Rechtliche und ethische Pflichten der Berufsausübung

Eine Handreichung für Psychotherapeut*innen1

Felix Tobler

https://doi.org/10.30820/2504-5119-2020-1-21

Einleitung1

Der verantwortungsvolle Psychotherapieberuf wird von hoch qualifizierten Fachpersonen typischerweise persönlich, in fachlicher Eigenverantwortung ausgeübt. Er gehört damit zu den freien Berufen. Wie bei anderen freien Berufen auch, ist die Berufsausübung auf Bundes- und kantonaler Ebene reglementiert. Die rechtliche Reglementierung wird durch berufsethische Richtlinien (Standesordnungen) der Berufsverbände konkretisiert und ergänzt. Im Ergebnis wird die psychotherapeutische Berufstätigkeit von einem Komplex von Normen unterschiedlicher Herkunft, Tragweite und Verbindlichkeit geregelt und bestimmt. Die nachfolgenden Ausführungen vermitteln im ersten Teil einen Überblick über die wichtigsten gesetzlichen und berufsethischen Grundlagen. Im zweiten Teil werden die daraus abgeleiteten Berufspflichten beschrieben oder immerhin in Erinnerung gerufen.

1. Teil: Rechtliche und berufsethische Grundlagen

1 Verwaltungsrechtliche (gesundheits- rechtliche) Bestimmungen

A Bundesgesetz über die Psychologieberufe (Psychologieberufegesetz, PsyG)

Das Psychologieberufegesetz regelt die Berufspflichten der eigenverantwortlich tätigen Psychotherapeut*innen einheitlich auf Bundesebene. In Art. 27 Bst. a–f PsyG werden die Berufspflichten aufgezählt: Sorgfaltspflicht; Fortbildungspflicht; Pflicht zur Wahrung der Rechte der Patient*innen; Verbot irreführender und/oder aufdringlicher Werbung; Wahrung des Berufsgeheimnisses; Pflicht, eine Berufshaftpflichtversicherung abzuschliessen. Da die Berufspflichten sehr allgemein, als Generalklauseln, umschrieben werden, bedürfen sie der Konkretisierung und Auslegung durch (weitere) Gesetzesnormen, berufsethische Richtlinien, Rechtsprechung und (juristische und psychotherapeutische) Lehre.

Zu beachten ist, dass seit dem 1. Februar 2020 alle Psychotherapeut*innen, die ihren Beruf in eigener fachlicher Verantwortung ausüben, den Berufspflichten von Art. 27 PsyG unterstehen. Dies unabhängig davon, ob sie privatwirtschaftlich tätig sind oder ihren Beruf als Arbeitnehmende eines öffentlichen oder privaten Unternehmens ausüben. (Zuvor galten die Berufspflichten nur für privatwirtschaftlich tätige Psychotherapeut*innen.)

B Kantonale Gesundheitsgesetze und Verordnungen

Auch die kantonalen Gesundheitsgesetze und Verordnungen enthalten Bestimmungen über die Berufsausübung und -pflichten. Sie sind typischerweise enger formuliert als Art. 27 PsyG und stellen damit eine wichtige Konkretisierung und Auslegungshilfe dar. So enthält – als Beispiel – das Gesundheitsgesetz des Kantons Zürich nebst einer Generalklausel für die sorgfältige und unabhängige Berufsausübung relativ detaillierte, konkrete Bestimmungen betreffend Patient*innendokumentation, Praxisinfrastruktur und Schweigepflicht (§§12–16 GesG ZH).

2 Strafrechtliche Bestimmungen (Strafgesetzbuch, StGB)

A Ausnützung der Notlage (Art. 193 StGB)

Wer unter Ausnützung einer bestehenden Abhängigkeit «eine Person veranlasst, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden», erfüllt den Straftatbestand Ausnützung der Notlage (Art. 193 Abs. 1 StGB). Bei sexuellen Handlungen im Verlauf einer Psychotherapie hat das Bundesgericht das Vorliegen einer tatbestandsmässigen Abhängigkeit wiederholt bejaht, da für die Beziehung zwischen Psychotherapeut*in und Patient*in ein erhebliches Machtgefälle und ein ausgeprägtes Abhängigkeitsverhältnis charakteristisch seien. Die Ausnützung der Notlage ist ein Offizialdelikt, das heisst, die Straftat wird von Amtes wegen verfolgt. Die Strafandrohung ist Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.

