COVID-19: Ein Nachtrag zu den «Alten»

Marianne Roth

https://doi.org/10.30820/2504-5119-2020-2-21

«… dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen …»

Präambel der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft

Ende Mai dieses Jahres riefen Prominente aus Politik, Gesellschaft, Kirche und Wissenschaft in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu einer moralischen Revolte auf. In einem internationalen Appell warnten sie davor, das Leben alter Menschen in der Corona-Krise abzuwerten. Zu den zahlreichen Erstunterzeichnern gehörten Persönlichkeiten wie der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas, Ex-Präsident der EU-Kommission Romano Prodi oder der Erzbischof von Bologna, Kardinal Matteo Zuppi. Ihren Aufruf begründeten sie mit einer gefährlichen Entwicklung in vielen Ländern, die sich für ein selektives Gesundheitswesen stark mache, in dem das Leben alter Menschen als zweitrangig betrachtet werde. Im Appell heisst es unter anderem: «Der Wert des Lebens muss gleich für alle bleiben. Wer das zerbrechliche und schwache Leben der Älteren abwertet, bereitet einer Entwertung jeden Lebens den Weg.» Die Unterzeichnenden warnen zudem vor der Spaltung der Gesellschaft in Altersgruppen. «Die demokratische und humanitäre Ethik sind darauf gegründet, keinen Unterschied zwischen Menschen zu machen, auch nicht aufgrund des Alters.»

In der Tat liessen diverse Aussagen aufhorchen. Der Schweizer Wirtschaftsprofessor Reiner Eichenberger forderte in seinem Gastkommentar in der Neuen Zürcher Zeitung vom 24. März von gesunden Menschen, sich vorsätzlich mit dem Coronavirus anstecken zu lassen. Eine «klug gelenkte Immunisierung», wie er sie nennt, sei mit kleineren Risiken verbunden als die Verzögerungsstrategie, wie sie vom Bundesrat angewendet wurde. Immune würden zu einer entscheidenden Ressource, die die rasche Rückkehr in den Arbeitsmarkt ermögliche und der Gesellschaft ja nur nütze, so Eichenberger. Auf diese Weise würde eine Ausbreitung gesenkt und die Alten könnten mit immunen Pflegenden geschützt werden. Die gelenkte Immunisierung müsse ärztlich begleitet werden. Nach welchen Kriterien Personen ausgewählt würden, die sich gezielt anstecken lassen, erwähnt er allerdings nicht. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer verstieg sich in einer Radiosendung zur Bemerkung: «Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen. Wenn Sie die Todeszahlen durch Corona anschauen, dann ist es bei vielen so, dass viele Menschen über 80 sterben – und wir wissen, über 80 sterben die meisten irgendwann.» Schlagzeilen machte auch der Tourismusunternehmer Samih Sawiris, der in der SonntagsZeitung monierte: «In der Schweiz gehen Milliarden von Franken verloren, damit es einige Hundert Tote weniger gibt.» Geradezu zynisch muten Berechnungen an, die Menschenleben in Franken umrechnen, wie verschiedene Ökonomen, darunter Lukas Rühli von Avenir Suisse und der Gesundheitsökonom Stefan Felder (Tages-Anzeiger vom 18. Mai 2020) dies taten.

Desolate Zustände in Alters- und Pflegeheimen

Die Absicht einer «Durchseuchung» der Bevölkerung wurde zuerst auch in Schweden vermutet, bis sich die Regierung und ihr Chef-Epidemiologe Anders Tegnell dazu durchgerungen hatten, dies in Abrede zu stellen. Schweden hatte einen lockeren Kurs im Umgang mit dem Virus gewählt. Weit mehr als die Hälfte der rekordhohen Zahl der COVID-19-Todesfälle wurden aus Alters- und Pflegeheimen gemeldet. Dazu kommt wohl eine hohe Dunkelziffer. Die Strategie des schwedischen Kurses sei «katastrophal gescheitert», schrieb etwa die Zeitung Aftonbladet. Dazu meinte Anders Tegnell lapidar, die Zahl der Todesfälle habe sich nicht gut entwickelt. Die Heime hätten sich nicht gegen das Virus wehren können. Zudem gab er sich überrascht über den schlechten Zustand in den schwedischen Alters- und Pflegeheimen. Aber auch in der Schweiz ereigneten sich wahrscheinlich über die Hälfte der COVID-19-Todesfälle in Alters- und Pflegeheimen. Der Grund liegt unter anderem an der Aufnahmepraxis, da diverse Pflegezentren zu Aufnahmestationen von an COVID-19-Erkrankten erklärt und damit externe Patient*innen in die Heime gebracht wurden. Damit wurde die Ansteckungsgefahr erheblich erhöht. In der Folge starben auffällig viele Langzeitbewohner*innen in diesen Heimen. Eine krasse Fehlleistung war mindestens zu Beginn der Pandemie, dass das Personal und die Heimbewohner*innen nicht getestet wurden und sich das Virus ungehindert verbreiten konnte. Eine präzise Erfassung der Zahlen in den Spitälern gibt es nicht, weil der Transfer von Corona-Patient*innen in die Spitäler nur von wenigen Kantonen erfasst wurde.

