Peter Schulthess
https://doi.org/10.30820/2504-5119-2020-1-10
Kein Ereignis hat unsere Gesellschaft jemals in epidemiologischer, sozialer und wirtschaftlicher Sicht so betroffen und auf den Kopf gestellt, wie die COVID-19-Pandemie, es sei denn, man vergleiche dies mit den beiden Weltkriegen.
Der Begriff des Krieges wird denn auch von vielen Politiker*innen verwendet: «Wir befinden uns im Krieg.» In vielen Ländern ist die Armee mobilisiert worden, um einerseits als Sanitätssoldat*innen in den Spitälern zu helfen, andererseits aber auch, um die Überwachung der Bevölkerung und deren Einhaltung der Beschneidung ihrer Persönlichkeitsrechte durchzusetzen. Gegner ist nicht eine andere Armee oder Nation, Gegner ist ein unsichtbarer biologischer Feind, ein kleines Virus, das eine Krankheit bewirken kann, an der manche sterben müssen, im Besonderen Angehörige der sogenannten Risikogruppen. Die Sterblichkeitsrate ist höher als bei einer Grippewelle, aber niedriger als etwa bei SARS oder Masern. Neu ist, dass die Pandemie keinerlei Gebietsgrenzen kennt, sondern sich wirklich weltweit verbreitet. Das Besondere: Auch unsere hochentwickelten Gesundheitswesen in verschiedenen Ländern sind darauf weitgehend unvorbereitet gewesen und haben zu wenig medizinisches Schutzmaterial, Intensivbetten und spezialisiertes Personal – und (noch) kein Medikament gegen dieses Virus (trotz einer Vorlaufzeit von mindestens zwei Monaten seit den ersten Meldungen aus Wuhan, um sich auf die Ausweitung der Pandemie einzustellen).
Belastungstest für unsere Gesellschaft
Die aktuelle Pandemie belastet die moderne Zivilgesellschaft in extremer Weise. Sie ist ein Stresstest für Wirtschaft, Gesellschaft, Bildungs- und Gesundheitswesen sowie grundsätzlich für die Demokratie und sie wird noch lange Folgen zeitigen, die erst allmählich erkannt werden können. Diese Langzeitfolgen dürften auch in der Psychotherapie noch für einige Zeit Themen zur Verarbeitung hervorbringen.
Noch nie sind die zivilen Rechte der Bevölkerung weltweit derart beschnitten worden: Schuleinstellungen, Ladenschliessungen (mit wenigen Ausnahmen, etwa für Lebensmittel und Medikamente), Versammlungsverbote, Veranstaltungsverbote für Sport- und Kultur, Ausgangssperren, Hausquarantänen, sogar ganze Quartiere, Dörfer oder Städte stehen unter Quarantäne, Besuchsverbote für Angehörige in Spitälern und Heimen, Homeoffice statt Arbeit im Betrieb. Social distancing ist zur neuen Pflicht geworden und ersetzt das social gathering. Vereinzelung und Isolierung wird als neuer Lebensstil gefordert, soziale Beziehungen sind möglichst nur noch virtuell zu pflegen oder im kleinen Familienkreis unter Quarantäne. Es ist mir nicht bekannt, dass den Krisenstäben, die solche Massnahmen beschliessen, auch Psycholog*innen bzw. Psychotherapeut*innen und Soziolog*innen angehören, es sind in der Regel reine Epidemiolog*innengruppen, die die Politik beraten. Sozialpsycholog*innen und Psychotherapeut*innen werden erst jetzt allmählich zu den Auswirkungen der rigorosen Massnahmen befragt – nachdem diese bereits in Kraft gesetzt sind.