B Verletzung des Berufsgeheimnisses (Art. 321 StGB)

Die Angehörigen bestimmter Berufsgruppen, unter ihnen auch Psycholog*innen und ihre Hilfs­personen, die «ein Geheimnis offenbaren, das ihnen infolge ihres Berufes anvertraut worden ist oder das sie in dessen Ausübung wahrgenommen haben», erfüllen den Tatbestand der Verletzung des Berufsgeheimnisses (Art. 321 StGB), sofern kein Rechtfertigungsgrund vorliegt. Rechtfertigungsgründe sind insbesondere die Einwilligung der berechtigten Person, die Entbindung durch die zuständige Behörde oder die Erfüllung einer gesetzlichen Meldepflicht. Die Straftat wird nicht von Amtes wegen, sondern nur auf Antrag verfolgt (Antragsdelikt). Die Strafandrohung ist Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.

Ergänzend erklärt auch das Datenschutzgesetz (DSG) die Verletzung der beruflichen Schweigepflicht für strafbar. Nach Art. 35 DSG wird bestraft, wer «vorsätzlich geheime, schützenswerte Personendaten oder Persönlichkeitsprofile bekannt gibt, von denen er bei der Ausübung seines Berufs, der die Kenntnis solcher Daten erfordert, erfahren hat».

3 Privatrechtliche Bestimmungen

A Schweizerisches Zivilgesetzbuch (ZGB), Recht der Persönlichkeit

Das Zivilgesetzbuch regelt das Recht der Persönlichkeit. Für die psychotherapeutische Berufsausübung relevant ist insbesondere der Schutz der Persönlichkeit gegen Verletzungen in Art. 28 ZGB. Denn grundsätzlich stellt jede psychotherapeutische Behandlung ohne (informierte) Einwilligung des/der Patient*in einen widerrechtlichen Eingriff in die umfassend geschützte Persönlichkeit dar. Der gesetzliche Persönlichkeitsschutz umfasst den Schutz der physischen, der affektiven und der sozialen Persönlichkeit. Die aus dem Kernsatz des Persönlichkeitsschutzes abgeleiteten, konkreten Rechts- und Verhaltensregeln werden im Abschnitt Patient*innenschutz (Teil 2, Ziffer 2) dargestellt.

B Schweizerisches Obligationenrecht (OR), Auftragsrecht

Der Therapievertrag zwischen Psychotherapeut*in und Patient*in ist rechtlich ein Auftrag, der im Obligationenrecht (Art. 394ff. OR) geregelt ist. Auch andere freie Berufe (wie z. B. der Arzt-, Anwalts- oder Architektenberuf) unterstehen dem Auftragsrecht. Die Hauptleistungspflicht des/der Beauftragten richtet sich nach dem jeweiligen Vertrag, der formfrei zustande kommt. Hauptleistung des Psychotherapieauftrags ist die Feststellung psychischer und psychosomatischer Krankheiten und Störungen und ihre Behandlung mit psychotherapeutischen Methoden.2 Mit der individuell vereinbarten Hauptleistungspflicht sind von Gesetzes wegen Nebenpflichten verbunden, namentlich eine umfassende Treue- und Sorgfaltspflicht (Art. 398 Abs. 2 OR). Die Treuepflicht bedeutet, dass die beauftragte Person alles zu unternehmen hat, was zur Erfüllung der Hauptleistungspflicht notwendig ist, und alles unterlässt, was der auftragsgebenden Person schaden könnte. Die Sorgfaltspflicht konkretisiert die richtige – nämlich sorgfältige – Erfüllung der Hauptleistungspflicht und ihrer Nebenpflichten und setzt damit den Qualitätsmassstab, nach dem die Pflichten im Auftragsrecht zu erfüllen sind.

4 Berufsethische Bestimmungen der Berufsverbände (Standesordnungen)

Standesordnungen sind Erlasse von Berufsverbänden, die rechtliche und berufsethische Verhaltensvorschriften für ihre Mitglieder beinhalten. Da Berufsverbände in der Regel Vereine sind (was auch für ASP, FSP und SBAP zutrifft), sind ihre Standesordnungen grundsätzlich nur für die Mitgliedes des jeweiligen Berufsverbands direkt anwendbar. Doch indirekt kann eine Standesordnung als Verhaltenskodex für den ganzen Berufsstand Bedeutung erlangen.