Ein geradezu unmenschlicher Aspekt des Lockdowns in den Alters- und Pflegeheimen war die totale Isolation der Heimbewohner*innen von der Aussenwelt. So wies zum Beispiel der Kanton Zürich die Institute an, Bewohner*innen, die sich nicht an die drakonische Hausordnung hielten, mit einer Vertragsauflösung zu drohen – ohne Rücksicht auf die Situation der Angehörigen. Erschütternd waren die Berichte über Heimbewohner*innen, die, ohne ihre Angehörigen noch einmal sehen zu dürfen, einsam verstarben und begraben wurden. Fehlendes Personal, die Unterversorgung des Personals mit dringend benötigtem Schutzmaterial und dazu ihre berechtigte Überforderung kamen plötzlich ans Licht und lüfteten den Vorhang in eine nahezu unbekannte und grausame Welt.

Fragwürdige Rahmenbedingungen

In der Schweiz können wir von Glück reden, dass aufgrund der COVID-19-Pandemie keine Überbelastung des Gesundheitswesens entstanden ist, wo Triage-Massnahmen nötig geworden wären. Liest man die ethischen Richtlinien der Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zu Intensivmedizinischen Massnahmen, die im Fall von Ressourcenknappheit zur Anwendung gekommen wären, steht dort zwar, dass das Alter bei der Behandlung kein Kriterium sein dürfe, denn zur Verfügung stehende Ressourcen müssten ohne Diskriminierung verteilt werden. Aber: «Besonders ressourcenintensive Interventionen sollten nur in Fällen eingesetzt werden, in denen ihr Nutzen eindeutig nachgewiesen ist.» Bei der Aufnahme auf die Intensivstation hätten diejenigen Patient*innen die höchste Priorität, die am meisten von der Intensivbehandlung profitieren würden. Auch hier wird abermals betont, das Alter per se sei kein Kriterium. Dann wird aber in den Richtlinien präzisiert: «Das Alter wird jedoch indirekt im Rahmen des Hauptkriteriums ‹kurzfristige Prognose› berücksichtigt, denn ältere Menschen leiden häufiger unter Co-Morbiditäten. Im Zusammenhang mit COVID-19 ist das Alter ein Risikofaktor für die Sterblichkeit und muss daher berücksichtigt werden.» Immerhin wird wenigstens bei den Triage-Massnahmen das Losverfahren explizit ausgeschlossen.

Altsein ist keine Krankheit

Immer mehr ältere Menschen begannen, sich gegen die kategorische Zuordnung «65+ gleich Risikogruppe» zur Wehr zu setzen. Dass man zu Beginn der Pandemie und nach der Erkenntnis, dass vorwiegend alte Menschen mit einer Vorerkrankung dem Coronavirus zum Opfer fielen, eine Entscheidung treffen musste, mag einleuchten. Es wäre jedoch mit der Zeit nötig gewesen, zu differenzieren, den Einzelfall zu betrachten und Ältere nicht länger in einen Topf zu werfen. Immerhin wurde mit der Zeit auch älteren Personen empfohlen, sich mit den nötigen Schutzmassnahmen aus dem Haus zu begeben.

Schlimmer stand es um alte Personen in den Alters- und Pflegeheimen. Eine Freundin der Schreibenden schildert das Schicksal ihrer über 90-jährigen Mutter, der es verhältnismässig gut geht, weil sie in einer fortschreitenden Demenz lebt und wenig mitbekommt, was um sie herum geschieht. Der ebenfalls über 90-jährigen Freundin der Mutter, die in derselben Institution untergebracht ist, gehe es hingegen sehr schlecht. Der gesunden, an tägliche Spaziergänge gewohnten, lebensbejahenden Frau gehe es miserabel. Sie weine nur noch, sei isoliert und dürfe nicht einmal Mitbewohner*innen in ihrem eigenen Zimmer empfangen. Die Angehörigen konnte sie nur von ihrem Balkon aus sehen, wobei es kaum möglich gewesen sei, sich zu unterhalten. Diese Leute bauten physisch und psychisch so rasch ab, dass nicht abzusehen war, ob und wie sie diese Isolation überstehen würden.