Es ist schwierig zu diesem Thema jetzt Ende März (Redaktionsschuss) zu schreiben, wissend dass der Beitrag erst im Juni erscheint. Die hier aufgeworfenen Aspekte sind bis dahin wohl schon viel virulenter aufgetreten und prägen die therapeutische Arbeit. Dennoch will ich einige Themen herausarbeiten. Ich schreibe diesen Beitrag aus dem Quarantäne-Exil in den Philippinen, wo unser ganzes Dorf unter Quarantäne steht und alle zu Hause bleiben müssen. Dabei stütze ich mich auf Materialien und Informationen, die mir online zugänglich sind.
Vertrauensverlust in die Konstanz unseres Lebens
Dieses Ereignis erschüttert das Grundvertrauen in unsere Gesellschaft, in die Wirtschaft, das Gesundheitswesen, die Werteordnung und die Planbarkeit des Lebens. Wer sonst schon anfällig ist für solche Ängste, wird psychische Krisen erleben. Man ist mit einer enormen Ohnmacht konfrontiert, es gilt nur noch, den Massnahmen zu folgen und sich einzurichten in das, was als unausweichlich postuliert wird, um die Zahl der Erkrankungen einzudämmen. In seltener Weise hört die Politik auf die Wissenschaft (Epidemiologie), dabei ist sich die Wissenschaft gar nicht einig, wie der Herausforderung am besten entgegenzutreten sei. Die Lücke füllt die Politik in eigenem Ermessen, und dies mit aller Macht unter Berufung auf einen Ausnahmezustand. Ohnmacht erzeugt Wut, Verzweiflung, Angst, Trauer. Diese Prozesse laufen in üblichen Phasen ab: Erst die Verleugnung und Bagatellisierung, dann Panik und hektisches Handeln zur Abwehr der Gefahr, danach Einsicht und Akzeptanz, sich Fügen in das Unausweichliche.
Doch wo ist da ein Platz für die Verarbeitung unserer Gefühle? Das dürfte eine wichtige Aufgabe der Psychotherapie sein, Patient*innen so zu begleiten, dass auch der Ausdruck dieser Gefühle möglich ist. Es ist mit einem Anstieg von Angststörungen, Depressionen und Suiziden zu rechnen. Besonders daran ist, dass beide, Patient*innen wie Therapierende, den Bedrohungen in gleicher Weise ausgesetzt sind, und ähnliche emotionale Reaktionen zeigen können. Der Supervision wird hier eine grosse Bedeutung zukommen.
Folgen der sozialen Isolierung
Manche Patient*innen und gesellschaftliche Gruppen sind eh schon sozial isoliert. Statt mit ihnen darauf hinzuarbeiten, wie sie sozial integriert werden könnten, regiert nun die Angst vor sozialen Kontakten, da in ihnen das Ansteckungsrisiko droht, also der Feind, der mich das Leben kosten könnte. Sozialphobien werden verstärkt. Selbst die Psychotherapie, ob Gruppen- oder Einzeltherapie, wird zunehmend auf Fernbeziehungen im digitalen Raum verlagert. Manche sehen darin einen grossen Vorteil für die Zukunft der Online-Therapie, andere (Patient*innen wie Therapierende) erleben das aber als Verlust einer Qualität in der therapeutischen Beziehung, dass man eben vor Ort live vorhanden ist.
Kein Zweifel: Online-Therapie ist besser als gar keine Therapie. Die wenigsten von uns Psychotherapeut*innen sind jedoch darauf vorbereitet, was bei Online-Therapien zu beachten und wirklich anders ist als in Therapien mit persönlicher Anwesenheit. Das virtuelle Therapiesetting wird folglich oft überstürzt und ohne einschlägige Fortbildung eingeführt.