Standesordnungen sind auf die Bedürfnisse des jeweiligen Berufsstandes ausgerichtet. Sie dürfen über die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehen (und tun dies regelmässig), indem sie allgemein gehaltene Gesetzesnormen durch berufsspezifische rechtliche und ethische Regelungen konkretisieren und ergänzen. Hingegen dürfen sie die gesetzlichen Regeln nicht unterschreiten; letztere haben in jedem Fall Vorrang.3 Da Verstösse gegen die Standesordnung von den Ethikkommissionen der Verbände sanktioniert werden (durch Verweis, Busse, Verbandsausschluss, Auflage der Verfahrenskosten u. ä.), sind die Standesregeln für die Mitglieder des erlassenden Berufsverbands von erheblicher Bedeutung und Verbindlichkeit, obwohl sie, wie erwähnt, «nur» Vereinsrecht sind.

Die Standesordnungen aller drei Psy-Verbände der Schweiz enthalten mehr oder weniger ausführliche Umschreibungen der rechtlichen und ethischen Pflichten der Berufsausübung. Bei Unsicherheit in einer konkreten Situation ist die Standesordnung des eigenen Verbands gewiss zu konsultieren, ersetzt aber die Abklärung der Rechtslage nicht!

2. Teil: Einzelne Berufspflichten

1 Sorgfaltspflicht

Gemäss Art. 27 Bst. a PsyG haben Psychotherapeut*innen «ihren Beruf sorgfältig und gewissenhaft» auszuüben, wobei die beiden Begriffe synonym verwendet werden. Die Sorgfaltspflicht findet sich weiter in den kantonalen Gesundheitsgesetzen, im Auftragsrecht des OR sowie, wörtlich oder sinngemäss, in den Standesordnungen aller drei Psy-Verbände. Die Sorgfaltspflicht ist daher zugleich eine öffentlich-rechtliche Berufspflicht, eine Vertragspflicht und eine berufsethische (Vereins-)Pflicht. Für die Auslegung der Generalklauseln im PsyG und GesG können Lehre und Rechtsprechung zum Sorgfaltsbegriff im Auftragsrecht sowie die konkretisierenden Bestimmungen in den Berufsordnungen der Psy-Verbände herangezogen werden.

Die Sorgfaltspflicht ist keine eigenständige Pflicht, denn eine Sorgfaltspflicht an sich gibt es nicht. Doch ist sie mit der Hauptleistungspflicht und den Nebenpflichten der psychotherapeutischen Behandlung untrennbar verbunden, indem sie als Qualitätsmassstab für die Berufsausübung dient. Dabei bemisst sich die von Psychotherapeut*innen anzuwendende Sorgfalt nicht nach subjektiven Kriterien (wie der individuellen Berufserfahrung, Fachkenntnis oder persönlichen Verfassung), sondern wird objektiviert: Aufzuwenden ist die professionelle Sorgfalt, die eine gewissenhafte und ausreichend sachkundige Fachperson unter Berücksichtigung des konkreten Auftrags und der gegebenen Umstände aufzuwenden pflegt. (Dies schliesst bspw. aus, dass sich der/die Beauftragte bei einer mangelhaften Behandlung auf Arbeitsüberlastung oder Zeitnot berufen kann.)

Aus der objektivierten allgemeinen Sorgfaltspflicht lassen sich weitere, konkrete Sorgfaltspflichten ableiten, die hier lediglich aufgezählt werden:

  1. die Pflicht zur Ablehnung von Fällen, die die eigene Fachkompetenz übersteigen
  2. die Pflicht zur kontinuierlichen Fortbildung
  3. die Pflicht zur persönlichen und unmittelbaren Berufsausübung
  4. die Pflicht zum Beizug einer Ärztin oder eines Arztes in besonderen Situationen
  5. die Pflicht zur Notfallbetreuung

2 Patient*innenschutz

Der Patient*innenschutz ist ein Teilbereich des von der Rechtsordnung gewährten allgemeinen Persönlichkeitsschutzes aller Menschen gegenüber Dritten und dem Staat. Grundlegende Norm des privatrechtlichen Schutzes ist, wie zuvor ausgeführt, Art. 28 ZGB, während der öffentlich-rechtliche Schutz auf den Grundrechten der Menschenwürde und der persönlichen Freiheit beruht. Indirekt dienen auch die Strafbestimmungen im StGB und in anderen Gesetzen dem Schutz der Persönlichkeit. Indirekt deshalb, weil beim Strafrecht nicht der Schutz des verletzten Individuums, sondern die generalpräventive (Abschreckungs-)Wirkung das eigentliche Regelungsziel darstellt.

