https://doi.org/10.30820/2504-5119-2020-1-36
Bei Paare von Verena Kast handelt es sich um eine Neuauflage des gleichnamigen Taschenbuchs, das 2015 erschienen ist. Neu an der aktuellen Ausgabe ist das letzte Kapitel, in dem sich die Autorin mit dem Anima- und Animusbegriff auseinandersetzt.
Das sehr anschauliche, gut lesbare Werk zeigt verschiedene Beziehungsfantasien, die Paarkonstellationen zugrunde liegen und hilfreich sind zum besseren Verständnis von Beziehungskonflikten bzw. deren Umwandlung und Auflösung. Zunächst erklärt sie, warum sie zur Auseinandersetzung mit Beziehungsfantasien Beispiele aus der Mythologie verwendet. In den nachfolgenden sechs Kapiteln führt sie verschiedene Götterpaare bzw. literarische Beispiele an, beschreibt deren Beziehungsgestaltung und stellt jeweils dar, wie sich diese als Beziehungsfantasien bei Paaren bzw. Einzelpatient*innen, die zur Einzel- bzw. Paartherapie bei ihr in Behandlung sind, zeigen und welche Auswirkungen sie ggf. auf deren Umgang miteinander haben. Wie erwähnt, setzt sich Kast im letzten Kapitel mit C. G. Jungs Animus- und Anima-Konzept sowie mit dessen Wandel, den es seit Jung erfahren hat, auseinander und sie erläutert, wie dieses Konzept auch Teil der Beziehungsgestaltung von Paaren sein kann.
Jedes Kapitel wird mit einem literarischen Zitat eingeleitet und ist dann sehr klar in Unterkapitel gegliedert, die alle sowohl Theorie als auch Praxis enthalten.
In ihrem ersten Kapitel startet die Autorin mit dem Traum eines Patienten. Sie erläutert, was dieser Traum über den Träumer und seine Beziehungssehnsüchte aussagt, und nimmt dann Bezug auf die Mythologie und deren Aussagekraft in diesem Zusammenhang.
Sie beginnt im zweiten Kapitel mit dem ersten Beziehungsideal des «Einander-ganz-Gehören», dem der indische Mythos von Shiva und Shakti zugrunde liegt. Hier bringt sie wiederum zuerst ein Patientenbeispiel und stellt dann ausführlich den Mythos vor. Im Praxisbeispiel wie im Mythos geht es um die Sehnsucht nach einer unzertrennlichen Liebe, die in ihrer Extremform zum Scheitern verurteilt ist. Es folgt darauf noch ein anderes Patientenbeispiel zu Untermalung.
Im dritten Kapitel folgt kein weiteres Götterpaar, sondern es wird der Mythos von Pygmalion bzw. seine musikalische Umsetzung im Musical My Fair Lady vorgestellt. Der Veranschaulichung dient wieder der Patient aus dem letzten Kapitel. Diese drei Beispiele werden noch mit anderen teils literarischen, teils realen Beispielen ergänzt und zeigen jeweils Männer, die sich eine Idealfrau selbst schaffen – wobei dies nur beim Bildhauer Pygmalion wörtlich gemeint ist –, und welche Folgen für deren Beziehungen zu beobachten sind. Dabei problematisiert die Autorin das Frauenbild, das in einem solchen Beziehungsideal transportiert wird.
Im vierten Kapitel schildert sie wieder ein Götterpaar: Ishtar und Tammuz, ein Mythos aus der babylonisch-assyrischen Frühgeschichte, der das Bild der grosszügigen erfahrenen Frau mit einem jugendlichen Liebhaber als Beziehungsfantasie verkörpert. Mit Hugo von Hofmannsthals Der Rosenkavalier bringt sie ein weiteres literarisches Exemplum und beschliesst das Kapitel mit dem Beispiel einer lesbischen Beziehung. Damit zeigt sie, dass solche Beziehungsideale geschlechtsunspezifisch bestehen können.
