https://doi.org/10.30820/2504-5119-2020-1-33
Der Herausgeber und Interviewer, Uwe Britten, ist Lektor und Publizist in den Bereichen Psychotherapie, Psychiatrie und Jugendhilfe. Er führte mit 23 Psychotherapeut*innen Interviews zu herausfordernden Themen, mit denen Psychotherapeuten in ihrer Alltagspraxis konfrontiert sind, und gibt damit ein Bild ab über die Herausforderungen der Psychotherapie.
In seiner Einführung beleuchtet er die hohe Kunst des Verstehens und Intervenierens. Er verweist dabei auf die allgemeinen Wirkfaktoren und die Bedeutung der Beziehungsqualität. Zugleich sagt er, dass noch viele Fragen ungeklärt sind, weshalb die allgemeinen Wirksamkeitsfaktoren wirken. Er lässt deswegen einleitend Gerhard Roth zu Wort kommen, der sich wie kein anderer Hirnforscher in die Psychotherapie hineingedacht hat.
Roth ist der Auffassung, dass Neurobiologie eine Hilfswissenschaft für die Psychotherapie ist. Er plädiert dafür, dass die verschiedenen Therapieschulen ihre Wirksamkeitsmodelle dingend überarbeiten, und spricht einer auf klinische Evidenz basierten «allgemeinen Psychotherapie» das Wort.
Die weiteren Interviews gliedert der Herausgeber in drei Themenbereiche: «Herausforderungen in der Beziehungsgestaltung», «Herausforderungen bei spezifischen Beeinträchtigungen» und «Logiken des Gesundheitswesens».
Zur Beziehungsgestaltung werden Themen behandelt wie das Verhalten bindungsunsicherer Jugendlicher (Karl Heinz Brisch), Trennungen (Diana Pflichthofer), Persönlichkeitsstörungen (Rainer Sachse), Machtmenschen (Fritz B. Simon), Geschlechtersensibilität (Rosemarie Piontek), Männer in der Psychotherapie (Björn Süfke), Einbeziehung von Angehörigen (Thomas Lampert), Triangulierung (Jürgen Grieser) und Übergriffe in der Psychotherapie (Wolfgang Schmidbauer).
Zu den Herausforderungen bei spezifischen Beeinträchtigungen werden folgende Themen berührt: Ressourcenorientierung (Ulrike Willutzki), Sexualität thematisieren (Ann-Marlene Henning), Sexualität in der Paartherapie (Ulrich Clement), Schamgefühle (Jens Tiedemann), Alkoholabhängigkeit (Martin Reker), Cannabiskonsum bei jungen Klient*innen (Michael Büge), Hypochondrie (Bernd Nissen), Trauerprozesse (Thomas Auchter), Psychosentherapie (Thomas Bock), Suizidalität und Krisenintervention (Manuel Rupp).
Unter den Logiken des Gesundheitswesens werden drei Themen behandelt: Diagnostik – und deren Fragwürdigkeit (Tom Levold), Konfligierende Logiken (Hans Lieb) und zu guter Letzt: Psychoanalyse (Hans-Jürgen Wirth).
Da es sich um echte Interviews handelt, sind die Texte sehr leicht lesbar. Dem Interviewer gelingt es, in kurzer Form allen Spezialist*innen Wesentliches zu ihrem Thema zu entlocken. Manchmal möchte man beim Lesen widersprechen oder zustimmen oder in eine Diskussion eintreten. Das zeigt, wie das Büchlein zur Selbstreflexion anregen kann, wie man denn selbst zu welchem Thema steht und damit umgeht.
An der Auswahl der Interviewpartner*innen fällt auf, dass sich unter ihnen acht Psychoanalytiker*innen befinden, fünf Systemische Therapeut*innen, vier kommen aus der Verhaltenstherapie, bloss einer aus der Gesprächstherapie; sechs sind keiner Schule zuordenbar (etwa Suchttherapie). 21 stammen aus Deutschland, zwei aus der Schweiz. Das ist aus Schweizer (und österreichischer) Sicht zu bedauern, denn auch Psychotherapeut*innen aus humanistischen, integrativen und körpertherapeutischen Richtungen hätten zu den Herausforderungen der Psychotherapie etwas beizutragen. Es zeigt sich hier wohl die bereits verinnerlichte Verengung der Schulenvielfalt in Deutschland aufgrund der Richtlinienverfahren. Man würde sich eine erweiterte Zweitauflage unter Berücksichtigung des ganzen deutschen Sprachraums und einer erweiterten Schulenvielfalt wünschen. Das wäre auch ein Gewinn für deutsche Leser*innen.
Trotz allem: Dieses Büchlein ist lesenswert, kompakt und anregend, ich empfehle es Praktiker*innen zur Lektüre.
Peter Schulthess