Patient*innen, die Psychotherapeut*innen auf­suchen, sind aufgrund ihrer psychischen Erkrankung und Beeinträchtigung besonders schutzbedürftig. Die Behandlung mit psychotherapeutischen Methoden lässt in der Regel ein intensives Vertrauensverhältnis entstehen, das zu einem Abhängigkeitsverhältnis führen kann. Durch das Zusammentreffen von erhöhter Schutzbedürftigkeit und Abhängigkeit besteht die latente Gefahr, dass Patient*innen durch fehlerhaftes oder missbräuchliches Verhalten der Therapeut*innen zu Schaden kommen können.

Im Bewusstsein der Gefährdung haben Gesetzgeber, Rechtsprechung, Berufsverbände und Lehre aus dem Persönlichkeitsschutz konkrete Berufspflichten entwickelt, die dem Schutz der Patient*innen dienen. Ihre Verletzung kann zur Leistung von Schadenersatz und Genugtuung (an die verletzte Person), zu disziplinarischen Massnahmen durch Gesundheitsbehörden, standesrechtlichen Sanktionen und (sofern ein Straftatbestand erfüllt ist) strafrechtlicher Verurteilung führen. Dabei handelt es sich hauptsächlich um folgende Berufspflichten:

  1. die (fundamentale) Pflicht, Patient*innen nicht zu schädigen
  2. die Pflicht, die Rechte und Interessen der Patient*innen zu wahren
  3. die Pflicht, Patient*innen transparent und ausführlich aufzuklären (über die diagnostizierte psychische Störung, indizierte Behandlung, Therapiedauer, Kosten und Zahlungsmodalitäten) und ihre Einwilligung zur Therapie einzuholen
  4. die Pflicht, die Selbstbestimmung der Patient*innen zu achten und jede Form des Aufdrängens, der Druckausübung und der ideologischen/religiösen Beeinflussung zu unterlassen; insbesondere
  5. die Pflicht, jeden Missbrauch der Therapiebeziehung zu vermeiden, namentlich jede sexuell motivierte oder ausbeuterische Handlung; dies selbst dann, wenn Patient*innen einwilligen
  6. die Pflicht, jede Diskriminierung zu unterlassen
  7. die Pflicht, Interessenkonflikte zu vermeiden

3 Schweigepflicht, Pflicht zur Wahrung des Berufsgeheimnisses

Die Schweigepflicht der Psychotherapeut*innen folgt grundsätzlich schon aus dem Patient*innenschutz sowie der auftragsrechtlichen Treuepflicht. Sie ist für die therapeutische Beziehung elementar. Dennoch ist es in der beruflichen Praxis unumgänglich, sie in gewissen Situationen zu durchbrechen. Aufgrund ihrer Bedeutung für den Schutz der Patient*innen und die öffentliche Gesundheit wird die Schweigepflicht als eigenständige Berufspflicht in mehreren Gesetzen (PsyG, StGB, DSG, kantonale Gesundheitsgesetze) eingehend geregelt. Trotzdem kommt es nicht selten vor, dass Psychotherapeut*innen (aber auch Ärzte/Ärztinnen, Geistliche, Anwälte/Anwältinnen etc.) aus Unwissenheit, mangelnder Sorgfalt oder gutgemeintem Paternalismus die Schweigepflicht verletzen, was straf-, zivil- und berufsrechtliche Folgen haben kann.