Online-Beziehungen sind besser als keine Beziehungen. Je länger die soziale Isolierung aber andauert, umso mehr sind Verkümmerungen von sozialen Fähigkeiten in direkten Begegnungen zu erwarten. Dieses Phänomen der Auswirkungen des Rückzugs ins virtuelle Leben war ja schon vor COVID-19 ein Thema. Nicht alle können der Isolierung Positives abgewinnen und sie teils auch als stressfreiere Zeit geniessen, teils sogar als eine Art «Ferien». Manche Menschen werden vereinsamen, andere verzweifeln, in Familien oder Paaren kann sich die Spannung so aufladen, dass häusliche Gewalt zunimmt, auch Alkoholismus. Internetsucht und exzessives Gamen werden viel zu beobachtende Antworten auf die obrigkeitlich verordnete Isolierung sein. Menschen sind soziale Wesen. Sie brauchen direkte Kontakte mit anderen, sie brauchen auch «Auslauf» in Städten und Natur. Nimmt man ihnen das auf längere Zeit weg, wird das psychische Folgen haben.
Ansteckungsangst und Misstrauen
Die Angst, angesteckt zu werden, und die Forderung nach social distancing kann zu nachhaltigen sozialen Veränderungen führen: Es besteht die Gefahr, dass sich Xenophobie, Feindseligkeit gegenüber Fremden aus anderen Kulturen, auch innerhalb der gleichen Kultur etabliert und manche Menschen schneller als bisher ausgegrenzt werden. Erschreckende Beispiele hierfür stellen etwa negative Reaktionen dar, die gesunde über 65-Jährige erhalten, wenn sie sich trotz des Aufrufs, möglichst zu Hause zu bleiben und sich von jemand Jüngerem die Besorgungen erledigen zu lassen, noch selbst auf den Strassen bewegen, sei es um einen Spaziergang an der Sonne zu machen oder tatsächlich die Einkäufe selbst zu besorgen (bzw. besorgen zu müssen). Wer an die Wirkung des social distancing und des regelmässigen Händewaschens glaubt, müsste darin keine Gefahr sehen, auch der Bundesrat nicht. Die Pauschalisierung, dass alle Alten gefährlich seien und hinter Mauern versorgt gehörten, gibt sie der sozialen Ächtung preis. Psychotherapeut*innen sollten hier gegensteuern.
Misstrauen spüren auch Personen, die an COVID-19 erkrankt waren und wieder geheilt wurden. Es gibt Berichte, wie diese von bisherigen Freunden und Bekannten gemieden wurden, nachdem sie, die Krankheit überstanden und nicht mehr als ansteckend geltend, endlich wieder in ihr normales Leben zurückkommen durften.
Besuchsverbote in Spitälern und Heimen
Es gibt zweifellos gute Gründe für Besuchsverbote in Spitälern und Heimen. Nur trifft es dort jene, die oft ohnehin alleingelassen und für die die Besuche von Angehörigen wichtig sind.
Es gibt schon heute Beispiele von Schwerkranken, die von ihren Angehörigen nicht besucht werden durften, auch auf dem Sterbebett nicht. Wie muss das für Angehörige sein, wenn ein Familienmitglied verunfallt, im Spital nicht besucht werden darf und dort verstirbt; oder wenn jemand an COVID-19 erkrankt ist und auch vor der Beatmung unter Narkose, aus der man vielleicht nie wieder erwacht, keine Gelegenheit erhält, mit den Nächsten noch einmal zu reden? In diesen Fällen sind Patient*innenrechte ausser Kraft gesetzt, die nachhaltige Folgen haben können.
Trauer
Viele Menschen werden erleben, wie Freunde, Bekannte oder Familienangehörige an den Folgen der Krankheit sterben. Andere erleben, wie sie den alten Zeiten nachtrauern und sich nur schwer davon lösen können, verloren zu haben, was man als sicher zu haben glaubte: Beziehungen, Arbeit, Hobby, Reiselust und anderes mehr. Auch wenn man sich da noch so tapfer ins Schicksal fügen mag: Es werden viele Abschieds- und Trauerprozesse zu begleiten sein. Manche werden das plötzliche Wegbrechen der Normalität und Konstanz als Schock und traumatische Erfahrung erleben.
