ermöglichen soll. Die Konsequenz dieses Versagens: Die Psychotherapie ist keine eigenständige Wissenschaft, die an den Hochschulen erforscht und gelehrt wird. Heute führt in der Schweiz nur ein Masterabschluss in Psychologie zur Weiterbildung als «psychologische» Psychotherapeutin (zu 80 Prozent sind es Frauen, die diesen Beruf ausüben). In meiner Funktion als Direktor einer Suchtfachklinik habe ich zahlreiche Psychologinnen in ihren ersten Schritten in den Beruf nach dem Studium begleiten dürfen. Nachdem sie mit rund 26 Jahren ihren Masterabschluss in Psychologie erreicht und als Berufswunsch Psychotherapeutin haben, können sie nicht loslegen und beruflich aktiv werden. Wie sagen die Psychologie-Professoren und -Professorinnen an den Universitäten: Ein Psychologiestudium ist halt nicht einfach eine Berufsausbildung, sondern eine wissenschaftliche Ausbildung.

Falls nun eine Psychologin nach ihrem Studium gerne Psychotherapeutin werden möchte, darf sie auf eigene Kosten den Weiterbildungstitel erwerben. Sie muss – zu oftmals prekären Bedingungen – ein oder zwei Jahre als Assistenzpsychologin in einer psychiatrischen Klinik arbeiten. Hier gibt es natürlich solche Kliniken und solche. Einige nutzen aber die Situation schamlos aus und bezahlen, da die Nachfrage nach diesen Stellen gross ist, wirklich schlechte Löhne. Des Weiteren muss sie an einem akkreditierten Ausbildungsinstitut die Weiterbildung zur Psychotherapeutin absolvieren. Die Kosten dafür belaufen sich – ohne den Erwerbsausfall zu berücksichtigen, da neben der Weiterbildung nicht zu 100 Prozent gearbeitet werden kann – auf 50 000 bis 60 000 Franken. Wenn man den Erwerbsausfall von 20 Stellenprozenten berücksichtigen würde, beliefen sich die Kosten bei einer Dauer der Weiterbildung über vier Jahren auf mindestens 100 000 Franken. Diese Kosten muss die Psychologin in aller Regel vollständig oder weitgehend aus der eigenen Tasche finanzieren. Zum Vergleich: Für die Anstellung von Assistenzärzten und -ärztinnen erhalten die Kliniken staatliche Beiträge. Die angehenden Fachärztinnen und -ärzte verfügen deshalb nach dem Masterstudium und Staatsexamen über gute Anstellungs- und Weiterbildungsbedingungen.

Mit rund 30 Jahren ist die Psychologin dann, wenn alles gut gegangen ist, endlich eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin. Aus diesem grossen finanziellen und zeitlichen Aufwand sollten dann doch wenigstens ein guter Lohn und gute Arbeitsbedingungen resultieren. Da sieht es aber auch nicht gerade rosig aus. Es ist wie bei allen helfenden – und heute immer noch mehrheitlich von Frauen ausgeübten – Berufen: Der grosse Idealismus, der hinter diesen Tätigkeiten oftmals steht, wird gesellschaftlich ausgenutzt und finanziell schlecht abgegolten. Auf Kosten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) darf die Psychotherapeutin zudem nur als Angestellte eines Arztes oder einer Ärztin sogenannt «delegiert arbeiten». Nun soll ja das Anordnungsprinzip kommen und das Delegationsprinzip ablösen. Eine kleine Verbesserung, wenn es denn kommt. Ich bin aber sehr gespannt auf die Entschädigung, die für 60 Minuten ärztlich angeordnete Psychotherapie vorgesehen ist. Zudem werden die administrativen Auflagen und Regulierungen die Arbeit auch nicht gerade erleichtern.

Die Psychotherapie-Berufsverbände in der Schweiz haben meines Erachtens grossen berufspolitischen Handlungsbedarf. Ziel muss es sein, die Psychotherapie als eigenständige, wissenschaftliche Disziplin an den Hochschulen zu etablieren und ein Direktstudium zu ermöglichen, das –nach einer klinischen Assistenzzeit – zur selbstständigen Berufsausübung und zur selbstständigen Abrechnung über die OKP (siehe Deutschland) ermächtigt. Die rein privatwirtschaftlich finanzierte und organisierte Aus-, respektive Weiterbildung zur Psychotherapeutin in der Schweiz ist ein Skandal und eine schamlose Ausnutzung der angehenden Psychotherapeutinnen durch den Gesetzgeber und die öffentliche Hand.

PS: Nur als kleiner Vergleich: Werden Sie Informatiker (zu 95 Prozent ein männlicher Beruf), respektive Informatikerin. Informatikerin kann man bereits nach einer dreijährigen Berufslehre sein, dann kann man sich via Fachhochschulen gezielt weiterbilden. Ein Informatiker rechnet heutzutage – nicht nur im Gesundheitswesen – zwischen 200 und 250 Franken pro Stunde ab. Dazu kommen zeitliche und kilometermässige Abrechnungen, falls er direkt vor Ort arbeiten muss. Zudem kann er bereits als junger Berufsmann gutes Geld verdienen.

Kurt Roth ist eidgenössisch anerkannter Psychotherapeut, Direktor der Klinik für Suchttherapie in Egliswil und Geschäftsleiter der Stiftung für Sozialtherapie (seit 1. August 2019 pensioniert). Er war von 2006–2013 Vorstandsmitglied der ASP.