Kurz zusammengefasst und den Berufsausübenden im Grundsatz bekannt und vertraut, unterstehen der Schweigepflicht bzw. dem Berufsgeheimnis alle Informationen, die Therapeut*innen aufgrund ihres Berufes anvertraut wurden oder die sie in der Berufsausübung wahrgenommen haben. Angesichts der Bedeutung der Schweigepflicht wird der Begriff des Geheimnisses weit ausgelegt und umfasst Anamnesen, Diagnosen, Therapiemassnahmen, Prognosen, Patient*innenakten sowie sämtliche Informationen über persönliche, familiäre, berufliche, wirtschaftliche und finanzielle Umstände. Selbst die Identitäten der Patient*innen und die Tatsache, dass sie sich in psychotherapeutischer Behandlung befinden, unterliegen der Schweigepflicht.

Alle diese Informationen («Patient*innendaten») dürfen grundsätzlich nur mit Einwilligung der Patient*innen weitergegeben werden. Innerhalb einer Praxisgemeinschaft wird die Einwilligung vermutet. Doch für die Weitergabe an andere Psychotherapeut*innen sowie weitere involvierte Fachpersonen (z. B. Ärzte/Ärztinnen, Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen, Anwälte/Anwältinnen etc.) ist eine Einwilligung zwingend einzuholen. Die Tatsache, dass diese Berufsangehörigen (teilweise) ebenfalls an ein Berufsgeheimnis gebunden sind, ändert daran nichts. Wissen und Willen des/der die Einwilligung erteilenden Patienten/Patientin müssen den Empfänger/die Empfängerin, den Sachzusammenhang, Art und Umfang der weiterzuleitenden Informationen sowie den Zweck der Weitergabe umfassen. Unter diesem Gesichtspunkt sind die in der Praxis verbreiteten «Generalentbindungen» problematisch, weil mit ihnen nicht bewiesen werden kann, dass der Patient/die Patientin in einem konkreten Fall mit der Weitergabe hatte rechnen müssen und diese gebilligt hätte. Empfohlen wird daher eine (schriftliche) Schweigepflichtentbindungserklärung, enthaltend die möglichen Adressat*innen und stichwortartig Gegenstand, Umfang und Zweck der Informationsweitergabe.

Falls Patient*innen die Einwilligung zur begründeten Weitergabe geschützter Informationen nicht erteilen wollen, muss die Entbindung von der beruflichen Schweigepflicht bei der zuständigen kantonalen Stelle mittels kantonalem Formular beantragt werden (bspw. ZH: Gesundheitsdirektion; BE: Kantonsarztamt; BS: Gesundheitsdepartement).

Ungeachtet der Schweigepflicht besteht eine sofortige behördliche Anzeigepflicht bei aussergewöhnlichen Todesfällen, «insbesondere solche zufolge Unfall, Delikt oder Fehlbehandlung einschliesslich ihrer Spätfolgen und Selbsttötung» sowie bei «Wahrnehmungen, die auf die vorsätzliche Verbreitung gefährlicher übertragbarer Krankheiten bei Mensch und Tier schliessen lassen».4 Zudem bestehen (eingeschränkte) Auskunftspflichten gegenüber den Sozialversicherern.

In bestimmten Situationen dürfen Mitteilungen an die zuständigen Behörden ohne vorgängige Einwilligung oder Entbindung vorgenommen werden. In diesen Fällen liegt es im Ermessen des Therapeuten/der Therapeutin, ob er/sie eine Meldung erstatten will oder nicht. Folgende Melderechte sind in der psychotherapeutischen Praxis von besonderer Relevanz:

  1. Meldung von Wahrnehmungen, die auf ein Verbrechen oder Vergehen gegen Leib und Leben, die öffentliche Gesundheit oder die sexuelle Integrität schliessen lassen;5 Adressaten sind die Strafverfolgungsbehörden (Polizei, Staatsanwaltschaft)
  2. Meldung von strafbaren Handlungen an Minderjährigen; Adressatin ist die KESB (Art. 364 StGB)
  3. Meldung, wenn eine ernsthafte Gefahr besteht, dass eine hilfsbedürftige Person sich selbst gefährdet oder ein Verbrechen oder Vergehen begeht, mit dem sie jemanden körperlich, seelisch oder materiell schwer schädigt; Adressatin ist die KESB (Art. 453 ZGB)
  4. Meldung von vorliegenden oder drohenden suchtbedingten Störungen, namentlich bei Kinder und Jugendlichen, wenn eine erhebliche Gefährdung der Betroffenen, ihrer Angehörigen oder der Allgemeinheit vorliegt und eine Betreuungsmassnahme als angezeigt erscheint; Adressaten sind die von den Kantonen bezeichneten Behandlungs- und Sozialhilfestellen (Art. 3c Betäubungsmittelgesetz)
  5. Meldung von Personen, die durch die Verwendung von Waffen sich selbst oder Dritte gefährden oder mit der Verwendung von Waffen gegen sich selbst oder Dritte drohen; Adressaten sind die Polizei- und Justizbehörden (Art. 30b Waffengesetz)