Im fünften Kapitel bespricht die Autorin am Beispiel der griechischen Mythologie von Zeus und Hera sogenannte «Streitpaare». In Unterkapitel gegliedert, stellt sie Ausschnitte aus wörtlichen Dialogen einerseits eines Paares, das zu ihr in die Paartherapie kommt, und andererseits des genannten Götterpaares nebeneinander. Dadurch entsteht das Bild einer sehr verfahrenen Paarsituation, in der Konflikte und Machtspiele zum Beziehungsideal erhoben werden. Die Darstellung des Praxisbeispiels fortführend zeigt sie, wie es ihr zusammen mit dem Paar gelungen ist, eine andere Form von Beziehungsideal zu erarbeiten, worauf sie im sechsten Kapitel zurückkommt.
Darin führt sie das Beispiel des alten Weisen und des jungen Mädchens an, verkörpert von Merlin und Viviane aus der mittelalterlichen Epik. Wie sie anhand des Paars aus dem Kapitel zuvor veranschaulicht, ist das nicht ganz unproblematisch. Auch dieses sechste Kapitel wird noch mit zwei weiteren literarischen Exempeln angereichert, was die Lektüre sehr abwechslungsreich macht.
Das vorletzte Kapitel enthält (wie das dritte) kein Götterpaar, sondern ein Beispiel aus dem «Hohelied der Liebe» der Bibel. Darin geht es um das Bild von einer geschwisterlichen Liebe, die für Solidarität und Gleichgewichtigkeit steht, wobei hier nicht eine inzestuöse Beziehung gemeint ist, sondern die Vertrautheit und Unbedingtheit des Umgangs miteinander. In der Bibel wird von Schwester bzw. Bruder gesprochen, jedoch mehr im Sinne des Glaubensbruders bzw. der Glaubensschwester. Die Entwicklung dieser Beziehungsfantasie ist schliesslich die Lösung für jenes Paar, dessen Entwicklung wir über die drei Kapitel mitverfolgen können. Sie schliesst dieses Kapitel mit einem weiteren Patientinnenbeispiel ab und beleuchtet darin den spirituell-religiösen Aspekt dieser Beziehungsfantasie, die sich in der sogenannten heiligen Hochzeit mit Gott zeigen und auch sehr erfüllend sein kann.
Im letzten Kapitel folgt die deutlich komplexere Auseinandersetzung mit den archetypischen Wirkkräften Anima und Animus. Die Autorin skizziert den Wandel der Begriffe sowie die Missverständnisse, die es in deren Rezeption gibt, und wendet sie auf das Paargeschehen an, bei dem es wie in der intrapsychischen Entwicklung um eine Balance beider Prinzipien geht. Inzwischen wird das Konzept auch auf gleichgeschlechtliche Paare angewendet. Die Autorin erwähnt weiterhin eine Untersuchung von 600 Träumen und Fantasien mit Kontrollgruppe, aus der sie eine Klassifizierung der archetypischen Qualität von Anima und Animus ableitet. Es kann sich um Autoritäts-, Bruder- und Schwesterfiguren, geheimnisvolle Fremde, weise alte Männer oder Frauen sowie unbekannte Kinder als Archetypen des göttlichen Kindes handeln, wobei in Beziehungen vor allem die Figur der/s geheimnisvollen Fremden die grösste Rolle spielt.
Auch wenn das letzte und neu hinzugefügte Kapitel für mich, die ich keine Ausbildung als jungsche Analytikerin genossen habe, teils etwas komplex und an den Stellen, an denen ich als Nichtkennerin etwas mehr Erläuterungen bräuchte, sehr auf die Essenz reduziert ist, so liest sich die darin vorgestellte Forschungsarbeit, die einen Einblick in das Denken der Jungianer*innen gewährt, trotzdem sehr spannend. Zumal Erläuterungen im Kontext dieses Buches wohl zu weit geführt hätten.
Als Paartherapeutin finde ich das Buch empfehlenswert, weil es mit seiner anschaulichen bildreichen Sprache und den vielen praktischen Beispielen sehr gut verständlich sowie gut in die eigene Praxis übertragbar ist. Vor allem das Beispiel des Paares, das sich über drei Kapitel erstreckt, entspricht sehr dem, was mir in der Praxis begegnet, und zeigt sympathisch auch die Klippen, die man als Paartherapeutin gemeinsam mit dem Paar überwinden muss, was sich häufig recht schwierig gestalten kann. Die Lektüre von Kasts Publikation bietet eine schöne Gelegenheit, einer erfahrenen Psychotherapeutin in ihrer Praxis über die Schulter schauen zu dürfen.
Veronica Defièbre