Zweifelhafter Applaus für die Pflegenden

Rund um den Globus wurde Pflegepersonal und Mitarbeitenden in Spitälern und Pflegeheimen aus Fenstern und von Balkonen tagelang grosszügiger Applaus gespendet. Das war zwar löblich, man kann davon jedoch nichts kaufen. Im Gegensatz zur Wirtschaft, die unbürokratisch und in Rekordzeit mit Milliardenbeträgen versorgt wurde, war man auf politischer Ebene nicht bereit, zusätzliche Mittel in die Pflege alter Menschen zu investieren – geschweige denn in die Pflegenden. Santésuisse, der Dachverband der Krankenkassen, schrieb zur im Sommer bevorstehenden Debatte im National- und Ständerat zur Besserstellung des Pflegeberufes in einer Medienmitteilung vom 26. Mai 2020: «Die Pflege ist für ein funktionierendes Gesundheitswesen zentral, das hat auch die Corona-Krise gezeigt. Für eine langfristig gesicherte und qualitativ hochstehende Pflege steht deshalb die Finanzierung im Vordergrund. Eine Besserstellung der Pflegefachleute ist vor diesem Hintergrund unnötig, teuer und gefährlich.» Wohl mit der gleichen Gesinnung hat das Parlament während der Sommersession eine finanzielle Besserstellung der Pflegeberufe abgelehnt, indem zwar die Ausbildung verbessert werden soll, nicht aber eine Lohnerhöhung in Betracht gezogen wurde. Das Pflegepersonal muss sich also weiterhin mit Applaus zufriedengeben.

Wie nachhaltig ist Solidarität?

Zu Beginn der Pandemie wurde geradezu rührselig von der grossen Solidarität gesprochen, die in unserem Land spürbar geworden sei. Ein Wir-Gefühl entstand, eine Art Ehrfurcht vor dem unbekannten Feind, die uns zusammenzuschweissen schien. Arbeitssuchende schilderten, sie fühlten sich plötzlich nicht mehr von der Gesellschaft ausgeschlossen, da wir jetzt alle im selben Boot sitzen würden. Tatsächlich gab es zahlreiche rührende Geschichten von alten Leuten, die das «Bleiben Sie zu Hause» ernst nahmen und denen von ihren Enkeln die Einkäufe vor die Tür gelegt wurden. In unserer Nachbarschaft hängten Jugendliche Zettel an die Haustüren, auf denen sie Älteren ihre Hilfe in allen Lebenslagen anboten. Skype, Zoom, Facetime und weitere Online-Kommunikationsmittel kamen zum Einsatz wie noch nie. Die Digitalisierung hielt Einzug in die Haushalte, wo auch ältere Semester in das digitale Zeitalter katapultiert wurden, damit sie mit ihren Enkeln chatten konnten. Es schien, als würde die Gesellschaft angesichts des unbekannten Virus über die Generationen hinaus zusammenrücken.

Als sich dann abzuzeichnen begann, dass wir uns möglicherweise alle für mehrere Wochen in Selbstisolation begeben müssten, gingen in sämtlichen Läden Produkte des Grundbedarfs aus. «Me first» ersetzte praktisch von einem Tag auf den anderen den Solidaritätsgedanken. Unvergessen – wie irrational auch immer – die Hamsterkäufe beispielsweise von Toilettenpapier, Teigwaren, Hefe und Mehl, die wohl heute noch zu Hauf in Kellern und Vorratskammern lagern.

Mit den ersten Lockerungen Ende April, die vielen Betrieben auch im Unterhaltungsbereich erlaubten, ihre Türen wieder zu öffnen, war zwar ein grosser Teil der Bevölkerung noch vorsichtig. Rasch machte sich jedoch Unmut breit über die vorerst noch restriktiven Öffnungen von Clubs, Bars und Restaurants. Die Jungen müssten doch ausgehen können, so die verbreitete Meinung. Es seien ja sowieso die Alten, die am meisten betroffen seien, und diese müssten halt zu Hause bleiben. Und plötzlich war es, als stünden wir wieder am Ausgangspunkt der COVID-19-Pandemie.

Marianne Roth ist Geschäftsleiterin der ASP.