Therapiebeziehung
Patient*innen können für Therapeut*innen ein Gesundheitsrisiko darstellen: Das verändert die Therapiebeziehung. Man muss sich jetzt vor den Patient*innen schützen, auf social distancing achten und sie bitten, zu Hause zu bleiben, wenn sie Erkältungs- oder andere Symptome haben, zum Gesundheitsschutz der Therapierenden. Das kann jedoch zu Brüchen in der therapeutischen Beziehung führen.
Umgekehrt können auch Therapeut*innen ein – tödliches – Gesundheitsrisiko für ihre Patient*innen darstellen. Auch das beeinflusst die Qualität der therapeutischen Beziehung. Patient*in und Therapeut*in haben aus guten Gründen beide voreinander Angst. Das ist ein neuer Aspekt in der Dynamik der therapeutischen Beziehung und sollte einerseits supervidiert und andererseits mit den Patient*innen in geeigneter Weise angesprochen werden. Verhaltensempfehlungen für Therapierende wurden mittlerweile von Berufsverbänden publiziert.
Chancen
Was doch auch gesagt werden soll: In Krisenzeiten sind Menschen auch in der Lage, kreative Antworten auf Probleme zu finden. Solche Ressourcen im Individuellen, aber auch im Gesellschaftlichen zu suchen und zu nutzen, könnte eine schöne Aufgabe in der Psychotherapie sein.
So ist es beeindruckend, wie in Kürze eine Solidaritätsbewegung entstand, um jenen zu helfen, die nicht mehr selbst einkaufen können; wie Menschen in Hausquarantäne auf die Balkone treten und Ärzt*innen und Pflegepersonal für ihre aufopferungsvolle und riskante Arbeit applaudieren. Dieser Prozess kann als Ausdruck von Dankbarkeit und Ermutigung, aber auch als Heroisierung eines Berufsstandes angesehen werden, befördert durch die Gefühle der absoluten Ohnmacht in der Hausquarantäne. Hoffen wir, dass das nachhaltig wirkt und Arbeits- und Ruhezeit-Verordnungen für medizinisches Personal wieder eingehalten sowie Löhne in den Pflegeberufen endlich angemessen erhöht werden.
Beeindruckend sind auch die kreativen Wege zur Selbstunterstützung und Aufmunterung anderer durch gemeinsames Singen und spontane Jamsessions von Balkon zu Balkon und über Hausdächer hinweg, wie das in Italien seinen Anfang nahm. Musikalischer und kreativer Ausdruck durch Malen und Schreiben sind wertvolle Ressourcen, die in psychotherapeutischer Begleitung (auch online) gefördert werden können.
Stresstest auch für die Psychotherapeut*innen
Die geschilderten, keineswegs vollständigen Aspekte zur Psychotherapie in Zeiten der COVID-19-Pandemie zeigen, wie vielfältig sich die Herausforderungen auch für uns Psychotherapeut*innen gestalten. Hoffen wir, dass die dramatischen und einschneidenden Massnahmen nur von kurzer Dauer sein werden, um die Folgen in Grenzen halten zu können. Allerdings streuen die variierenden Voraussagen zwischen einem Monat und sechs Monaten auch Zweifel und sähen Sorge. Eine Kollegin aus Wuhan schrieb mir kürzlich, dass sie seit Mitte Januar unter Hausquarantäne stehe und nur noch Online-Therapien und Beratungen machen dürfe – bei steigender Zahl der Ratsuchenden. Ihre Praxis liegt gerade einmal 200 Meter von ihrem Haus entfernt. Sie geht davon aus, dass das noch längere Zeit so andauern wird.
Erfahrungsaustausch
Unter der Rubrik Debatte stellen wir in den nächsten Ausgaben gern Raum zur Verfügung für Erfahrungsberichte und Praxisreflexionen.
Peter Schulthess ist Vorstandsmitglied der ASP und führte von 1976 bis 2017 eine psychotherapeutische Praxis in Zürich.