4 Dokumentationspflicht, Datensicherheit, Auskunftsrecht

Psychotherapeut*innen haben, wie Ausübende anderer Gesundheitsberufe auch, über ihre Patient*innen jeweils eine Patient*innendokumentation anzulegen und diese laufend nachzuführen (z. B. §13 GesG ZH). Sie muss insbesondere Anamnese, Therapieindikation, Krankheitsbild, Therapieverlauf, weitere Sachverhaltsfeststellungen sowie Ablauf und Gegenstand der Aufklärung des Patienten/der Patientin enthalten.

Deren Aufbewahrungsfrist ist im Datenschutzgesetz nicht einheitlich geregelt. Als Faustregel für die Praxis gilt, dass Patient*innendokumentationen so lange aufzubewahren sind, wie sie für die Gesundheit der Patient*innen von Interesse sind, mindestens aber während zehn Jahren nach Abschluss der letzten Behandlung (z. B. Art. 26 GesG BE). Auch die Standesordnungen von ASP und FSP sehen eine zehnjährige Aufbewahrungsfrist vor. Falls das Gesundheitsgesetz eines Kantons ausdrücklich eine andere Frist angibt, geht diese Regelung der Faustregel und den Standesregeln vor.

Es stellt sich die Frage, ob und wie sich das am 1. Januar 2020 in Kraft getretene neue Verjährungsrecht auf die Aufbewahrungsfrist auswirkt. Gemäss dem revidierten Art. 128a OR werden die Verjährungsfristen für Forderungen auf Schadenersatz oder Genugtuung wegen Körperverletzung (wozu auch die Schädigung der geistigen Gesundheit gehören kann) oder Tötung eines Menschen verlängert. Die Forderungen verjähren neu mit Ablauf von drei Jahren (bisher: ein Jahr) ab Kenntnis vom Schaden, jedenfalls aber mit Ablauf von 20 Jahren (bisher: zehn Jahre) vom Zeitpunkt des schädigenden Verhaltens. Die FMH empfiehlt deshalb Ärzt*innen vorsorglich, Krankengeschichten neu während 20 Jahren aufzubewahren und Versicherungspolicen mit einer 20-jährigen Nachdeckung abzuschliessen.6 Nach Meinung des Verfassers ist eine freiwillige Archivierung jeder Patient*innendokumentation während 20 Jahren nicht notwendig. Hingegen empfiehlt es sich, die Patient*innenakten in Fällen mit schwerem Verlauf7 so lange aufzubewahren, bis die absolute Verjährungsfrist abgelaufen ist. Dies insbesondere dann, wenn ein späterer Gerichtsfall nicht ausgeschlossen werden kann.

Die Patient*innendokumentation besteht aus besonders schützenswerten Personendaten, die unter dem Schutz des Datenschutzgesetzes stehen. Psychotherapeut*innen sind demgemäss verpflichtet, die Daten durch angemessene technische und organisatorische Massnahmen, die dem jeweils aktuellen Stand der Technik entsprechen, zu schützen (Art. 7 DSG). Die Verordnung zum Datenschutzgesetz (VDSG) umschreibt in den Art. 8 und 9 detailliert, was unter «technischen und organisatorischen Massnahmen» zu verstehen ist und welchen Zielen sie gerecht werden müssen. Die Datenschutzpflicht betrifft selbstredend auch die (derzeit besonders aktuellen) psychotherapeutischen Onlineinterventionen, für die höchste Verschlüsselungsstandards eingehalten werden müssen.8

Patient*innen haben ein umfassendes Auskunftsrecht (Art. 8f. DSG). Jede Person kann bei ihrer Psychotherapeutin/ihrem Psychotherapeuten Auskunft über ihre Daten verlangen. Als Grundsatz gilt: «Was aufbewahrt wird, wird auch mitgeteilt.» Die Auskunft ist in der Regel schriftlich in Form eines Ausdrucks (bei informatisierten Gesundheitsdaten) oder einer Fotokopie sowie kostenlos zu erteilen. Die wenigen Ausnahmebestimmungen (z. B. Notizen von Therapeut*innen, die ausschliesslich zum persönlichen Gebrauch bestimmt sind) sollen restriktiv ausgelegt und die Auskunft nur soweit beschränkt werden, als dies wirklich unerlässlich ist.

Sowohl die Dokumentations-, Geheimnis- und Datensicherungspflicht der Therapeut*innen als auch das Auskunftsrecht der Patient*innen bestehen nach Praxisaufgaben weiter, bis die gesetzliche Aufbewahrungsfrist abgelaufen ist. Psychotherapeut*innen haben rechtzeitig Vorkehrungen zu treffen, damit ihre Patient*innendokumentationen gesetzeskonform verwaltet werden und Patient*innen der Zugang möglich bleibt; auch bei plötzlicher Erkrankung oder Tod des Praxisinhabers/der Praxisinhaberin. Psychotherapeut*innen, die für ihre Praxis einen/eine Nachfolger*in gefunden haben, können sich aufgrund einer schriftlichen Vereinbarung mit der Patientin/dem Patienten von der persönlichen Aufbewahrungspflicht befreien, indem sie die Patient*innendokumentation dem/der Nachfolger*in übergeben (so ausdrücklich Art. 26 Abs. 4 GesG BE).

Literatur

Auf die Nennung der verwendeten juristischen Literatur und Gerichtsentscheide wird verzichtet und nur die verwendete psychotherapeutische Literatur angeführt.

Trachsel, M., Gaab, J. & Biller-Andorno, N. (2018). Psychotherapie-Ethik. Göttingen: Hogrefe.

Felix Tobler, lic. jur., ist Rechtsanwalt mit eigener Kanzlei in Zürich. Er hat sich über Jahre mit Rechtsfragen auf dem Gebiet der Psychotherapie beschäftigt und stand der ASP in verschiedener Weise zu Rate.Website: http://tobler-law.ch

Anmerkungen

1 Bei den nachfolgenden Ausführungen handelt es sich nicht um einen rechtswissenschaftlichen Beitrag (mit entsprechendem Anmerkungsapparat). Die Redaktionsleitung des à jour! wünschte sich eine «Handreichung für Praktizierende im Umgang mit ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen aus rechtssachverständiger Perspektive». Absicht und Zweck des Beitrags bestehen darin, die bei den sachkundigen Lesenden selbstverständlich vorhandene und verinnerlichte Kenntnis der Berufspflichten aufzufrischen und zu aktualisieren.

2 Definition gemäss §3 der Verordnung über die psychologischen Psychotherapeut*innen des Kantons Zürich (PPsyV ZH).

3 Art. 17 Abs. 1 der Berufsordnung FSP regelt, dass Mitglieder «von der Schweigepflicht befreit [sind] gegenüber Berufskolleginnen und -kollegen oder anderen Fachpersonen, die gleichzeitig mit denselben […] Patientinnen oder Patienten arbeiten, ausser diese bestimmen etwas anderes.» Diese standesrechtliche Ausnahme von der Schweigepflicht unterschreitet die gesetzliche Regelung, die grundsätzlich immer eine Einwilligung des Patienten/der Patientin verlangt. So gilt im Kanton Zürich die Vermutung der Einwilligung lediglich innerhalb von Praxisgemeinschaften (§15 Abs. 2 GesG ZH). Hier geht die strengere gesetzliche Regelung der Berufsordnung vor.

4 Die Meldepflicht bei aussergewöhnlichen Todesfällen gilt in fast allen Kantonen. Die Pflicht zur Meldung von Wahrnehmungen im Zusammenhang mit übertragbaren Krankheiten besteht in der ganzen Schweiz (Art. 12 Epidemiengesetz).

5 Soweit ersichtlich, sehen alle (Deutschschweizer) Kantone ein entsprechendes Melderecht vor.

7 Z. B. Tötung, Gewaltanwendung, Vergewaltigung, Suizid, Suchttod u.ä. während oder nach der Therapie.

8 Vgl. das Dokument «Qualitätsstandards Onlineinterventionen für Fachpersonen Psychotherapie» der FSP.